Das Ergebnis der Verhandlungen mit der EU läuft laut den Angaben des Bundesrats darauf hinaus, dass sich die Schweiz verpflichtet, das gesamte zukünftige Binnenmarktrecht zu übernehmen, sofern es für die bilateralen Abkommen relevant ist. Da stellen sich die folgenden zentralen Fragen: Um was für einen Vertragspartner handelt es sich bei der EU eigentlich? Wie hat sie sich im Verlauf ihrer Geschichte verändert, was sind ihre Verhaltensmechanismen und wie ist ihre Verlässlichkeit zu beurteilen?

Die Entwicklung der EU im Zeitraffer lässt sich in die kurze Wendung fassen: vom Liberalisierungsprojekt zum Regulierungsmonster. Als Sechsergemeinschaft (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, Niederlande) mit den römischen Verträgen 1957 unter dem Namen EWG gestartet, ist die EU heute zu einem 27 Länder umfassenden Staatenbund herangewachsen. Sie hat sich in dieser Zeit zu einer supranationalen Rechtsgemeinschaft entwickelt, die praktisch in alle wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Lebensbereiche ausstrahlt.

Funktionell hat die EU – sieht man von den Zielen als Solidar- und Sicherheitsgemeinschaft ab – in erster Linie als Liberalisierungsprojekt für den Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr begonnen. Diese erste Phase führte bis zur Erdölkrise von 1973 zu einem positiven wirtschaftlichen Entwicklungstrend. Ab den 1980er Jahren hat sich der Mitgliederkreis sukzessive erweitert: 1981 mit Dänemark, Irland, Grossbritannien, Griechenland, 1986 Spanien, Portugal, 1995 Österreich, Finnland, Schweden, 2004 Zypern, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, 2007 Bulgarien, Rumänien und 2013 Kroatien.

Missachtung des Subsidiaritätsprinzips

Im Zuge dieses Erweiterungsprozesses rückten ab 1985 sukzessive die Vollendung des Binnenmarktes (Einheitliche Europäische Akte, Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzips 1987) und ab 1990 die Schaffung der europäischen Währungsunion in den Fokus (Vertrag von Maastricht). Parallel dazu haben sowohl die Rolle als auch das Gewicht der beiden wichtigsten Institutionen – EU-Kommission und Europäischer Gerichtshof EuGH – stark zugenommen.

Die EU-Kommission hat es unter Missachtung des in Art. 5 des EU-Vertrages verankerten Subsidiaritätsprinzips ausgezeichnet verstanden, sich laufend neue Zuständigkeiten und Kompetenzen anzueignen. Dafür stehen Hunderte von Richtlinien, welche die EU-Kommission jedes Jahr produziert. Und der EuGH setzte ohne demokratische Legitimation das EU-Recht über das nationale Recht der Mitgliedländer und damit deren Verfassung hinweg. Das ist insofern von grosser Bedeutung, als der EuGH nach der Präambel der EU-Verfassung der Verwirklichung einer «immer engeren Union der Völker Europas» verpflichtet ist.

Auf diese Weise verwandelte sich die EU langsam von einem Liberalisierungskonzept in ein Bürokratie- und Regulierungsmonster. Damit verschlechterte sich auch die Qualität der politischen Entscheidungen in der EU (Daniel Gros). Prägnant hierzu der bekannte deutsche Satiriker Dieter Nuhr: Die grosse Idee Europas war nicht, dass tausende von Bürokraten in Brüssel mit unsinnigen Regelungen einem auf den Wecker gehen. Dabei führte er als Beispiel das Verbot an, das es norddeutschen Landfrauen verunmöglicht, ihre selbstgebackenen Weihnachtskuchen zu verkaufen.

Grosse Ankündigungen und gebrochene Versprechen

Es gehörte schon früh zur Praxis der EU-Kommission und auch des EU-Rats, mit grossen Zukunftsprojekten («Weissbücher») Politik zu machen und deren Ziele als integrationspolitische Meilensteine anzupreisen. Vielfach sind diese Projekte entweder fehlgeschlagen, still begraben worden oder deren Versprechen wurden einfach gebrochen, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.

- 1988 erschien der «Cecchini-Bericht», der für den im Entstehen begriffenen Binnenmarkt nicht nur grossartige Wachstums- und Beschäftigungseffekte, sondern auch tiefe Inflationsraten in Aussicht stellte. Er versprach vor allem auch eine nominale und reale Konvergenz-Entwicklung, das heisst ein wirtschaftliches und soziales Zusammenwachsen der Mitgliedländer insbesondere hinsichtlich Produktivität und Einkommen. In der Folge kam es zwar in allen Mitgliedländern zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung, aber die Konvergenzziele wurden weit verfehlt, und das bis heute. Nach den utopischen Vorstellungen des Cecchini-Berichts hätten sich Kohäsionszahlungen mit der Zeit eigentlich überflüssig machen sollen. Der Kohäsionsfonds dient aber nicht nur munter weiter, sondern sein Einsatzbereich soll noch ausgeweitet werden (auf Energie, Verteidigung).

- Im Jahr 2000 verabschiedete der EU-Rat die «Lissabon-Strategie» mit dem Ziel, die Wirtschaft zu modernisieren, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, um die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum zu machen.

