Die europäischen Nationen, denen nicht klar war, über welches Potenzial ihre Armeen dank der technischen Entwicklung verfügten, überzogen einander mit beispielloser Zerstörung. Im August 1916, nach zwei Kriegsjahren und Millionen Toten und Verwundeten, begannen die Kriegsgegner im Westen (Grossbritannien, Frankreich und Deutschland) über Wege zu einer Beendigung des Gemetzels nachzudenken.

Lehre von Versailles

Im Osten hatten Österreich-Ungarn und Russland ähnliche Fühler ausgestreckt. Weil kein vorstellbarer Kompromiss die bereits erlittenen Verluste würde rechtfertigen können und niemand den Eindruck von Schwäche vermitteln wollte, zögerten die verschiedenen Parteien die Einleitung eines formalen Friedensprozesses hinaus und bemühten sich stattdessen um Vermittlung der Vereinigten Staaten. Aus Sondierungen von Oberst Edward House, dem persönlichen Beauftragten von Präsident Wilson, ergab sich, dass Frieden auf der Grundlage eines modifizierten Status quo ante in Reichweite war. Wilson war zwar durchaus bereit, eine Vermittlerrolle zu übernehmen, wollte eine Entscheidung aber erst nach den Präsidentschaftswahlen im November treffen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die britische Somme-Offensive und die Verdun-Offensive der Deutschen zu weiteren zwei Millionen Opfern geführt. Wie der amerikanische Historiker und Politikberater Philip Zelikow in seiner Studie zeigt, wurden diplomatische Wege kaum noch beschritten.

Zwei Jahre sollte der Weltkrieg noch dauern, mit millionenfachen Verlusten und einem endgültig zerstörten Kräftegleichgewicht in Europa.

Deutschland und Russland wurden von Revolutionen zerrissen, Österreich-Ungarn verschwand von der Landkarte, Frankreich war ausgeblutet, und Grossbritannien hatte einen beträchtlichen Teil seiner Jugend und seiner Wirtschaftskraft den Erfordernissen des Sieges geopfert. Der harte Vertrag von Versailles, der den Krieg beendete, erwies sich als viel fragiler als die Struktur, die er ersetzte.

Ein Friedensprozess sollte die Ukraine mit der Nato verbinden, wie auch immer formuliert.

Neutralität ist inzwischen sinnlos

Steht die Welt derzeit an einem vergleichbaren Wendepunkt, wenn der einsetzende Winter in der Ukraine eine Unterbrechung der grossangelegten militärischen Operationen erzwingt? Ich habe meine Unterstützung für die militärischen Anstrengungen der westlichen Verbündeten angesichts der russischen Aggression wiederholt zum Ausdruck gebracht. Es ist jedoch an der Zeit, die bereits erreichten strategischen Veränderungen in eine neue Struktur überzuführen, die den Weg zu einem Verhandlungsfrieden weisen könnte.

Heute ist die Ukraine erstmals in der modernen Geschichte ein grosser Staat in Mitteleuropa. Unterstützt von ihren Verbündeten und inspiriert von Präsident Selenskyj, stellt sich die Ukraine den konventionellen russischen Streitkräften entgegen, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg in Atem halten. Und das internationale System (einschliesslich China) verurteilt die russische Bedrohung oder den möglichen Einsatz russischer Atomwaffen.

Dieser Prozess berührt die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Die Ukraine verfügt über eine der grössten und schlagkräftigsten Armeen in Europa, die von Amerika und seinen Verbündeten ausgerüstet wird. Ein Friedensprozess sollte die Ukraine mit der Nato verbinden, wie auch immer formuliert.

Die Alternative, also Neutralität, ist inzwischen sinnlos, zumal nach dem Nato-Beitritt von Finnland und Schweden. Deshalb habe ich im Mai dieses Jahres die Einrichtung einer Waffenstillstandslinie entlang des Grenzverlaufs bei Kriegsbeginn am 24. Februar empfohlen. Russland würde auf die seitdem eroberten Gebiete verzichten, nicht aber auf das Territorium, das vor fast zehn Jahren besetzt wurde, einschliesslich der Krim. Über diese Gebiete könnte nach einem Waffenstillstand verhandelt werden.

Russland hat seit einem halben Jahrtausend zu einem globalen Kräftegleichgewicht beigetragen.

