In der Neuen Zürcher Zeitung vom 10. Dezember präsentierte die Fraktionschefin der Grünliberalen, Tiana Moser, ihre Sicht auf das vorgesehene Rahmenabkommen. Doch halten ihre wichtigsten Aussagen einer Überprüfung auch stand? Der nachfolgende Faktencheck bezüglich Wahrheitsgehalt zeigt bemerkenswerte Abweichung von den Tatsachen.

«Das ist unsere letzte Chance, den bilateralen Weg fortzusetzen.»

Seit 2008 ist es der erklärte Wille der Europäischen Union, in den Beziehungen zur Schweiz einen einheitlichen Rechtsraum zu schaffen. Die EU-Länder sprachen von einem Rahmenabkommen mit der Schweiz, das die «Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes bei allen Abkommen sowie einen Mechanismus beinhaltet, mit dem die regelmässige Aktualisierung und einheitliche Auslegung dieser Abkommen gewährleistet wird». Dies würde eine Abkehr vom bisherigen bilateralen Weg bedeuten, also das Ende von Verträgen als beidseits Gleichberechtigten auf Augenhöhe. Die EU-Kommissarin Viviane Reding sprach 2014 denn auch Klartext: «Ich bin seit längerem der Meinung, dass der Weg der bilateralen Vereinbarungen ausgedient hat.» Und Bundesrat Ignazio Cassis erklärte 2023: «Sie wissen, dass wir mit ‹bilateralen Abkommen› in der Schweiz ein positiv besetztes Wort haben. In der Europäischen Union ist das nicht der Fall, weil das suggeriert, dass die Schweiz einen Sonderstatus hat. Die EU hätte gerne, dass wir jetzt zu einem […] Rahmen gehen.» Begriffe wie «Fortsetzung des bilateralen Wegs» oder «Bilaterale III» im Zusammenhang mit den neuen Verträgen sind also ausgesprochene Gaunerwörter. Wer sie verwendet, nimmt entweder die EU nicht ernst oder belügt die eigene Bevölkerung.

«Das Vertrauen unserer Partner ist strapaziert, die Hochschulen und manche Firmen spüren die negativen Folgen bereits.»

Seit dem Abbruch des Rahmenabkommens 2021 hat die Zahl der Bildungsausländer um 12,25 Prozent zugenommen. Während die Schweizer Hochschulen 2020/21 noch 42.997 Bildungsausländer zählten, waren es 2023/24 bereits 48.264, was einer Zunahme von 5267 Bildungsausländern entspricht. Während die ETH vor dem Abbruch des Abkommens 160 Millionen Franken an Forschungsbeiträgen von EU-Projekten erhielt (4,3 Prozent des Gesamtbudgets von 3,7 Milliarden Franken), waren es 2023 immer noch 106 Millionen oder 2,7 Prozent des Gesamtbudgets. Der finanzielle Schaden beschränkte sich auf weniger als 2 Prozent des Gesamtbudgets. Die vielzitierte Medtech-Branche steigerte seit dem Abbruch des Rahmenabkommens die eigenen Exporte in die EU von 5,8 Milliarden 2021 auf 6,1 Milliarden Franken im Jahr 2023. Die besten Universitäten in Europa befinden sich ohnehin in Grossbritannien und der Schweiz – und damit ausserhalb der EU. Die Interessenabwägung, die Tiana Moser hier anstellt, ist schlichtweg absurd. Sollen wir ernsthaft unsere Gesetzgebungskompetenz und Gerichtsbarkeit nach Brüssel abgeben, nur damit sich eine Handvoll Studierender beispielsweise an einer Fernuniversität Hagen immatrikulieren kann?

«Niemand sonst hat mit der EU ein Verhältnis, wie wir es mit dem bilateralen Weg seit 25 Jahren kennen.»

