In allen Bezirken der Republik gingen die Menschen auf die Strasse. Allein in Berlin waren es offiziellen Angaben zufolge mehr als 700.000. Mit selbstgebastelten, oft fantasievollen Plakaten und Bannern bewiesen die braven Bürger sich und der Welt wieder einmal, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, und stärkten der Regierung den Rücken. Die Medien berichten ausführlich. Wir schreiben den 1. Mai 1989. Eine Glosse von Jens Berger, die zuerst auf den Nachdenkseiten erschien.

Auch heute, fast 35 Jahre später, gehen wieder Menschen bundesweit auf die Strasse und stärken der Regierung auf Demonstrationen und Kundgebungen den Rücken. Man demonstriert gegen die AfD. Ein Hauch von Hysterie liegt in der Luft.

Die braven Menschen wollen den Anfängen wehren und ein zweites 1933 verhindern – gerade so, als stünde Frank-Walter Steinmeier kurz davor, Björn Höcke zum Reichskanzler zu ernennen. Aber nein, darum geht es ja (noch) nicht. Einstweilen geht es um die ultimative Rettung der Demokratie und der Grundrechte. Fein. Wo waren diese braven Menschen eigentlich, als vor gar nicht allzu langer Zeit die Grundrechte durch die Corona-Massnahmen tatsächlich unter Beschuss lagen?

«Halt!», höre ich sie sagen. Ein solcher Vergleich ist nicht statthaft. Schliesslich war es ja damals nicht die AfD, sondern die Regierung, die die Grundrechte suspendierte. Das stimmt. Auch heute ist es ja die Regierung, die «im grossen Stil abschieben» will. Dagegen demonstriert man freilich nicht. Wenn zwei das Gleiche fordern, ist es bekanntlich noch lange nicht dasselbe. Und wenn diejenigen, die ein «Rückführungsverbesserungsgesetz» beschliessen, zu Demos gegen eine Partei aufrufen, die bessere Rückführungen fordert, ist das kein Widerspruch … zumindest nicht für die braven Bürger.

Für oder gegen was wird da eigentlich demonstriert? Gegen die AfD, so viel ist klar. Die steht in den Umfragen bei rund 20 Prozent. Auf diesem Wert steht sie zwar schon seit dem letzten Sommer, aber das soll jetzt auch nicht weiter stören. Nun kam nämlich heraus, dass sich Nazis in einer Potsdamer Villa getroffen und dort Nazi-Zeugs erzählt haben. Ei der Daus! Was für eine Überraschung! Nazis aus Deutschland und Österreich treffen sich und reden nicht über das Wetter oder das Dschungelcamp. Wer hätte das gedacht? Dass neben AfD-Nazis auch CDU-Nazis anwesend waren, wollen wir an dieser Stelle lieber verdrängen. Eine Brandmauer gegen die CDU wäre schliesslich nur schwer zu praktizieren.

Was kann man gegen die starken Umfragewerte der AfD tun?

Nun gut, man könnte ordentlich regieren und den Protestwählern den Grund für ihren Protest entziehen. Klar, das ist eine Schnapsidee. Man könnte auch mit AfD-Wählern diskutieren und debattieren und sie davon überzeugen, dass die AfD keine Alternative ist. Aber nein, das geht nicht – mit Nazis spricht man ja nicht. Also geht man auf die Strasse und zeigt sich und der Welt, dass Deutschland ein Land der Anständigen ist.

Interessiert das die potenziellen AfD-Wähler? Wohl kaum. Auf die Umfrageergebnisse hat dies keinen messbaren Einfluss. Und dass 20 Prozent Zustimmung zur AfD auch heissen, dass 80 Prozent – also die übergrosse Mehrheit – diese Partei nicht so toll findet, ist simple Mathematik. Um das zu belegen, muss man ja eigentlich nicht auf die Strasse gehen. Aber darum geht es den braven Bürgern wohl auch nicht. Früher ging man am Sonntag in die Kirche – nicht um zu beten, sondern um zu sehen und gesehen zu werden und sich als Teil der Gemeinschaft zu präsentieren. Wir sind die Anständigen! Auch heute gibt es solche Bekenntnisrituale. Der Sonntagsanzug ist der Jack-Wolfskin-Jacke gewichen, und man pilgert mit Kind und Kegel nicht zur Kirche, sondern zur Anti-AfD-Demo, man sieht und wird gesehen, fühlt und präsentiert sich als rechtschaffener Teil der Gemeinde und geht mit dem Gewissen nach Hause, den Anfängen getrotzt und ein Viertes Reich verhindert zu haben.

Noch nie war antifaschistischer Widerstand so einfach – ein wunderbares Ritual, das nur Gewinner kennt. Der brave Bürger fühlt sich endlich wieder gut und wähnt sich auf der richtigen Seite der Geschichte. Die AfD jubelt, weil sie wieder in den Schlagzeilen ist. Die Regierung ist happy, weil niemand mehr über vermurkste Heizungsgesetze, Schattenhaushalte, milliardenschwere Rüstungsprogramme, den suboptimal laufenden Krieg in der Ukraine oder die unzufriedenen Bauern spricht.

Und last, but not least kann sich der Ösi-Nazi Martin Sellner freuen. Sein neues Buch, das den ganzen Wirbel ausgelöst hat, ist bei Amazon aktuell das meistverkaufte Buch Deutschlands.

Läuft doch super für alle Beteiligten. Weitermachen!

Jens Berger ist freier Journalist und Chefredaktor der Nachdenkseiten. Er publizierte mehrere Sachbücher, darunter «Der Kick des Geldes» (Westend, 2015) und der Spiegel-Bestseller «Wem gehört Deutschland?» (Westend, 2014).