Angelo Nottaris und Flaviano Carrapa sind beide 32 Jahre alt und gehören zu einer neuen Generation von Spitzenuhrmachern in der Schweiz. Nach ihrer Ausbildung an der Uhrmacherschule Zeitzentrum in Grenchen, wo sie sich auch kennengelernt haben, haben sie bei den renommiertesten Luxusuhrenboutiquen an der Zürcher Bahnhofstrasse gearbeitet und dann ebenfalls in Zürich eigene Ein-Mann-Betriebe eröffnet, namentlich die Ateliers Nottaris Filles & Fils an der Heinrichstrasse 135 und Zum Uhrmacher an der Weinbergstrasse 164, wo Ende letztes Jahr dieses Gespräch stattfand.
Weltwoche: Angelo, Flaviano, als Erstes der obligatorische wrist check: Was für Uhren tragt ihr am Handgelenk?
Angelo Nottaris: Bei mir ist es der zweite Messing-Prototyp der von mir entwickelten Nottaris-UNI:SEX-Urversion-Uhr. Der erste wurde mir geklaut.
Weltwoche: Wer klaut denn einen Prototyp? Sorglos herumlaufen kann man damit auf jeden Fall nicht.
Angelo: Jemand, den ich in Genf an einer Ausstellung kennengelernt habe. Diese Person hat ihn dann auf dem Schwarzmarkt für 4000 Franken verkauft. Den Prototyp einer Uhr, die noch nicht einmal auf dem Markt ist!
Flaviano Carrapa: Huere zurückführbar. Recht doof.
Angelo: Recht doof, ja. Ich habe ihn dann angezeigt und alles.
Weltwoche: Offenbar hat er in dem Teil Potenzial gesehen. Ich würde es als Kompliment nehmen. Flaviano, was für eine Uhr hast du an?
Flaviano: Einen von mir modifizierten Heuer-Big-Eyes-Chronografen, den mir ein Kunde vorbeigebracht hat. Er war ihm nichts mehr wert, also habe ich ihn frisch finissiert, angliert, alles wieder schön geschliffen, in zwei Schritten mit Edelkorund und Glasperlen sandgestrahlt, ihm einen Glasboden eingesetzt und PVD-beschichten lassen. So ist etwas Einzigartiges entstanden.
Weltwoche: Wann ist eine Uhr für euch spannend?
Flaviano: Wenn sie nicht jeder hat. Sobald sie zu gehypt ist, finde ich sie nicht mehr spannend. Aber nichts gegen gehypte Uhren, qualitativ muss man daran in der Regel ja nicht herumdiskutieren.
Angelo: Wenn sie mich im ersten Moment packt. Wenn sie zum Beispiel eine Gehäuseform hat, die ich noch nicht gesehen habe, es aber proportional einfach stimmt – ein Eyecatcher, der gut am Handgelenk sitzt und zum Rest der Kleidung passt.
Flaviano: Der Blick auf die Uhr muss Spass machen.
Angelo: Wenn du, blöd gesagt, einfach einen Computer anhast – das ist einfach kein Style, Mann! Es sieht tot aus. Oder Hochglanzpolitur von A bis Z, kein Spiel in der Oberflächenverzierung. So kannst du auch auf einen Screen schauen.
Weltwoche: Wie viele von hundert Uhren sind für euch spannend?
Flaviano: Eine.
Angelo: Ha, ha, ha! Ich kann jetzt aber gar nicht behaupten, dass ich andere Uhren intensiver studiere, das habe ich während meiner Ausbildungszeit öfters gemacht. Ich konzentriere mich lieber auf meine eigenen Uhren.
Weltwoche: Ihr entsprecht nicht wirklich dem Bild eines Uhrmachers, das die meisten Leute haben dürften ...
Flaviano: So einen Bauchigen mit Schnauz? Die gibt es natürlich auch.
Weltwoche: Wie seid ihr zur Uhrmacherei gekommen?