Diese Aussage ist korrekt, aber nicht im positiven Sinn, wie es Tiana Moser meint. Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen Staaten mit den bilateralen Verträgen zahlreiche Bestimmungen übernommen, die ihren Interessen zuwiderlaufen und einseitig der EU nützen, allen voran die Personenfreizügigkeit. Viele Staaten haben Freihandelsverträge mit der EU ohne solche Zwangsanbindungen abgeschlossen und dabei ihr Exportvolumen in die EU um ein Vielfaches mehr als die Schweiz seit der Einführung der Personenfreizügigkeit (2002) gesteigert. Die folgenden Staaten kennen weder «bilaterale Verträge» noch eine Personenfreizügigkeit: China exportierte 2022 Waren für 627,8 Milliarden Euro in die EU, was seit 2002 einem Exportwachstum um den Faktor 8,5 entspricht. Dasselbe gilt für die Türkei mit 98,9 Milliarden Exporten und einem Exportwachstum seit 2002 um den Faktor 4,7. Südkorea exportierte für 72,3 Milliarden in die EU (Wachstum mal 3,6), die USA für 359,1 (Faktor 2,6). Die Exporte der Schweiz in die EU betrugen 2022 145,6 Milliarden und sind damit ebenfalls um den Faktor 2,6 gestiegen – allerdings als einziger Staat verbunden mit den gewaltigen Nachteilen der Personenfreizügigkeit. Fazit: Die «Bilateralen» sind nicht notwendig für einen florierenden Handel und wachsende Exporte in die EU.

«Rund die Hälfte unserer Exporte geht in die EU, nur 18 Prozent in die USA und 6 Prozent nach China.»

Diese Behauptung ist falsch. Gemäss Bundesamt für Zoll- und Grenzsicherheit macht der EU-Raum knapp 40 Prozent unserer Exporte aus, die USA 15 Prozent und China 11 Prozent. Die Exporte in die EU betrugen vor Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 noch 57 Prozent, in die USA lediglich 12 Prozent und nach China 1,4 Prozent. Dies zeigt: Die Wachstumsmärkte liegen ausserhalb der EU. Und würde jemand auf die Idee kommen, wegen der Exporte einen Vertrag mit den Chinesen oder den Amerikanern abzuschliessen, bei dem wir deren Rechtsprechung übernehmen müssten? Oder haben die Chinesen und Amerikaner je gefordert, wir sollten ihr Recht übernehmen oder uns ihrer Gerichtsbarkeit unterstellen, wenn wir mit ihnen handeln wollen?

«Die Alternative ist der Alleingang, wie ihn Grossbritannien seit einigen Jahren testet. Man sieht, was die Folgen sind: weniger Wohlstand, mehr Bürokratie und noch mehr Zuwanderung als zuvor, vermehrt aus Afrika und Asien mit grösseren Integrationsproblemen.»

Die Zuwanderung ins Vereinigte Königreich hat nichts mit dem Brexit, sondern mit der Politik zu tun. Grossbritannien hätte die Möglichkeit, via Punktesystem die Zuwanderung aus der EU selber zu steuern. Das Land weitete jedoch das Punktesystem auf die ganze Welt aus, was de facto eine erleichterte Zuwanderung aus Drittstaaten heisst. Die hohe Zuwanderung ist also eine politische Entscheidung, speziell der herrschenden Linksregierung. Bei genügendem politischem Willen könnte das Land die Zuwanderung reduzieren.

Die Alternative besteht in einem gleichberechtigten Verhältnis auf Augenhöhe und in Verträgen von beidseitigem Interesse – ohne institutionelle Anbindung und ohne Preisgabe unserer Volksrechte. Der neue EU-Anbindungs-Vertrag bietet höchstens minimale wirtschaftliche Vorteile für die Schweiz in einzelnen Bereichen, bringt jedoch erhebliche politische Nachteile mit sich, die diese Vorteile bei weitem überwiegen. Bereits die «Bilateralen I» führten zu einem um 0,7 Prozent geringeren Bruttoinlandprodukt pro Kopf für die vor 2002 ansässige Bevölkerung. Dieses Problem würde sich durch eine Annahme des neuen Vertrages noch verschärfen, da die Zuwanderung bei einer Annahme zunehmen würde, nicht bei einer Ablehnung, wie Tiana Moser behauptet. Grund dafür ist die geplante Erleichterung der Bedingungen für ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in der Schweiz für EU-Bürger.

«Zur Rechtsübernahme gehört, dass die EU der Schweiz politisches Mitspracherecht gewährt. In allen betroffenen Bereichen wären wir frühzeitig und umfassend in die politischen Prozesse eingebunden.»