Wenn der Vorkriegsgrenzverlauf zwischen der Ukraine und Russland nicht militärisch oder durch Verhandlungen erreicht werden kann, könnte auf den völkerrechtlichen Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts zurückgegriffen werden. In besonders strittigen Gebieten, die im Laufe der Jahrhunderte wiederholt den Besitzer gewechselt haben, könnten international überwachte Referenden abgehalten werden.

Ein Friedensprozess würde zweierlei Ziele verfolgen: die Bekräftigung der Freiheit der Ukraine und die Definition einer neuen internationalen Struktur, insbesondere für Mittel- und Osteuropa. In einer solchen Ordnung sollte Russland letztlich einen Platz finden.

Manch einer wünscht sich als Ergebnis ein kriegsgeschwächtes Russland. Ich bin anderer Meinung. Trotz all seiner Neigung zu Gewalt hat Russland seit mehr als einem halben Jahrtausend massgeblich zu einem globalen Kräftegleichgewicht beigetragen. Die historische Rolle Russlands sollte nicht abgewertet werden. Die militärischen Verluste Russlands haben seine atomaren Kapazitäten nicht beeinträchtigt, die es dem Kreml ermöglichen, mit Eskalation in der Ukraine zu drohen.

Selbst wenn diese Fähigkeit dezimiert wäre, könnte der Zerfall Russlands oder die Vernichtung seiner strategischen Kapazitäten dazu führen, dass das Territorium, das sich über elf Zeitzonen erstreckt, zu einem gefährlichen Vakuum würde. Rivalisierende Gesellschaften könnten beschliessen, ihre Differenzen gewaltsam zu lösen. Andere Länder könnten versucht sein, ihre Ansprüche militärisch durchzusetzen. All diese Gefahren würden verschärft durch die Präsenz Tausender Atomwaffen, die Russland zu einer der beiden grössten Atommächte der Welt machen.

Wenn die führenden Politiker der Welt sich bemühen, den Krieg zu beenden, in dem zwei Nuklearmächte um ein konventionell bewaffnetes Land kämpfen, sollten sie auch über die Auswirkungen dieses Konflikts nachdenken und über die langfristigen strategischen Möglichkeiten von modernster Technologie und künstlicher Intelligenz. Es gibt bereits autonome Waffen, die Ziele selbständig definieren, einschätzen und angreifen können und daher in der Lage sind, ihren eigenen Krieg anzufangen.

Ist die Grenze zu diesem Bereich erst einmal überschritten und Hightech zum waffentechnischen Standard geworden (und Computer die wichtigsten Vollstrecker von Strategie), wird sich die Welt in einer Situation befinden, für die es bislang noch kein erprobtes Konzept gibt. Wie können Politiker die Kontrolle behalten, wenn Computer strategische Anweisungen in einem Umfang und in einer Weise diktieren, die den menschlichen Input zwangsläufig begrenzt und gefährdet? Wie kann das Überleben der Menschheit gesichert werden angesichts eines Strudels von widersprüchlichen Informationen, Wahrnehmungen und zerstörerischen Kapazitäten?

Was Politiker verstehen müssen

Wir haben noch keine Theorie für diese unkontrolliert sich ausbreitende Welt, und Gespräche über dieses Thema müssen erst noch stattfinden – vielleicht weil ernsthafte Verhandlungen zu neuen Erkenntnissen führen könnten, die selbst eine Gefahr für die Zukunft sind. Die Kluft zwischen hochentwickelter Technologie und Strategien zu ihrer Beherrschung zu überwinden (oder auch nur die Implikationen zu verstehen), ist heute ein ebenso wichtiges Thema wie der Klimawandel. Dafür braucht es Politiker, die historisch denken und von Technologie etwas verstehen.

Das Streben nach Frieden und Ordnung enthält zwei Komponenten, die mitunter als gegensätzlich angesehen werden: die Suche nach Elementen von Sicherheit und die Notwendigkeit von Versöhnung. Wenn wir nicht beides schaffen, werden wir weder das eine noch das andere erreichen. Der Weg der Diplomatie mag kompliziert und frustrierend erscheinen. Aber Fortschritt verlangt die Vision und den Mut, sich auf den Weg zu machen.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Dieser Artikel ist zuerst im Spectator erschienen. In der Weltwoche erschien er in der Ausgabe Nr. 51/52 2022.