Dieser Text erschien zuerst am Samstag, 1. Oktober 2022, auf dem Online-Portal Rubikon. Weil der Beitrag auf der Social-Media-Plattform Linkedin gegen die Richtlinien verstiess und entfernt wurde, publizieren wir hier die Originalfassung.

 

Professorin Ulrike Guérot wurde gebeten, ein Lied für die Aktion «Friedensnoten» auszuwählen. Die Aktion Friedensnoten ist ein Projekt des Künstlers Jens Fischer Rodrian und des Journalisten Marcus Klöckner, das unter der Internetseite friedensnoten.de zu finden ist und auf Twitter unter #friedensnoten Verbreitung findet. Das Projekt will ein Zeichen für den Frieden setzen indem Persönlichkeiten ein Friedenslied ihrer Wahl vorstellen. Ulrike Guerot entschied sich für Joan Baez und den Song «Where have all the flowers gone?» oder in deutscher Sprache «Sag mir, wo die Blumen sind?».

Ich war in den 1970er Jahren ein noch sehr junges Mädchen, aber den Geruch von Woodstock, den Hippie-Kult, der sich nach dem Festival und aufgrund der Proteste damals gegen den Vietnamkrieg auch in Europa ausbreitete, den konnte man auch als junges Mädchen einatmen, wenn auch nicht richtig begreifen.

Joan Baez muss oft im Radio gewesen sein; ich erinnere mich an diese sanfte und dennoch eindringliche Stimme, amerikanischer Folk vom Feinsten, eine Stimme wie eine Glocke, so rein und hell und klar.

«Where Have All the Flowers Gone?» ist ein weiches Lied, nicht (an)klagend, nur fragend. Das Wort Krieg kommt gar nicht ausdrücklich vor; ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, worum es in diesem Lied geht, das eigentlich ein Reigen ist.

Erst verschwinden die Blumen – «where have all the flowers gone?» –, dann die Mädchen – «where have all the young girls gone?». Dann wird nach den jungen Männern gefragt – «where have all the young men gone?». Die jungen Männer, so geht es weiter im Liedtext, haben Uniformen angezogen und wurden auf einmal Soldaten. Am Ende jeder Liedzeile wird gefragt: «When will they ever learn?» – Wann werden sie endlich lernen?

Aus den Soldaten werden Gräber, auf den Gräbern wachsen neue Blumen, die pflücken neue Mädchen und geben sie neuen Soldaten, die wieder in den Krieg ziehen und immer so weiter.

Joan Baez besingt die Verzweiflung, dass es immer so weitergeht beziehungsweise immer wieder von vorne anfängt, obgleich man den kriegerischen Reigen doch kennt und weiss, wie schrecklich Kriege sind, dass das alles aber nichts nützt. Das Lied ist schlicht; es besingt die menschliche Unfähigkeit, aus Katastrophen zu lernen, in ganz einfachen Worten.

Die grossartige Joan Baez ist während des Vietnamkriegs mit ihrer Gitarre nach Vietnam geflogen und hat sich — singend — vor die Panzer gestellt. Dadurch wurde sie und ist bis heute eine Ikone der amerikanischen Friedensbewegung, von der man sich wünschen würde, dass es diese heute noch gibt. Eine schöne, mutige Frau, das Idol eines Landes, das sich einst als «Land of freedom and liberties» verstanden hat, das es aber leider längst nicht mehr ist.

Die amerikanischen Implikationen in dem derzeitigen Krieg in der Ukraine sind inzwischen unübersehbar und unleugbar, auch wenn es Russland war, das diesen Krieg formal begonnen hat. Man wünschte sich eine Joan Baez in Kiew, die auf dem Maidan noch einmal singt — dieses Lied und viele andere ihrer wunderschönen Lieder für den Frieden.

Ich habe das Lied vor allem deswegen ausgewählt, weil es ebenjenen kriegerischen Reigen beschreibt, jene Tragik des Immer-wieder-von-vorne-Anfangens, als gehöre der Krieg zum menschlichen Dasein, als könne er nicht vermieden, nicht gestoppt werden, als sei er fast schicksalhaft in seiner Wiederholung, um etwas daraus zu lernen, aber die Menschen wollen — oder können? — nicht lernen («When will they ever learn?»).

Dieses Nicht-lernen-Können oder -Wollen ist umso tragischer, als es doch das europäische Projekt war, das auf dem Schutt und der Asche der europäischen Kriege von 1918 bis 1945 begründet wurde, mit ebenjener Mission, jenem Mantra: «Nie wieder Krieg!».

Dass ausgerechnet Europa, die EU, jetzt blindlings Partei für die Ukraine ergriffen hat, dass die EU-Staaten via Nato möglicherweise im Herbst aktiv in das Kriegsgeschehen eingreifen wollen, anstatt die blaue Fahne mit zwölf Sternen und Friedenstauben auf alle Balkone von Lissabon bis Helsinki zu hängen und in allen europäischen Städten Flashmobs mit Beethovens «Ode an die Freude» zu organisieren, weist eher auf einen Verrat an der europäischen Idee hin als darauf, dass Europa im Ukraine-Krieg seine Werte verteidigt, wie allgemein behauptet wird.

«Alle Menschen werden Brüder» heisst es in der Europahymne. Die Russen gehören auch zu den Menschen!