Bundeskanzler Walter Thurnherr verkündete heute Morgen in der ersten Sitzung nach den Ferien seinen Rücktritt. Dies berichten die Zeitungen von Tamedia. Eine Ersatzwahl wird am 13. Dezember notwendig sein, am gleichen Tag, an dem auch die Nachfolge von Alain Berset bestimmt wird.

Das ausführliche Weltwoche-Porträt des sogenannten «achten Bundesrats», wie Thurnherr genannt wird, können Sie hier nachlesen. Der Text von Katharina Fontana wurde am 18. Juni 2020 veröffentlicht. Die Redaktion.

«Zwar habe ich wie Albert Einstein die alte Kantonsschule Aarau besucht und bin wie er nachher theoretischer Physiker und dann Bundesbeamter geworden. Aber weshalb unsere Wege danach so grauenhaft weit auseinandergegangen sind, ist noch heute Gegenstand intensiver Gespräche zwischen mir und meinem Therapeuten.» Das nennt man kokettierendes Tiefstapeln. Denn Walter Thurnherr, der dies in einer seiner launigen Reden gesagt hat, kann zwar nicht mit dem Nobelpreis für Physik aufwarten, er zählt aber zu den einflussreichsten politischen Persönlichkeiten der Schweiz – immerhin.

 

Bern-untypische Eigenwilligkeit

 

Die letzten Wochen, als der Bundesrat das Land wegen der Corona-Pandemie im Alleingang regierte, waren auch für den Stabschef der Landesregierung ein Parforceritt. «Normalerweise gibt es pro Geschäft einen Vorlauf von rund drei Wochen. Von Mitte März bis Anfang Mai war das anders: Wir nahmen die Geschäfte bis Mitternacht entgegen, prüften und übersetzten sie, die Stäbe aller Departemente und der Bundeskanzlei schauten sich die Anträge an, schrieben Mitberichte und Stellungnahmen, und am anderen Morgen um 9 Uhr hat man entschieden», beschrieb Thurnherr den Ausnahmezustand in einem Interview mit dem Blick. Statt einer habe es fünf Bundesratssitzungen pro Woche gegeben, ein Teil der Bundesverwaltung habe rund um die Uhr gearbeitet. Es sei «bestimmt richtig, dass wir schnell wieder aus dem Notverordnungsmodus rauskommen».

Thurnherr sieht sich nicht als den «achten Bundesrat», wie er wiederholt klargemacht hat – eine Bezeichnung, die auf den Christlichdemokraten Karl Huber zurückgeht, der von 1968 bis 1981 Bundeskanzler war. Doch Parallelen sind offensichtlich. Mit Huber hat Thurnherr nicht nur die Parteizugehörigkeit gemein. Jener amtete vor der Wahl zum Bundeskanzler als Generalsekretär des Volkswirtschaftsdepartements und hatte sich dabei einen hervorragenden Ruf erworben. Thurnherr seinerseits war Generalsekretär in gerade drei Departementen und bewies in diesen Funktionen ebenfalls, wie talentiert er sich auf die Machtmechanik versteht. Und wie früher Huber, so sieht sich auch Thurnherr nicht als apolitischen Oberkanzlisten wie einige seiner Vorgänger und Vorgängerinnen, sondern er bringt sich zielstrebig in die Regierungspolitik ein und macht auch kein Geheimnis daraus.

So schreibt der Bundeskanzler regelmässig Mitberichte zu den Geschäften, die aus den sieben Departementen stammen, und er redet auch im Bundesratszimmer mit. Abstimmen darf er nicht, das ist Sache der sieben Bundesräte – doch wer braucht abzustimmen, wenn er schon im Vorfeld die Weichen in die gewünschte Richtung stellen konnte? Oder während der Diskussion die Anwesenden mit seinen Argumenten überzeugt?

