Das war keine Blut-Schweiss-und-Tränen-Rede, auch kein martialischer Appell zum letzten Gefecht, erst recht kein Sportpalast-Auftritt.

Noch während der fast zweistündigen Ansprache des russischen Präsidenten stiegen die Kurse an der Moskauer Börse – die Investoren hatten, vor allem nach dem Besuch des US-Amtskollegen in Kiew, eine aggressivere, gefährlichere Rede erwartet. Stattdessen erlebte das Publikum einen Präsidenten, der entspannter wirkte als in den zwölf Kriegsmonaten zuvor.

Schon zu Beginn der Veranstaltung herrschte eine aufgeräumte Atmosphäre im Saal. Im Narrativ der «strategischen Niederlage», die der Westen Russland angeblich beibringen will, findet das Land seinen Tritt. Von jeher anders, verkannt und unverstanden, von feindlichen Mächten umzingelt – die Eigenwahrnehmung als Objekt fremder Begierde wurzelt tief in der russischen Geschichte und Mentalität. Putin weckt diese kollektive DNA. Indem er seine eigenen Kriegsziele kaum noch erwähnt, suggeriert er, dass es vorrangig um Abwehr geht, um Verteidigung. Es ist die russische Paraderolle; in ihr hat das Land noch nie versagt. Die pro-europäische Epoche, 300 Jahre seit Zar Peter I., ist definitiv am Ende.

Das Dilemma des Westens liegt in der geopolitisch, rechtlich und moralisch legitimen Parteinahme für die Ukraine; sie zementiert die russische Täter-Opfer-Umkehr noch. Scham, Trauer und schlechtes Gewissen – im Widerstand gegen den übermächtigen Feind werden die eigenen Untaten irrelevant.

Der Präsident macht auch keinen Hehl daraus, was er von Landsleuten denkt, deren Geld, Villen und Jachten jetzt von westlichen Regierungen «geraubt» würden: selbst schuld. Der russische «kleine Mann» (die sogenannte Putin-Mehrheit seit 1999) habe dafür nur Verachtung übrig.