Marco Polo: Il Milione. Die Wunder der Welt. Illustrierte Jubiläumsausgabe. Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Texten von Elise Guignard. Manesse. 432 S., Fr. 59.90

Die Welt war noch weitgehend unentdeckt, als sich eine Kaufmannsfamilie aus Venedig vor 750 Jahren weit ins Unbekannte, nach Ostasien, vorwagte. Der Geschäftssinn trieb sie an und eine Neugier, die durch ausgiebige Reiseerfahrung geweckt worden war.

Zunächst waren es zwei Brüder der Familie Polo, Niccolò und Maffeo, die 1260 von ihren Handelsniederlassungen in Konstantinopel und auf der Krim aufbrachen, um in Erwartung ertragreicher Tauschgeschäfte weit in das mongolische Westreich vorzudringen. In Sarai am Unterlauf der Wolga trafen sie zunächst auf Berke Khan, den Herrscher des Khanats der Goldenen Horde, der sie in allen Ehren empfing und ein Jahr lang beherbergte, bis Kriegswirren sie weit nach Osten vertrieben. In Buchara, einer der bedeutendsten Handelsstädte der Seidenstrasse, konnten sie sich einer persischen Gesandtschaft anschliessen, unter deren Schutz sie bis an den Hof Kubilai Khans, des obersten Herrschers der Mongolen, gelangten.

 

Sengende Hitze, schneidende Kälte

Der Enkel von Dschingis Khan, des Begründers des Mongolenreichs, bekundete als Sohn einer nestorianischen Christin grosses Interesse an der Religion der Gäste: «Er wollte allerhand von ihnen wissen: Erstens bat er um Auskunft über die Kaiser, nach welchen Grundsätzen sie regierten, wie sie Krieg führten. Anschliessend erkundigte er sich nach den Königen, Prinzen und anderen Fürsten.» Schliesslich fragte er «nach dem Papst, nach den Institutionen der römischen Kirche und nach den Sitten und Lebensgewohnheiten der Christen».

Das berichteten die Brüder Polo 1269 nach ihrer Pionierreise bis Peking zu Hause in Venedig dem fünfzehnjährigen Jüngling Marco, Sohn des Niccolò. Der Grossherrscher der Mongolen hatte den Brüdern neben kostbaren Geschenken auch ein Schreiben an den Papst samt der Bitte um hundert Christgelehrte und Öl aus der Grablampe Jesu in Jerusalem mitgegeben.

Die Neugier, die der junge Marco Polo mitbrachte, wurde am Hof von Kubilai Khan grossherzig erwidert.

Doch auf dem Thron Petri herrschte eine lange Sedisvakanz, so dass noch immer kein Papst gewählt war, als sich die Polos, nun gemeinsam mit dem jungen Marco, nach zwei Jahren wieder auf die Reise machten. Über Kurdistan, Nordsyrien, die Gebiete des heutigen Irak und die Salzwüste Lut ging es die alte Wachan-Handelsstrasse am Hindukusch entlang über das Hochland des Pamir-Gebirges nach Zentralasien. Die ungeheuer strapaziöse Reiseroute führte die drei Kaufleute über unwegsame Strassen und hochaufragende Berge, durch unwirtliche Wüsten, sumpfige Ebenen und mühsam zu durchquerende Sandgebiete. Dies alles musste bei Regen und Schnee durchgestanden werden, einmal in sengender Hitze, dann wieder in schneidender Kälte.

Nach dreieinhalb Jahren ihrer beschwerlichen Reise waren die Polos 1275 endlich in der Oasenstadt Ciandu, der Sommerresidenz des Grosskhans, angelangt. Die Neugier, die der junge Marco Polo mitbrachte, wurde am Hof von Kubilai Khan grossherzig erwidert. Als Sonderemissär wurde der aufmerksame Beobachter in den nächsten Jahren in weitentlegene Gebiete des Riesenreichs entsandt. Er bereiste die Provinzen Mittel- und Südchinas, gelangte nach Tibet und bis nach Südostasien, ins Gebiet des heutigen Vietnam und Thailand.

Unermüdlich sammelte der Augenmensch Marco Polo Eindrücke und versetzte sie in den grossen Bogen seiner landeskundlichen Darstellung. In Ostchina begeisterte ihn die ehemalige Kaiserstadt Quinsay, das heutige Hangzhou. Er war hingerissen von den prächtigen Palästen und Warmbädern und vom Hafen, in den Schiffe aus ganz Asien einliefen und Gewürze, Perlen und Edelsteine ausluden. Vom Hörensagen wusste er auch um die Existenz Japans, das bei ihm Cipangu heisst.

 

«Fliegendes Geld»

Wo immer er hinkam, faszinierte den jungen Kaufmann das kursierende Papiergeld. Kubilai Khan hatte den Gebrauch der alten chinesischen Erfindung als allgemeines Warenäquivalent durchgesetzt: «Mit diesem Geld wird alles bezahlt, im ganzen kaiserlichen Machtbereich ist es das einzige Zahlungsmittel», berichtete der Europäer verblüfft. «Die Leute erstehen damit ihre Waren, Perlen und Edelsteine und Gold und Silber. Alles und jedes können sie kaufen, die Scheine haben ihren Wert.» Die Chinesen nannten die aus der Rinde des Maulbeerbaums gefertigten, leichtgewichtigen Scheine «fliegendes Geld».

