Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Emma.

Die Wahlgrafik von Berlin ist lachhaft eindeutig. Die Stadt ist in drei Teile geteilt: Der bürgerliche bis grossbürgerliche Westen hat Schwarz gewählt; die hippe Mitte Grün; der Osten Blau. Es ist eben doch eine Klassenfrage (auch wenn es Klassen nicht mehr zu geben scheint); es ist eine Ost-West-Frage (auch wenn es die DDR nicht mehr gibt); und es ist eine Geschlechterfrage (siehe der Beitrag von Chantal Louis). Dabei ist es letztlich tröstlich, dass die Wähler/-innen die Kluft zwischen Reden und Handeln der Parteien an der Macht erkennen – auch wenn sie sich bei der AfD, die noch nicht liefern musste, Illusionen machen.

Anatatt die Bösen zu verbieten, einfach überzeugendere Politik machen

«Die Nazis sind diesmal wieder stärker geworden», klagte der Parteivorsitzende Klingbeil (SPD) in einer Talkshow nach der Wahl. Nazis? 570.000 SPD-Wähler/-innen wanderten dieses Mal ab zur AfD (die gleiche Anzahl verlor die Union an die rechten Populisten). Alles Nazis? Nach den offensichtlich erfolglosen, ja zum Bumerang gewordenen «Demos gegen rechts» wollen einige besonders stramme Demokraten die AfD nun einfach verbieten. Was deren Ex-Wähler/-innen, die aus Wut über «ihre» Partei zur AfD abgewandert sind, wohl dazu sagen würden?

Da manifestiert sich mal wieder die inzwischen leider gewohnte Attitüde: Schwarz oder Weiss. Meinung statt Fakten. Gut oder Böse. Und die AfD ist böse, sagen die Guten. Aber anstatt die Bösen und ihre wachsende Anhängerschar verbieten zu wollen, sollten sie einfach die bessere, die überzeugendere Politik machen.

Infratest fand heraus, dass die Sorge Nummer eins der Wähler/-innen die «Friedenssicherung» ist, die Sorge Nummer zwei ist die «soziale Absicherung», und die Sorge Nummer drei sind «Zuwanderung und der Islam». Alle drei Themen spielten in der Politik der Ampel eine zu vernachlässigende Rolle, ja Frieden und Islam sind sogar ein Tabu.

Hoher Zuspruch für das BSW bei Wählern muslimischer Religionszugehörigkeit

Die Pointe ist: Von den zwei Dritteln Bürger muslimischer Religionszugehörigkeit, die gewählt haben, haben die meisten, nämlich 20 Prozent, das BSW gewählt! Also die Partei, die am klarsten und rationalsten den politischen Islam und die unrealistische, ideologisch motivierte Zuwanderungspolitik kritisiert. Das ist nur konsequent. Denn die integrierten Muslime haben in der Tat gute Gründe, die Radikalen zu fürchten. Sie sind weltweit die ersten Opfer der Islamisten, die den Glauben in Geiselhaft nehmen.

Und der Krieg? 41 Prozent aller Wähler/-innen fürchten laut Tagesschau.de, «dass uns die einseitige Unterstützung der Ukraine schaden wird». 41 Prozent! Das ist knapp die Hälfte der Bevölkerung. Auch diese Sorge wird grob ignoriert von den Parteien an der Macht.

So erklären sich auch die 6 Prozent «aus dem Stand» für das BSW; neben der AfD die einzige Partei, die gegen weitere Waffenlieferungen und für Verhandlungen ist. Überraschend allerdings ist, dass Sahra Wagenknechts Partei von 5 Prozent Männern, aber 7 Prozent Frauen gewählt wurde (setzen wir die 5 Prozent gleich Hundert, sind das 40 Prozent mehr Frauen!). Denn bisher galt die Chefin nicht unbedingt als Frauenliebling.

Doch kommen wir noch einmal auf die Klassenfrage: Auch von den Grünen, der Akademikerpartei, sind 50.000 Wähler/-innen zur AfD abgewandert. Tagesschau.de meldet: Nur 6 Prozent der Menschen «in einer schlechten wirtschaftlichen Situation» haben die Grünen gewählt, aber 32 Prozent die AfD. Doch nur 3 Prozent die auch darum gescheiterte Linke (wie die FDP).

Soziale (Un)Gerechtigkeit, Krieg sowie eine unrealistische, ideologisch motivierte Einwanderungspolitik und die Unterwanderung durch den politischen Islam, alles Themen, die die Menschen bewegen, die die Ampel bisher jedoch lässig ignorierte, ja tabuisierte. Dafür wurde sie zu Recht abgestraft.

In Frankreich ordnete Präsident Macron Neuwahlen des Parlaments an

In Frankreich zog Präsident Macron aus seiner Niederlage Konsequenzen. Er hatte nur knapp die Hälfte der Stimmen wie seine rechtspopulistische Konkurrentin Marine Le Pen erhalten. Macron ordnete Neuwahlen des Parlaments an. Er wird übrigens dennoch Präsident bleiben, in Frankreich wird der Präsident seit de Gaulle direkt vom Volk gewählt. Die Kluft zwischen Parlamentsmehrheit und der Präsidentenpartei nennt man «Kohabitation». Kann Macron das bis zur Präsidentenwahl 2027 durchhalten?

Und wie lange werden Scholz, Habeck und Lindner ihren selbstgerechten Kurs durchhalten? Warten wir die Landtagswahlen im Herbst ab.

Die 3 Top-Kommentare zu "Europawahl: Frieden, Klassen, Islam – die Fragen, die das Volk bewegten, waren der Ampel herzlich egal. Und welche Rolle spielte der Krieg? Zu lange ging Ideologie vor Realität. Das ist nun die Quittung – und das Wagenknecht-Bündnis die Lösung?"
  • betrachtung

    Ach, Frau Schwarzer, wenn Frau Wagenknecht tatsächlich so friedensbewegt ist, wie sie vorgibt, warum will sie dann mit der CDU koalieren und auf gar keinen Fall mit der AFD zusammengehen ?

  • nkrusch

    Eine treffende Analyse der Europawahl von Fr. Schwarzer. Das Problem der Opposition ist, daß mit dem BSW eine Spaltung und Schwächung stattgefunden hat. Die Ampelkritiker, die CDU/CSU gewählt haben, machen sich falsche Hoffungen, wenn sie glauben, dass mit Merz eine Änderung der Rot-Grünen Politik stattfinden wird.

  • jacques landis

    Eine exakte, realistische und unbeschönigte Analyse in deutlichen Worten von Alice Schwarzer - dazu kann man nur eines sagen: Chapeau !