Die Brandmauer ist gefallen. Es lebe die Brandmauer. Offiziell spricht in der Union niemand mehr über die sogenannte Brandmauer gegenüber der AfD, gelebt wird sie gleichwohl. Nach dem Bruch der Berliner Ampelkoalition geschieht das sogar in nie gekannter Härte.

Und das nicht nur verbal. Um sogenannte Zufallsmehrheiten durch Zustimmung der AfD zu Unionsprojekten zu vermeiden, bringt die Union beispielsweise das «Zustrombegrenzungsgesetz» gar nicht erst ins Plenum ein und will in der verbleibenden Zeit bis zu Neuwahlen nur noch Vorstösse im Parlament verhandeln, über die man sich zuvor informell mit SPD, Grünen und FDP geeinigt hat.

Motto: Keine Stimme von der AfD! Der Grund ist einfach: Es ist die Angst vor einem politisch-medialen Shitstorm von links, dass die Union gemeinsame Sache mit Rechtsextremisten mache. Ein solcher Sturm könne die derzeitige Umfragemehrheit von rund 30 Prozent für CDU und CSU und damit die Rückkehr ins Kanzleramt gefährden.

Dass man eher mit den Ampelparteien kooperiert, als von der AfD auch nur eine einzige Stimme anzunehmen, folgt einer durchaus dramatischen und realistischen Analyse: CDU und CSU wissen, dass ihre Spezies der bürgerlichen Volkspartei vom Aussterben bedroht ist. Nahezu überall sind die vormaligen Schwesterparteien inzwischen von der Bildfläche verschwunden, wie etwa die ehedem dauerregierende Democrazia Cristiana in Italien.

Topstrategen der Union machen keinen Hehl daraus, dass die kommenden vier Jahre darüber entscheiden, ob man es schafft, in der Regierung so sichtbare Zeichen für einen Politikwechsel zu setzen, dass die AfD verschwindet oder zumindest verkleinert wird. Deshalb darf jetzt auf den letzten Metern zu Neuwahlen und Regierungsverantwortung nichts mehr schiefgehen und auch kein medialer Gegenwind die «Mission Überleben» gefährden.

Deshalb verzichtet Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) jetzt lieber auf einen kurzfristigen Erfolg für das Zustrombegrenzungsgesetz mit Hilfe der AfD, um die so wichtige Machtperspektive nicht zu gefährden. Das Risiko dieser Strategie besteht allerdings darin, dass die Union durch solche Manöver und vor allem durch die sehr wahrscheinliche Koalition mit SPD oder Grünen und die unausweichlichen Kompromisse nach der Wahl so viele Wähler verprellt, dass sie ebenfalls in der Bedeutungslosigkeit versinkt.

Die Alternative lautet für die Union – gemäss dem alten Sponti-Spruch: Du hast keine Chance, nutze sie. Wenn schon Siechtum, dann lieber später als früher. Eine Rechnung, die auf Langmut und Vergesslichkeit der Wähler setzt und die nicht zwingend aufgehen muss, wie man bei den Wahlen in den USA und europäischen Nachbarländern gesehen hat. Spannende Zeiten.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.