Siebzehn Jahre lang waren die Polos in China. Als sie 1291 zur Heimreise aufbrachen, bat sie der kranke Grosskhan, die siebzehnjährige Prinzessin Kokejin mit nach Persien zu nehmen, wo sie seinen Grossneffen, den dortigen Herrscher Arghun, heiraten sollte. Die Rückreise über den Indischen Ozean blieb voller Fährnisse. Skorbut wütete an Bord, nur wenige überlebten. Die Flotte segelte über Sumatra, Ceylon und Indien nach Hormus in Persien, wo Kokejins Bräutigam inzwischen gestorben war und die Prinzessin stattdessen mit dessen Sohn vermählt wurde. Über Trapezunt, Konstantinopel und Euböa gelangten die Polos schliesslich 1295 nach Venedig, wo sie kaum wiedererkannt wurden.

Für Alexander von Humboldt war der Venezianer schlichtweg «der grösste Reisende aller Zeiten».

Drei Jahre später, als die Feindseligkeiten zwischen Venedig und Genua wieder aufflammten, zog Marco Polo als Kommandant einer Galeere in die Seeschlacht von Curzola und geriet in Gefangenschaft. Seinen Reisebericht diktierte er dem Schriftsteller Rustichello da Pisa in die Feder, als beide ein Jahr lang als Kriegsgefangene in Genua ausharrten. Sie nannten das Buch «Le devisement du monde», die Wunder der Welt. Der Zusatz «Il Milione», Erzähler der tausend Wunder, kam später. Seine Stilsicherheit verdankt es gewiss vor allem der Erfahrung des konspirativen «Aufschreibers» Rustichello, der als Verfasser von Ritterromanen aus dem Artuskreis die Geläufigkeit des literarischen Kompositeurs einbrachte.

Es ist belegt, dass Marco Polo in späteren Jahren in den Grossen Rat des Dogen berufen wurde. Er starb am 8. Januar 1324. Er habe nur die Hälfte dessen erzählt, was er erlebt habe, bekundete der Siebzigjährige auf dem Sterbebett.

Von Anfang an wurde Marco Polos Berichten immer wieder die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Goethe hielt das Buch «für Wahrheit, wenngleich vieles märchenhaft erscheinen möchte». Vor einigen Jahren monierte die chinakundige britische Historikerin Frances Wood das Fehlen von Einzelheiten: Die Grosse Mauer kommt nicht vor. Ebenso wenig das Teetrinken. Oder das Verbinden der Frauenfüsse in der Kindheit. Aber jeder Reisende hat seine eigene Selektion der Wahrnehmung. Viele Einwände gelten mittlerweile als entkräftet. So wurde beispielsweise die Mauer in ihrer heutigen Grösse erst in der Ming-Dynastie, Jahrzehnte nach Marcos Rückkehr, errichtet.

«Darf man einem Autor vorschreiben, was er gesehen haben müsste?», fragt der renommierte Sinologe Tilman Spengler zurück. Marco Polos jüngste Biografin, die Historikerin Marina Münkler, pflichtet ihm bei, wie die meisten ihrer Kollegen. «Abgesehen von den phantastischen Erzählungen sind die Berichte Marco Polos, die auf eigenen Erfahrungen beruhen, ausserordentlich lebendig und anschaulich», hält der britische Biograf Cottie A. Burland fest. «Sie wurden durch Darstellungen späterer Reisender, sowohl aus dem Orient als auch aus Europa, bestätigt und stimmen vielfach auch mit den lokalhistorischen Überlieferungen überein.»

Von sich selber gibt Marco Polo nur wenig preis. Wäre es ihm um die Selbstdarstellung gegangen, hätte er sich bei der Schilderung von sich und den Seinen nicht so viel Zurückhaltung auferlegt. Stattdessen wendet er sich fast ausschliesslich der Beschreibung von Land und Leuten und ihren überraschungsreichen Eigenheiten zu. Dazu gehört auch seine weitblickende Wertschätzung der Steinkohle, deren ökonomischen Nutzen er als erster Europäer erkannt haben mag, ebenso wie jenen des Erdöls, das er in Täbris, am Fuss des Kaukasus, zum ersten Mal sprudeln sah.

 

Verlorene Handelswege

Für Alexander von Humboldt war der Venezianer schlichtweg «der grösste Reisende aller Zeiten». Unbestritten bleibt die Wirkungsgeschichte von «Il Milione». Kubilai Khan, der 1294 starb, hatte von 1260 an das grösste zusammenhängende Landimperium der Weltgeschichte regiert, von 1271 an auch als Kaiser von China, und damit die Yuan-Dynastie begründet. Mit dem Zusammenbruch der mongolischen Macht 1368 gingen auch die europäischen Handelswege nach dem Osten verloren, doch die Kunde von fernen Ländern blieb lebendig.

Das Ziel der Seefahrer wurde Indien. Vasco da Gama entdeckte es 1498 bei seiner Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung wieder – bereits 1426 war eine Kopie des «Milione» nach Lissabon gelangt. Und der Genueser Christoph Kolumbus nahm Marco Polos Bericht in lateinischer Ausgabe zur Grundlage seiner Expedition, die Schätze Indiens auf der Westroute zu entdecken.

Die Fortschrittsgeschichte Europas wurde nicht in höfischen Kabinetten oder auf wechselnden Schlachtfeldern entschieden, sondern auf Handelsstrassen und Schifffahrtsrouten. Aufbrüche ins Ungewisse, Forscherneugier und Wagemut lenkten die Schritte entdeckungsfreudiger Kundschafter weit über die bekannten Grenzen des Kontinents hinaus. So beginnt die Stunde der Neuzeit in Wahrheit nicht mit der Entdeckung Amerikas, sondern mit Marco Polos rastloser Reise bis ins Kaiserreich China.

Dieser Essay erschien erstmals am 20. Dezember 2023.