Flaviano: Ich habe schon als Bub immer gesagt, dass ich gerne schrüüble würde. In der Primarschule musste ich einen Aufsatz über einen Beruf schreiben und bin zu einem Uhrmacher gegangen. Als ich seine Werkstatt betrat, hat es mich voll geflasht. Ab da wusste ich, was ich werden wollte. Gut, noch in der Berufsschule dachten Angelo und ich, wir werden Fussballprofis …
Angelo: Yes!
Weltwoche: In deinem Fall weiss ich, dass schon Vorfahren von dir Uhrmacher waren, Angelo. Lustigerweise hast du das aber erst recht spät herausgefunden.
Angelo: Ich habe zwei Ururgrossväter, die beide in der Uhrmacherei tätig waren. Der eine, Angelo Nottaris, hat mit Le Corbusier zusammen kunstvolle Jugendstil-Zifferblätter entwickelt. Der andere, Jean A. Waelti, hat die ersten synchronisierten Bahnhofsuhren gebaut. Das war so um 1920. Urgrossvater Mario Nottaris hat das Uhrentechnikum in Le Locle absolviert, Urgrossonkel Jean G. Waelti die Uhrmacherschule Neuenburg …
Weltwoche: Hochinteressant! Aber wir haben leider nur vier Seiten Platz …
Angelo: Mit fünfzehn oder sechzehn Jahren bin ich von einer Berufsmesse heimgekommen, wo ich mir verschiedene Berufe angeschaut habe. Am Stand des Zeitzentrums hatte es so ein Handdrehbänklein und einen Handstichel, und man musste ein 2,5 Millimeter langes Unruh-Ächslein herstellen, da hat es mich reingezogen. Ich habe das meinem Vater Mario erzählt, und da hat er mir eine Taschenuhr mit emailliertem Zifferblatt und den Initialen A. N. gezeigt. Die Uhr meines Ururgrossvaters Angelo!
Weltwoche: Du hast dich dann beim Zeitzentrum beworben und wurdest angenommen …
Angelo: Als einer von dreizehn pro Jahrgang. Und schon im dritten Lehrjahr, als Neunzehnjähriger, habe ich bei Gübelin an der Bahnhofstrasse Jaegers und Pateks in die Finger bekommen und durfte sie aufmachen und studieren. Wie sind die Gehäuse bei einer Nautilus verschraubt? Wie löst Jaeger bei der Reverso das Problem, wie die Federstege beim Band reinkommen?
Weltwoche: Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal an einer 10.000-Franken-Uhr sitzt?
Flaviano: Ganz ehrlich, das Wichtigste, was ich in meinen vier Jahren bei der Manufaktur Urwerk in Genf gelernt habe, ist: Alle kochen nur mit Wasser. Du kommst frisch aus der Lehre und denkst: Boah! Und dann siehst du hinter die Kulissen und merkst: Ah, hier wird doch noch recht gebastelt. Weisst du, im Positiven. Aber es ist so Edelbastlerei.
Angelo: Der Wert einer Uhr hat mich nicht interessiert. Ich hatte einfach das Objekt und dachte: Krass! Wie das verarbeitet ist! Das ist einfach geil! Aber Kratzer mag es natürlich nicht leiden.
Flaviano: Seien wir ehrlich, jeder schrottet mal etwas. Vor zwei Jahren ist mir das Übelste bei einem skelettierten, gravierten Urban-Jürgensen-Ewiger-Kalender aus Platin passiert, da musste ich nur noch die letzte Schraube im Werk befestigen und bin dann mit der Klinge ...
Weltwoche: Stopp, mir wird schlecht! Was ist die komplizierteste Aktion, die ihr bei einer Uhr machen musstet? Oder was ist das Schwierigste generell?
Angelo: Die Spirale biegen, also die zwei Knicke, die man in die äusserste Kurve der Rolle machen muss, richtig breichen. Und, das tönt jetzt vielleicht easy, aber das Auge zu entwickeln, um die richtige Ölmenge zu sehen, braucht Zeit.
Weltwoche: Warum habt ihr der Zürcher Bahnhofstrasse, wo ihr beide tätig wart, den Rücken gekehrt?