- 2010 musste der EU-Rat eingestehen, dass das Ziel deutlich verfehlt wurde, aber man verwies als Hauptursache auf die 2007 einsetzende Weltwirtschaftskrise. Sogleich wurde ein Nachfolge-Programm bzw. die Strategie «Europa 2020» verabschiedet mit den drei Pfeilern «intelligentes Wachstum, nachhaltiges Wachstum und integratives Wachstum». Ziel sollte sein, dass Europa gestärkt aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgehe. Man kann mit Blick auf Deutschland und Frankreich wohl kaum behaupten, dass dies gelungen ist.

- So zeigte der im September 2024 veröffentlichte Bericht von Mario Draghi, dem früheren Präsidenten der EZB, ein eher düsteres Bild von der Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, die er vor allem wegen Rückständen gegenüber den USA und China gefährdet sieht. Zur Abhilfe schlägt er jedoch keine marktwirtschaftlichen Reformen vor, sondern eine neue interventionistische, differenzierende Industriepolitik, was ohne Zweifel auch auf das Binnenmarktprogramm ausstrahlen dürfe.

In diesem Zusammenhang sei auch noch auf das 1,8 Billionen Euro schwere Aufbauprogramm NextGeneration EU erwähnt. Ein Drittel davon soll für den «Green Deal» reserviert werden, um die Netto-Emissionen von Treibhausgasen bis 2050 auf null zu reduzieren. Dafür werden umfassende Massnahmen im Bereich Finanzmarktregulierung, Energieversorgung, Verkehr, Handel sowie Land-und Forstwirtschaft angestrebt. Als Spitze der Überregulierung gilt dabei die Taxonomie-Verordnung 2020/852, mit der praktisch alle Wirtschaftstätigkeiten nach Nachhaltigkeitskriterien klassifiziert und damit gesteuert werden sollen.

Besonders eklatant sind schliesslich die Unterschiede zwischen Zielsetzung und Realisierung in der europäischen Währungspolitik. Das begann schon mit der Missachtung der Konvergenzkriterien gemäss dem Vertrag von Maastricht 1992 im Hinblick auf die Schaffung des Euro ab 1999 (staatlicher Schuldenstand von 60% des BIP, jährliches Budgetdefizit von 3% des BIP und eine Inflation nicht höher als 1,5% der drei stabilsten Länder), die von Anfang an und bis heute sträflich missachtet worden sind. Die Folge davon ist, dass die Eurozone nie zu einem reibungslos funktionierenden, stabilen Währungsraum wurde.

Hinzu kommt, dass das EZB-System (EZB und nationale Zentralbanken) seit Ausbruch der Finanzkrise 2007 durch den Ankauf von Staatsanleihen munter Staatsfinanzierung betreibt, obwohl das gemäss den ursprünglichen Zielen eigentlich ausgeschlossen sein sollte. Als das deutsche Bundesverfassungsgericht 2020 die Staatsanleihenkäufe der EZB für kompetenzwidrig erklärte, kassierte der EuGH den Entscheid der obersten deutschen Verfassungsrichter einfach. Und zu guter Letzt steht nun auch noch die gemeinsame Verschuldung der EU auf dem Kapitalmarkt auf dem Programm. Auch diese Möglichkeit war eigentlich nie vorgesehen, dürfte aber dank der Insistenz der EU-Kommission und einiger stark verschuldeter Mitgliedländer nun zur Gewohnheit werden.
Auf was muss sich die Schweiz vorbereiten? Auf Grund der bisherigen Entwicklung der EU lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten:

1. Das geläufige Bonmot, dass Europa wie ein Fahrrad immer in Bewegung bleiben müsse und ständig neue Projekte brauche, um nicht umzufallen, wird durch die Entwicklung klar bestätigt. Die EU muss deshalb als ein «moving target» (Beat Kappeler) angesehen werden, was für die institutionellen Elemente des Rahmenabkommens (dynamische Rechtsübernahme, einheitliche Auslegung der Abkommen, Überwachung und Streitbeilegung) Fragen aufwirft.

2. Der EuGH wird immer zugunsten einer noch engeren Union der Völker Europas entscheiden und kann deshalb nicht als unparteiischer Schiedsrichter im bilateralen Verhältnis CH/EU angesehen werden.

3. Die bisher ungebremste zieloffene und restriktive Regulierungswelle der EU ist auch für die Schweiz von zentraler Bedeutung. Es genügt deshalb nicht, nur auf den heutigen Rechtsbestand des Binnenmarkts abzustellen, sondern es müssen die möglichen zukünftigen Entwicklungen in einer breiteren Optik in den Blick genommen werden.

4. Die Schweiz kann sich auch nicht auf das in Art. 5 des EU-Vertrags verankerte Subsidiaritätsprinzip, d.h. die Zuteilung der Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedländer nach klaren ökonomischen Prinzipien, verlassen. Dieser Artikel ist ohne jede Bedeutung geblieben.

5. Die Erfahrung zeigt, dass die EU-Kommission in Auseinandersetzungen mit kleinen Ländern immer forsch, mutig und unnachgiebig unterwegs ist, während sie gegenüber grossen Staaten viel Nachsicht, Verständnis und Mutlosigkeit zeigt. Daran dürfte sich auch mit den neuen bilateralen Abkommen kaum etwas ändern.

6. Wenn die EU eine supranationale Rechtsgemeinschaft ist und die ausgehandelten Integrationsschritte nach Prof. Matthias Oesch institutionell und rechtskulturell weit in das Staats-und Demokratieverständnis der Schweiz eingreifen, so braucht es ein obligatorisches Referendum.

Rudolf Walser war Chefökonom von Economiesuisse und anschliessend beim Think Tank Avenir Suisse tätig.