Man kann den 56-jährigen Thurnherr mit Fug als Ausnahmeerscheinung innerhalb der Bundesverwaltung bezeichnen. Er ist ein aufgeräumter Kopf, er redet direkt und ungekünstelt, und er legt eine Eigenwilligkeit an den Tag, die für den Bundesberner Betrieb untypisch ist. Thurnherr stammt aus dem Aargauer Freiamt, er wuchs in Wohlen auf, in der Nähe von Doris Leuthard. Sohn einer sechsköpfigen Arbeiterfamilie, schlug er als Erster in der Familie den akademischen Weg ein, studierte Mathematik und Physik. Dem Rat seines Geschichtslehrers, Geschichte zu studieren, folgte er nicht, denn dies könne man sich selber beibringen.

 

Machtfülle und Netzwerk

 

Nach ein paar Jahren am Mathematischen Institut der Universität Bern stiess er zufällig – so jedenfalls schildert er es – auf ein Plakat, mit dem der Bund Kandidaten für den diplomatischen Dienst suchte. Er bewarb sich und wurde angenommen – ein Exot unter den Juristen und Historikern, aus denen sich das Diplomatencorps traditionell zusammensetzte. Mit Mitte zwanzig wurde Thurnherr im weltpolitisch höchst interessanten Jahr 1989 nach Moskau geschickt. Nach weiteren Auslandeinsätzen kam er 1997 in die Schweiz zurück, stieg zum Generalsekretär im Aussendepartement auf und zog im Laufe der Jahre über das Volkswirtschaftsdepartement ins Umwelt- und Verkehrsdepartement von Doris Leuthard, mit der er in ausgesprochen gutem Einvernehmen stand. Die CVP war für ihn als Aargauer aus dem Freiamt die logische Partei; laut einem Blindtest zu seinen politischen Präferenzen, so erzählte er der Weltwoche vor ein paar Jahren, wären auch noch die Grünliberalen in Frage gekommen. Seit zwanzig Jahren lebt der Aargauer mit seiner Familie in Sigriswil oberhalb des Thunersees.

Mächtige und einflussreiche Persönlichkeiten sind im Bundesberner Betrieb nicht nur gut gelitten. Auch Walter Thurnherr dürfte seine Neider haben, seine Machtfülle und sein Netzwerk werden nicht allen geheuer sein. Doch interessanterweise ist über ihn kaum etwas Negatives zu hören. Auch im Parlament kommt er hervorragend an: Bei seiner Wahl 2015 und der Wiederwahl 2019 erzielte er Glanzresultate und überflügelte stimmenmässig jeden der Bundesräte.

Als Chef wird Thurnherr als sehr bestimmend beschrieben, mit einer Tendenz zur Launenhaftigkeit. Er habe mitunter eine schnöde Art, mit den Leuten umzugehen. Er gilt als blitzgescheit, als Mann mit Witz, als einer, der schnell denkt, der aber auch handkehrum Leute, die nicht derartige Überflieger sind wie er und die mit seinem Tempo nicht Schritt halten können, vor den Kopf stösst. Wenn ihn ein Gesprächspartner langweile, heisst es, verberge er das nicht und fange auch schon mal an, mit seinem Handy zu hantieren, statt dem Gegenüber zuzuhören. Die Routinearbeit der Bundeskanzlei selber scheint Thurnherr nicht besonders zu interessieren. Auch hapert es weiterhin mit der seit langem anstehenden Modernisierung der Plattform der Amtlichen Veröffentlichungen des Bundesrechts – ein Projekt, für das die Bundeskanzlei verantwortlich ist und das wegen der Budgetüberschreitungen bereits die Finanzkontrolle auf den Plan gerufen hat.

Thurnherr macht kein Geheimnis daraus, dass er die Bundesverwaltung und ihr Personal mitunter zu verknöchert findet. Er selber sagte es in einem Gespräch mit der Journalistin Anna Maier so: «Ich finde Menschen attraktiv, die einen zum Lachen bringen, die eine gewisse Heiterkeit, eine Aufbruchsstimmung versprühen, Drive haben.» Ranzig werde er dagegen bei Mitarbeitern oder Ämtern, die ein Dossier blockierten und immer einen Grund erkennten, warum etwas nicht gehe. Da lasse er eine Situation auch schon mal eskalieren. Personalpolitik hält er für enorm wichtig, denn gute Chefs würden gute Leute nachziehen.