In Wirklichkeit ist dieses Mitspracherecht (nicht Mitbestimmungsrecht!) stark beschränkt. Die EU möchte Schweizer Unternehmen ihren eigenen Regeln unterstellen, und die EU-Kommission sagte dies im März 2024 auch offen: «Die am EU-Binnenmarkt teilnehmenden Schweizer Unternehmen müssen denselben Regeln und Verpflichtungen unterliegen wie die Unternehmen aus der EU.» Auch stellt sich die Frage, für wen Mitspracherechte gelten: in diesem Fall nicht für die Stimmbürger. Ihre Mitsprache und Mitbestimmung ist durch die direkte Demokratie gewährleistet, die mit dem Anbindungsvertrag stark eingeschränkt bis verunmöglicht würde. Gemeint ist hier das Mitspracherecht der Politiker, die später an gewissen Katzentischen in Brüssel sitzen dürfen. Ihr Einfluss würde auf Kosten der Mitsprache der Bevölkerung wachsen. Auch dann wäre die Schweiz nur minimal vertreten. Selbst bei einem EU-Beitritt würde die Schweiz im EU-Parlament nur 18 von 705 Sitzen erhalten, könnte also gerade mal mit 2,5 Prozent Stimmgewicht mitreden.

«Und bei der Personenfreizügigkeit haben wir Garantien und Ausnahmen.»

Bei der Personenfreizügigkeit gäbe es seit deren Einführung den Artikel 14 Absatz 2 betreffend einen gemischten Ausschuss, der mehrfach eingefordert, aber von der Schweizer Politik nie einberufen wurde. Ebenfalls gilt die von Volk und Ständen 2014 angenommene Masseneinwanderungsinitiative als Verfassungsauftrag, der aber vom Schweizer Parlament ebenfalls nicht umgesetzt wird. Es zeigen sich keine Garantien oder Ausnahmen, welche zuwanderungsdämpfend eingesetzt werden können. Bereits bei der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative weigerte sich die EU, über die Zuwanderung zu diskutieren. Das wird auch in Zukunft so sein. Das Argument der unverbindlichen «Garantien und Ausnahmen» wird nur verwendet, um den Stimmbürger zu täuschen.

«Zweitens ist eine solche Reform angesichts der Interessengegensätze in der EU unwahrscheinlich. Drittens zeigt das Beispiel gut, dass die Rechtsübernahme auch bei der Personenfreizügigkeit keine echten Risiken birgt. Sollte die EU eine Ausweitung beschliessen, könnten wir immer noch nein sagen.»

Auch hier sieht die Meinung der Europäischen Kommission ganz anders aus, hielt sie doch im März 2024: «Die in der Vereinbarung aufgezeigten Lösungen tragen den seit langem bestehenden Bedenken der EU in Bezug auf die Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger Rechnung. Sie würden das Recht der EU-Bürgerinnen und -Bürger sowie ihrer Familien stärken, in die Schweiz zu ziehen, sich dort aufzuhalten und zu arbeiten. Die Bedingungen, unter denen sie ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erwerben können, würden verbessert. Die Nichtdiskriminierung zwischen den Mitgliedstaaten und die Gegenseitigkeit werden zentrale Elemente des geplanten Freizügigkeitsabkommens sein.»

«Unsere Exporte würden zurückgehen, unsere Firmen hätten Nachteile und höhere Kosten, unsere Hochschulen würden viele gute Köpfe verlieren.»

Unsere Exporte haben seit 2002 (142,9 Milliarden Franken) bis 2023 (377,8 Milliarden) zugenommen. Zu diesem Wachstum haben einerseits die EU (2002: 91,2 Milliarden, 2023: 169,176 Milliarden, Zunahme: 77,8 Milliarden Franken), aber insbesondere die Märkte in Asien (2002: 25,6 Milliarden, 2023: 134,3 Milliarden, Zunahme: 108,6 Milliarden) und Nordamerika (2002: 17,1 Milliarden, 2023 60,6 Milliarden, Zunahme: 42,4 Milliarden) haben dazu beigetragen. Während die drei grössten Exportländer der Schweiz in der EU (Deutschland, Italien und Frankreich) massiv eingebüsst haben, konnten unsere drei grössten Exportnationen ausserhalb der EU stark zulegen, nämlich die USA, China und Indien.