Die russischen Medien sprechen es deutlich aus: Das war Putins letzte Warnung an den Westen. Danach folgen die Schläge. Die neueste Rakete «Oreschnik» (Nussbaum) erreicht in elf Minuten Deutschland. Angeblich kann keine Luftabwehr die Wunderwaffe vom Himmel holen. Wäre das erste Ziel Grossbritannien? Man könne nur hoffen, schreibt mir ein guter Freund, lange russischer Diplomat im Westen, dass die Angelsachsen in den Rückgang schalten: «Das Pokerspiel ging zu weit.»

Bei allem Verständnis für die Situation, in die sich Russlands Präsident durch die gewissenlose Eskalation des abtretenden amerikanischen Präsidenten Biden gedrängt sieht, deren Urheber Putin selber allerdings grösstenteils ist: Nichts wäre ungerechter, als jetzt die Europäer für die Dummheit ihrer Politiker zu bestrafen. Der Kremlchef weiss ganz genau, wo seine wahren Gegner sitzen: nicht in Berlin, Paris oder London, sondern in Washington. 

Zu warnen ist bei uns vor jenen Stimmen, die angesichts der Putin-Rede unseren Regierungen eintrichtern, jetzt erst recht habe man sich «den russischen Drohungen» zu widersetzen. Diese merkwürdige Allianz aus ehemaligen grünen Pazifisten, Baumumarmern, Wehrdienstverweigerern, Armeeabschaffern und schiesswütigen Neokonservativen ist massgeblich mit schuld, dass Europa heute am Rande eines dritten Weltkriegs steht. Man muss diese Kreuzzügler endlich stoppen. 

Die Aussagen Putins sollten wir sehr ernst nehmen. Der Präsident zieht eine womöglich letzte rote Linie. Sollten sie die westlichen Kreuzzügler und angeblichen Freiheitskrieger überschreiten, laufen wir in ein Inferno. Systematisch belügt sich der Westen, wenn er Putin belächelt als grössenwahnsinnigen Imperialisten. Den Russen geht es um die Sicherheit, die sie gegen eine ostwärts drängende Nato zu verteidigen glauben. 

Natürlich können wir stundenlang darüber streiten, ob der Vormarsch der westlichen Militärallianz aufs Gelände des Warschauer Pakts eine objektive Bedrohung darstellt für die Russen. Sie jedenfalls empfinden es so, und damit ist Putin bei weitem nicht alleine. Würden die Amerikaner russische Militärbasen in Venezuela oder Mexiko dulden? Als die Sowjets 1962 Raketen stationieren wollten auf Kuba, drohten die USA mit Weltkrieg. Warum sollen heute die Russen schlucken, was die Amerikaner niemals tolerieren? 

Jahrelang haben unsere Strategen das nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Man krallte sich stattdessen die Ukraine als Bollwerk gegen den wieder aufstrebenden Landkoloss des Ostens. Um das Publikum von den Vorgängen abzulenken, stilisierte man Putin zu einer Inkarnation des Bösen hoch, zum Erzschurken und Ersatzteufel, gegen den selbst dämonische Figuren wie Stalin oder Hitler fast verblassen. Unter den Gefühlsstürmen der Ukraine-Invasion verloren die Politiker vollends den Kopf. Jetzt ist Besinnung gefragt.

Noch kann das grösste Unheil abgewendet werden. Es muss nicht zum Weltenbrand kommen. Putin warnt. Er hätte ja auch einfach den Knopf drücken können. Lichtblick: Im Grunde ist dieser Krieg im Interesse von niemandem. Die Ukrainer wollen ihn nicht, weil er sie umbringt und ihr Land zerstört. Die Russen, selbst Putin, suchen den Exit. Dass sie sich heute mit den Chinesen, denen sie seit Jahrhunderten misstrauen, anfreunden müssen, geht gegen die Impulse ihrer Geschichte und ihres nationalen Wollens. 

Auch die Amerikaner haben sich doch komplett verkalkuliert. Die Falken in Washington wollen zwar nicht, dass Russland und Deutschland enger zusammengehen. Daran haben sie von jeher keinerlei Interesse, was aus ihrer Sicht sogar verständlich ist. Aber deswegen die gewaltigen Rohstofflager und Reservoire Russlands in die Arme Chinas zu treiben, ihres grössten geopolitischen Rivalen, ist eine Dummheit ersten Ranges. Alle wollen raus aus diesem tragischen Knäuel ihrer Irrtümer.

Wäre ich Friedrich Merz, würde ich nicht gut schlafen. Mit seiner Ankündigung, als Kanzler werde er den Taurus in die Ukraine liefern, stürzte er Deutschland, stürzte er Europa eingedenk der Putin-Rede fast mit Sicherheit in einen grossen Krieg. Die Mittelstreckenrakete «made in Germany» hätte mehr Reichweite als alle westlichen Waffen in der Ukraine. Zu ihrem Einsatz bräuchte es deutsche Spezialisten an der Front – ein Albtraum, den Schlafwandler Merz verwirklichen will.

Wahrscheinlicher und auch besser ist, dass sich der von Ehrgeiz, aber wenig Weisheit und politischem Gespür getriebene CDU-Chef mit seinem Taurus selber abschiesst. Bei der SPD haben sie gemerkt, dass eine Demontage von Scholz falsch wäre. Gegen diesen Herausforderer hat der schwer angeschlagene, führungsschwache Kanzler intakte Siegeschancen. Wenn die Deutschen jetzt noch nicht gemerkt haben, was es geschlagen hat, ist ihnen wirklich nicht mehr zu helfen.

Man sollte auf die Interessen schauen, aber man darf auch auf die Menschen hoffen. Wir sind nicht mehr vor dem Ersten Weltkrieg. Wohl gab es damals eine gewisse internationale Vernetzung, einen Handel, der grenzübergreifend die Nationen miteinander verband, am Ende aber zu schwach war, um die Irrationalität der Politik zu überwinden. Heute stehen die Völker den Verfügungen der Regierungen weniger ohnmächtig gegenüber. Das Netz der Zivilisationen ist fester gestrickt.

Natürlich schwingt in solchen Diagnosen Wunschdenken mit. Wann aber, wenn nicht jetzt, braucht es qualifizierte Zuversicht? Putin hat in Sotschi erklärt, die politische Lage verändere sich im Westen, «dies sei ein Naturgesetz». Die Leute sind unzufrieden mit der Richtung. Sie wenden sich von ihren Regierungen ab. Es gärt. Die Politiker, die das Unheil mit heraufbeschworen haben, drohen demnächst abgewählt zu werden. In den USA steht ein Präsident am Start, der mit Russland Frieden schliessen will. 

Russlands Staatschef macht auf mich den Eindruck eines Mannes, der das Schlimmste verhindern will. Für einen solchen Satz kann man heute als Journalist in Deutschland seinen Job verlieren. Das sagt im Grunde schon alles über den Zustand unserer Öffentlichkeit. Ein Selbstmörder ist Putin nicht. Bei Biden bin ich mir da nicht so sicher. Die Welt blickt in den Abgrund. Doch hoffen wir mit Hölderlin: «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.»