Dass er nicht nur Intelligenz besitzt, sondern auch Esprit, beweist der Bundeskanzler in seinen Reden, die gleichermassen gehaltvoll wie unterhaltsam-selbstironisch sind, ohne Plattitüden auskommen und in denen die breite Bildung des Redners elegant aufscheint. Spricht er über den Holocaust, zitiert er den italienischen Schriftsteller Primo Levi, hält er auf dem Rütli die 1.-August-Rede, kommt der Basler Historiker Herbert Lüthy zum Zug. Thurnherr ist ein grosser Fan von Gottfried Keller, er hat die Biografien der meisten US-Präsidenten gelesen und schätzt die angelsächsische Schule der Geschichtsschreibung. Regelmässig ruft er das Publikum – namentlich auch Journalisten – dazu auf, selber zu denken und sich dabei anzustrengen. Dass die Leute nicht einfach glauben sollen, was ihnen von den Obrigkeiten erzählt wird, sei wichtig und mache die Schweiz aus. Man dürfe den Bürgern durchaus etwas zumuten.

 

Ausbruch aus dem Politzirkus

 

Bei den sieben Bundesräten geniesst der Bundeskanzler sehr viel Prestige. Er ist die Anlaufstelle für jeden einzelnen von ihnen, er gibt Ratschläge zu Dossiers, die er selber aus seiner Zeit als Generalsekretär kennt, und zeigt, welches der cleverste Weg ist, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, Fallstricke zu vermeiden und, falls nötig, Kompromisse zu erzielen. Manchmal spielt er auch den Mediator, so etwa, als er zwischen Justizministerin Karin Keller-Sutter und Aussenminister Ignazio Cassis vermittelte, die sich wegen des Europadossiers in die Haare geraten waren und sich beim Bundeskanzler zum gemeinsamen Gespräch trafen. Das gelingt nur jemandem, der Charisma und Erfahrung hat und von dem man weiss, dass er über der Sache steht. In den Bundesratssitzungen äussere er nie politische Präferenzen, sagt Thurnherr selber. Er verstehe sich mit allen Bundesräten, tönt es aus seinem Umfeld, er ärgere sich abwechselnd einmal über die einen, einmal über die anderen.

Warum ist so ein Kaliber von Mann nicht Bundesrat, warum begnügt er sich damit, den sieben zuzudienen? Vor bald zwei Jahren, als der Sitz von Doris Leuthard frei wurde, war Thurnherr als möglicher Kandidat durchaus im Gespräch, und er wäre wohl der Wunschkandidat so einiger Parlamentarier gewesen – wenn auch nicht jener Köpfe aus der CVP, die sich selber auf diesem Posten sahen, der schliesslich Viola Amherd zufiel. Thurnherr wird sich ob so viel Anerkennung wohl geschmeichelt gefühlt haben, doch er versicherte stets glaubhaft, dass er lieber Bundeskanzler bleibe und kein Interesse habe, in die Landesregierung zu wechseln.

Man kann es verstehen: Thurnherr ist die graue Eminenz im Bundeshaus, einflussreich und meinungsbildend wie kein Zweiter. Gleichzeitig kann er es sich erlauben, hin und wieder aus dem «Affentheater», als das er das Bundeshaus auch schon bezeichnet hat, auszubrechen und in den Bergen herumzuwandern, was er liebend gerne tut. Zudem muss er sich als Bundeskanzler nicht dauernd selber in der Arena herumbalgen, sondern kann den Politzirkus vom Rand aus mitverfolgen. Man darf davon ausgehen, dass er dabei nicht selten Gelegenheit zum Lachen hat.