Im Deutschen Historischen Museum in Berlin hängt ein Plakat zum 10. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1981. Darauf abgebildet: eine dralle Traktoristin in Latzhose – der jungen Angela Merkel wie aus dem Gesicht geschnitten – und die Aufschrift «Das schaffen wir!». Oben in der Ecke steht das Motto des Parteitags: «Alles zum Wohle des Volkes». Die DDR-Bürgerin Angela Merkel war damals 27 Jahre alt und arbeitete als Physikerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Acht Jahre später war das sozialistische System gescheitert. Die emphatische These «Das schaffen wir!» entpuppte sich wie so viele Durchhalteparolen im Lauf der Weltgeschichte als Prolog zum Untergang. – Ist es ein Zufall, dass Bundeskanzlerin Merkel angesichts der grössten Herausforderung ihrer Amtszeit und der grössten Gefährdung der deutschen Zukunft seit dem Bau der Berliner Mauer zum Slang der Agitprop der untergegangenen DDR Zuflucht nimmt? Bewusst war ihr das sicher nicht, sonst hätte sie die peinliche Parallele vermieden. Aber wir alle agieren aus dem Unbewussten heraus, wenn wir in Stress geraten.
Als das Plakat entstand, war der wirtschaftliche Untergang der DDR bereits angelegt, er war nur noch nicht für alle sichtbar: Der technologische Abstand zum Westen wuchs, die Verrottung der Infrastruktur schritt unaufhaltsam voran, der Lebensstandard der Bevölkerung wurde mit wachsender Verschuldung vom kapitalistischen Klassenfeind gestützt, die Risse im System wurden durch eifernde Verfolgung aller Andersdenkenden und strikte Pressezensur zugedeckt. Natürlich haben wir im heutigen Deutschland eine freie Presse, doch beobachten wir in Bezug auf die Flüchtlings- und Einwanderungsfrage viele Versuche aus Politik und Medien, kritische Stimmen als illegitim beziehungsweise unmoralisch auszugrenzen. Das nimmt unterschiedliche Formen an.
Die Berliner Morgenpost lese ich wegen ihres Lokalteils, in der überregionalen Berichterstattung ist sie ein Käseblatt. Seit Monaten huldigt sie einer unkritischen Willkommenskultur. Aber sie veröffentlicht seit Anfang September keine Leserbriefe mehr zu Flüchtlingen und Einwanderung. Anscheinend passen diese nicht mehr zur Linie der Redaktion.
Die Fernsehnachrichten schwelgen in bunten Bildern endloser Flüchtlingsströme. Sie zeigen Not und Erschöpfung und gern junge Mütter und rührende Kindergesichter. Sie sparen gerne aus, dass es sich bei den Flüchtlingen zu 80 Prozent um ordentlich gekleidete junge Männer handelt, die alle ein Smartphone besitzen und mehrere sichere Herkunftsstaaten passiert haben, ehe sie Deutschland erreichen.
Wer sich kritisch äussert, kommt in den Medien noch gut weg, wenn er nur zum tumben Fremdenfeind erklärt wird. Maybrit Illner lud zwar am 22. Oktober die AfD-Vorsitzende Frauke Petry zu ihrer Talk-Runde ein, aber sie liess sie kaum je ausreden und duldete auch, dass sie von anderen Gästen immer wieder unterbrochen wurde. Ganz unglücklich schaute Illner drein, als Lutz Trümper, Oberbürgermeister Magdeburgs, feststellte: «Jeder, der seine Meinung sagt, wird von den Linken in die rechte Ecke gestellt», und hinzufügte, dass mittlerweile viele Magdeburger aus Angst um ihren Arbeitsplatz ihre Meinung zu Flüchtlings- und Einwanderungsfragen nicht offen sagten.
Dazu passt die jüngste Meinungsumfrage von Allensbach: 43 Prozent der Deutschen haben den Eindruck, dass man in Deutschland seine Meinung zur Flüchtlingssituation nicht frei äussern darf, 47 Prozent empfinden die Berichterstattung als einseitig, nur knapp ein Drittel als ausgewogen. 46 Prozent der Deutschen gehen davon aus, dass der Zustrom von Flüchtlingen auch langfristig überwiegend Risiken mit sich bringt, während nur 18 Prozent Chancen sehen. 62 Prozent fürchten die Einschleusung von Terroristen, nur 14 Prozent glauben, dass viele Flüchtlinge eine gute Ausbildung mitbringen.
Merkel hat die Gefahr erkannt. Sie geht in die Offensive, versucht, ihre Politik zu erklären, und legt damit doch nur offen, dass sie anscheinend völlig ratlos ist. In einem Interview mit der FAZ fordert sie, «dass wir erstens die europäischen Aussengrenzen wirksam schützen, zweitens innerhalb der EU eine faire Verteilung der Flüchtlinge erreichen und drittens die Fluchtursachen angehen müssen». Grenzsicherungen indes lehnt sie ab: «Es liegt nicht in unserer Macht, zu entscheiden, wie viele Menschen zu uns kommen . . . Ich bin überzeugt, dass man ein Land wie Deutschland nicht abriegeln kann, auch ein Zaun würde verzweifelte Menschen nicht aufhalten.» Wenn man die deutschen Aussengrenzen nicht schützen kann, wie kann man dann europäische Aussengrenzen schützen?
Die «faire Verteilung der Flüchtlinge in der EU» ist irreal. Kein Partnerland – nicht einmal mehr Schweden – ist bereit, Deutschland einen nennenswerten Teil der Lasten abzunehmen, die es sich durch seine Politik der offenen Grenzen selbst eingehandelt hat. Das «Angehen der Fluchtursachen» als dritter von Merkel genannter Ansatz verweist vollends ins Utopische: Die zentralen Ursachen für die Fluchtbewegungen aus Afrika und Vorderasien liegen in der Kombination von Entwicklungsrückstand, Bevölkerungsexplosion und schlechter Regierungspraxis. Westliche Entwicklungspolitik scheitert seit siebzig Jahren daran, diese Verhältnisse von aussen zu ändern. Auch muss der Bürgerkrieg, der wirksam von aussen geschlichtet werden kann, erst noch erfunden werden. Dass Angela Merkel dies alles genau weiss, gibt sie im selben Interview zu erkennen: «Der Westen hat leider viel weniger Erfolg gehabt, als wir erhofft hatten.» Sie appelliert an eine vage Hoffnung, wenn sie fordert, dass «Europa sich in Syrien viel stärker konfliktlösend und womöglich auch konfliktverhütend einbringen muss.»
Angela Merkel, so muss man sie wohl in der Summe verstehen, möchte die Grenzen so lange offen lassen – jedenfalls keine Zäune bauen –, bis es dem Westen gelungen ist, die Verhältnisse im Rest der Welt so zu verbessern, dass es keine Anreize zur Flucht nach Deutschland mehr gibt. Das mag okay sein als Meinung eines linken Schriftstellers oder grünen Hinterbänklers. So aber stellt sich die Frage: Wer schützt eigentlich ein Land, wenn seine Herrscher die Urteilskraft verlässt? Die DDR wurde von der westdeutschen Bundesrepublik aufgefangen. Wer fängt dereinst die Bundesrepublik auf?
Thilo Sarrazin ist ehemaliger deutscher Bundesbanker und Bestsellerautor. Er schreibt einmal pro Monat exklusiv für die Weltwoche über die deutsche Politik.