Denk ich an Deutschland in der Silvesternacht, dann sehe ich Szenen wie aus einem Bürgerkrieg: brennende Autos, gezielter Beschuss von Rettungskräften und Polizei (3943 Einsätze in Berlin, 18 verletzte Polizisten, 15 verletzte Feuerwehrleute) mit Pyro-Raketen, mit Schreckschusspistolen, ein Feuerlöscher fliegt in eine Autoscheibe, prügelnde Horden im Vormarsch gegen die Staatsgewalt …

Vor sieben Jahren versank die Domplatte in Köln in einer Welle aus Gewalt und Übergriffen, in der jüngsten Silvesternacht verabschiedeten sich Berlin-Neukölln und -Kreuzberg aus dem zivilisierten Abendland.

Dem Sprecher der Berliner Feuerwehr fehlten die Worte, zwei Brüder aus Syrien sagen fröhlich in die Kamera: «Is Krieg, irgendwie normal so weit …» Junge Männer aus dem Nahen und Mittleren Osten, Nordafrika und vom Balkan.

Schwere Ausschreitungen auch in Hagen (NRW), Düsseldorf, Leipzig, Hamburg, Stuttgart, Bochum …

«Deutschland schafft sich ab», schrieb Berlins Ex-Senator schon vor Jahren, die moralische Selbstaufgabe zumindest schreitet brutal voran.

Und der Blick in die politische Runde macht die Sache nicht besser: Die eigentlich zu besseren Integration und Prävention ins Leben gerufene Islamkonferenz der Bundesregierung sprach unlängst nicht mehr über Islamismus, sondern über Feindlichkeit gegenüber dem Islam.

Während in Neukölln und Kreuzberg Hunderte Vermummte im Schein lodernder Flammen ganze Strassenzüge stürmen, steht die vom Wind zerzauste und von Silvesterkrachern übertönte Bundesministerin der Verteidigung, Christine Lambrecht (SPD), irgendwo derangiert in der Hauptstadt herum und erzählt in die Instagram-Kamera, dass der Ukraine-Krieg ihr «viele Begegnungen mit interessanten, tollen Menschen» beschert habe. Kontroll- und Vertrauensverlust bis ins Bundeskabinett.

Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, debattieren Politik und Netz nicht etwa über die Fehler der Migrationspolitik, entschlossenen Kampf gegen gewaltbereite Clans und versagende Stadtviertel, sondern über ein Böllerverbot. Ein altes Steckenpferd, das mit den eigentlichen Ursachen Gewaltbereitschaft, Hass auf den Westen und Parallelgesellschaften etwa so viel zu tun hat wie das Tempolimit mit dem Klimaschutz.

Denk ich an Deutschland in der Nacht? Lieber nicht.

Schon gar nicht zu Silvester.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.