Flaviano: Es ist ein Laufsteg, eine Scheinwelt, zu wenig ehrlich. Aber was geht es mich an, warum jemand eine Uhr kauft? Ob zum Angeben oder um in den Tresor zu legen, das ist mir egal, das ist Sache des Kunden.
Weltwoche: Das klingt bewundernswert abgeklärt. Ein frisch-fröhliches roasting von Trägern von Luxusmarken kann ich an dieser Stelle wohl nicht erwarten?
Flaviano: Ich möchte eigentlich nicht auf Marken eingehen, nein.
Angelo: Zum Glück gibt es die verschiedenen Brands, jeder steht für etwas anderes.
Weltwoche: Was für Projekte verfolgt ihr aktuell? Was für Visionen habt ihr? Welche Erfindungen möchtet ihr noch machen?
Angelo: Eine Uhr auf biologischem Rhythmus. Die innere Uhr stimmt ja nicht mehr mit der Zeit draussen überein, weil wir dank künstlichem Licht ewig arbeiten können. Eine völlig auf dich ausgerichtete Uhr, die dir zum Beispiel anzeigt, wann die beste Zeit zum Atmen ist am Tag. Ein chronobiologisches Zeitmesssystem mit Integration externer Orientierungsmechanismen und subjektivem Kompass. Die Uhr, die dich in die natürliche Balance bringt. Ohne künstliche Sekunden-, Minuten- und Stundenskalierung auf dem Zifferblatt. Die Stunden wären flexibel – so lang, wie du sie wirklich wahrnimmst. Kairos und Chronos repräsentieren im Griechischen auch gegensätzliche Zeitkonzepte.
Weltwoche: Angelehnt an eine chinesische Organuhr, oder wie das heisst? Spannend! Du bist ja auch ständig am Experimentieren mit neuen Werkstoffen. Interessanterweise hast du die Medizinalindustrie als Quelle entdeckt. Wie das?
Angelo: Ich lese Artikel. So habe ich herausgefunden, dass es einen Drittel Abfall gibt, wenn eine Zahnbrücke gegossen wird. Ich bin dann zum Dentallabor Seiler-Scheidegger beim Zürcher Central gegangen, und dort stand eine Kiste mit Abfall herum, der einfach weggeschmissen werden sollte. Kobalt-Chrom-Molybdän-Wolfram, das ist extrem hart, langlebiger als herkömmlicher Stahl, aber nicht so hart wie Keramik, Keramik ist ein Scheiss, wenn du damit irgendwo anstösst, ist es zerbrochen. Daraus habe ich das Uhrengehäuse für meine UNI:SEX entwickelt. An einer Verwendung von Kautschuk aus Löwenzahn bin ich auch am Herumstudieren. Es gibt viele Materialien, die in anderen Wertschöpfungsketten als Restmaterial übrigbleiben und die ich sinnvoll brauche.
Weltwoche: Konkrete neue Uhren von dir?
Angelo: Die UNI:SEX in Mini-Variante und der Camaro-Chronograf.
Weltwoche: Flaviano, was für Uhrenvisionen verfolgst du?
Flaviano: Schau, ich hatte das Glück, sehr früh Einblick in absolut exklusive Welten haben zu dürfen. Ich durfte sehr exklusive Uhren herstellen …
Angelo: Flaviano hat an millionenteuren Uhren gearbeitet!
Flaviano: Zur UR-210 von Urwerk habe ich eine besondere Beziehung, da ich bei diesem Modell die rohen Einzelteile aufeinander einpassen, finissieren und bis zur fertigen Uhr komplett montieren durfte. Das ist schon ein sehr spezielles Gefühl, das gebe ich zu. Da ist genau genommen jede Uhr ein Einzelstück. Auf Social Media sieht man schon manchmal eine UR-210 am einen oder anderen Handgelenk …
Weltwoche: Nur nicht immer so bescheiden! UR-210-Träger sind unter anderem Michael Ballack, Michael Jordan oder Jackie Chan. Und auch ein, äh, gewisser russischer Politiker, wie man durch simples Googeln herausfinden kann.
