Nachdem ihre Anfangsoperationen scheiterten, mit einem schnellen Zugriff gegen Kiew einen Regimewechsel herbeizuführen, änderten die Russen ihre Strategie und verlagerten den Schwerpunkt ihrer Operationen vom Norden in den Osten der Ukraine.

Aus ihrer Sicht erfolgreich: Sie erzielten erhebliche Geländegewinne im Donbass, im Zuge des Asowschen Meeres und der Schwarzmeer-Küste. 20 Prozent der Ukraine ist mehr oder weniger russisch besetzt.

Die Strategie Putins ist für mich klar: Er will den Donbass militärisch kontrollieren, die Landverbindung zur Krim und mittlerweile auch die Schwarzmeer-Küste. Offen ist, ob er bis nach Odessa vorstossen will, um den gesamten ukrainischen Aussenhandel zu kontrollieren und die Ukraine in ein Binnenland zu verwandeln.

Die Russen gehen im Osten auf breiter Front vor: Infanterie-angepasst, vorweg mit einer Feuerwalze, alles sehr systematisch. Eine Seeblockade wurde erstellt, was auch die Weizenexporte betrifft, sie kommen nicht mehr durch.

Die Russen haben klar die militärische Dominanz, auch, weil sie die komplette Luftherrschaft haben. So bedrohen sie die ukrainischen Nachschublinien, während ihre eigene logistische Basis direkt hinter ihnen liegt. Das ist ein grosser Vorteil.

Die Ukrainer hingegen müssen westliche Waffen, Gerät und Teile ihrer Versorgung über tausend Kilometer weit von Westen nach Osten herantransportieren. Die Seewege dazu sind faktisch blockiert, auch der Luftraum. Das wird eine gewaltige Herausforderung für den Fortlauf des Krieges.

Die ukrainische Armee kämpft sehr tapfer, mit großer Kampfmoral. Im Osten wie im ersten Weltkrieg: Aus Stellungen heraus, mit aus dem Westen gelieferten Panzer – und Flugabwehrwaffen und Drohnen. Ohne diese Waffen hätten sie diesen Kampf nicht so lange durchhalten können.

Ein Fragezeichen bleibt, wie insbesondere schwere Waffen künftig zu den Kämpfern kommen: Die Nachschubwege zu Lande liegen im Feuerbereich der Russen.

Will heissen: Der Westen wird darüber nachdenken müssen, wie die militärische Logistik nachhaltig sichergestellt werden kann. Dafür braucht man die Luftherrschaft oder wenigstens einen geschützten Seeweg.

Militärisch-operativ bräuchte man dazu ein Aufbrechen der russischen Seeblockade und eine Flugverbotszone. Beides wäre allerdings mit einem Kriegseintritt verbunden, den weder die USA noch die Nato derzeit wollen.

Die Ukraine ist aktuell nicht in der Lage, zu einer grossen Gegenoffensive anzusetzen. Die angekündigte Sommeroffensive ist illusorisch, weit weg von der militärischen Realität. Dazu bräuchten die Ukrainer neben einer nahen logistischen Basis die Luftherrschaft und mechanisierte Angriffsverbände mit klarer, mindestens dreifacher militärischer Überlegenheit.

Die Stärke der Ukraine ist es, den Kampf in die Länge zu ziehen, mit kontinuierlichem Nachschub aus dem Westen, die Russen in einen verlustreichen und zermürbenden Abnützungskrieg zu zwingen, der die Kosten für den Aggressor in die Höhe treibt bis sie irgendwann zu hoch werden.

Sie müssen versuchen, die Russen in urbane Strassen- und Häuserkämpfe zu verwickeln. Das führt zwar zu sehr blutigen Kollateralschaden in der Zivilbevölkerung, ist aber strategisch notwendig, um langfristig militärisch erfolgreich sein zu können.

In einem Guerillakrieg mit ihren Hit and Run-Einsätzen gegen die rückwärtigen Verbindungslinien der Russen könnten die Ukrainer erfolgreich sein auf Monate, wenn nicht auf Jahre hin.

Dass die Ukraine nicht verliert, muss das Ziel des Westens sein. Das ist realistisch.

Die Frage, die man sich dann stellen muss, lautet: Zu welchem Preis kämpft man weiter? Schliesslich führt ein endloser Krieg zur weitgehenden Verwüstung der Ukraine, zu einem permanenten Kriegszustand im Lande und zu ungeheurem Leid der Zivilbevölkerung.

Und eine solche Strategie der Kriegsverlängerung wäre gefährlich: Anders als Afghanistan, Syrien, der Irak oder Libyen ist Russland eine Atommacht mit den meisten Nuklearsprengköpfen weltweit. Es bliebe ein permanentes Eskalationspotential – bis hin zu einem Nuklearkrieg in Europa. Aus europäischer Sicht sollte man alles daransetzen, das zu verhindern.

Deshalb denke ich, es sollten baldmöglichst politische-diplomatische Verhandlungen auf den Weg gebracht werden. Italien hat dazu einen ersten Vorschlag unterbreitet. Der Schlüssel aber für Waffenstillstandsverhandlungen liegt definitiv in Washington oder auch in Peking. Biden hat kürzlich die politischen Ziele des Westens realistischer definiert als sein Verteidigungsminister.

Die New York Times hat erstmals das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Westens sowie die gravierenden, weltweiten wirtschaftlichen Folgen des Krieges thematisiert. Und der Nestor der Geopolitik, Henry Kissinger, hat sich gar für ukrainische Gebietsabtretungen zugunsten von Friedensverhandlungen ausgesprochen. Das sind Hoffnungsschimmer und realistische Lösungsansätze. 

 

Erich Vad ist Brigadegeneral ausser Dienst. Er war Zwischen 2006 und 2013 militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ist heute Inhaber der Beratungsfirma ErichVad-Consulting.
Protokolliert: Roman Zeller