Flaviano: Auf alle Fälle hätte ich sehr viele Ideen, ich hätte auch sehr konkrete Ideen, aber mittlerweile stehe ich an einem anderen Ort. So eine Challenge wie die von Angelo mag ich nicht angehen. Das braucht enorm Energie. Ich habe seit vier Jahren meinen Laden, wo ich Uhren individualisiere, Uhren ein zweites Leben einhauche – das hat einen riesigen emotionalen Wert. Letzthin hat mir ein Kunde die Originaluhr vom Manfred von Richthofen zum Reparieren vorbeigebracht, dem Roten Baron aus dem Ersten Weltkrieg. Ganz spannend. So eine kleine Damen-Taschenuhr, eine Moser, Silbergehäuse, in einem Leder-Case, voll nichts Wahnsinniges. Ein persönliches Projekt von mir ist schon seit Jahren der Umbau eines Weckers. Ich habe ein Flair für tönende Uhren.
Angelo: Flaviano hilft mir aber auch viel bei meinen Entwicklungen. Konkret gerade mit einem Titanschräubchen, das nicht vom Schraubenzieher fallen kann.
Weltwoche: Wer sind eure Vorbilder, Leute in der Industrie, zu denen ihr aufblickt?
Angelo: Wir sind Paul-Gerber-Fans …
Flaviano: … ein Zürcher Uhrmacher, einer der genialsten unserer Zeit. Er und Andreas Strehler.
Angelo: Und für mich war es noch Beat Haldimann.
Flaviano: Die geniuses! Für mich gehört noch Miki Eleta dazu, aus einem ganz einfachen Aspekt: Ihm ist völlig wurscht, was andere denken. Er macht seine Grossuhren zu seinen moralischen Konditionen, kompromisslos.
Weltwoche: Was ist eure Lieblingsmarke?
Flaviano: Breguet. Es geht dort um die Uhr. Punkt.
Angelo: Breguet. Wegen der Geschichte von Abraham. Seine Entwicklungen sind noch heute überall drin. Viele Brands sind Fiktion und nur durch Marketing grossgeworden.
Weltwoche: Worauf seid ihr am meisten stolz?
Flaviano: Darauf, dass ich auf meine Art gegen den Strom schwimme, dass ich von meiner Leidenschaft lebe und dass ich mir am Abend beim Zähneputzen in die Augen schauen kann.
Angelo: Was mich stolz macht, ist, wenn jemand zu mir sagt: «Ich trage seit zwanzig Jahren keine Uhren», und dann eine bei mir kauft. Crazy, oder? Und dann hocken wir zusammen zwei Stunden auf dem Balkon und reden über Gott und die Welt und die Leidenschaft für Uhren, die wir teilen. Schlussendlich geht es um die Beziehung, die du mit diesen Menschen hast. Keine Sau braucht eine mechanische Uhr.
Uhren - Ur-Zeit - ist mir als einzige, sich immer wiederholende 360 Grad Drehung bekannt, die sich von links nach rechts bewegt, selbst die Erdachse dreht sich von rechts nach links. Könnte politisch zu verstehen sein....
Ich freue mich jeden Tag an meiner schönen Schweizer Automatikuhr Uhr. Ein Meisterwerk der Technik. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass jüngst viele Menschen auf ( stromabhängige) Smartwatches wechseln. Ich nennen sie moderne Fussfesseln und bin jedes mal peinlich berührt. Meine Uhr läuft und läuft…ohne eine Batterie oder sonst was, nur durch die Bewegung.
Ich habe größten Respekt vor dem Können dieser Uhrmacher. Diese miniteilchen, die auch noch ineinander greifen. Ich habe für den Modellbau in 1,6mm Messingstäbe ein 0,6mm Loch mittig bohren müssen bzw wollen. Ein Drittel Ausschuß bis es endlich geklappt hat. Der Minibohrer frisst und bricht ab und läuft oft schief. Die einen Könner im Kleinsten, es gibt dann auch noch Könner im Größten - das kann kein linksgrüner studienabbrecher nachvollziehen