Die Schweizer Stimmberechtigten haben bei der Abstimmung vom 15. Mai 2022 der Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex, der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, zugestimmt. Der Beitrag der Schweiz wird von 24 Millionen Franken im Jahr 2021 bis 2027 auf schätzungsweise 61 Millionen Franken steigen. Ob die Frontex im Bereich der Küstenwache im Mittelmeer effizient arbeitet, ist entschieden zu verneinen. 114.500 Menschen sind im Jahr 2022 (von Januar bis Oktober) über das Mittelmeer in den Schengen-Raum eingedrungen. Und dieser Menschenstrom über das Mittelmeer reisst bis heute nicht ab. Die Ursache ist wenig bekannt, nämlich die verhängnisvolle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg (EGMR). Das Gericht fördert die ungehinderte Masseneinwanderung über das Mittelmeer.

Realitätsfremde Rechtsprechung

Nachdem die italienische Marine Boote auf dem Mittelmeer gestoppt und die Migranten nach Libyen zurückgebracht hatte, stellte der EGMR mit Urteil vom 23. Februar 2012 fest, dieses Vorgehen verstosse unter anderem gegen das in Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) niedergelegte Verbot der Kollektivausweisung. Durch die Schiffe der italienischen Küstenwache werde nach Ansicht des EGMR unmittelbar italienische Hoheitsgewalt ausgeübt, die grundsätzlich an die Gewährleistungen der EMRK gebunden sei.

Für die europäischen Konventionsstaaten hat dieses Urteil folgende Auswirkung: Im Einklang mit der EMRK müssen sie alle auf See aufgebrachten Migranten in einen Konventionsstaat transportieren, um dort ein ordnungsgemässes aufenthalts- oder asylrechtliches Verfahren durchzuführen. Dass die Migranten seeuntaugliche Boote für die Überfahrt von der nordafrikanischen Küste nach Europa benützen, wodurch diese selbstverschuldete Seenot sich in eine Chance auf eine illegale voraussetzungslose (visumlose) Einreise in Europa verwandelt, kümmerte das Gericht nicht.

Wird die Rechtsprechung nicht der Realität angepasst, bleibt nur die Kündigung der EMRK übrig.

Das Gericht kümmerte es auch nicht, dass das Vorgehen der italienischen Marine geeignet war, unzählige Migranten vor einer potenziell tödlichen Seereise zu bewahren. Die Frage der illegalen Masseneinwanderung im Zusammenhang mit den beschränkten Ressourcen der Konventionsstaaten, zu denen auch die Schweiz gehört, müsste aber in der Rechtsprechung des EGMR zwingend berücksichtigt werden. Alles andere ist eine realitätsfremde Rechtsprechung zu Lasten der Bevölkerung der Konventionsstaaten.

Aus dem internationalen Seerecht lässt sich die Rechtsprechung des EGMR jedenfalls nicht ableiten. Die International Convention for the Safety of Life at Sea (Solas) richtet sich nur an den jeweiligen Kapitän und begründet keine Verpflichtungen für den Küstenstaat, Rettungsaktionen durchzuführen. Die Search and Rescue Convention (SAR) soll sicherstellen, dass unabhängig davon, wo ein Schiff in Not gerät, die Rettung durch eine SAR-Operation koordiniert wird. Weder das Uno-Seerechtsübereinkommen (SRÜ) noch das SAR beinhalten eine Verpflichtung der Küstenstaaten, präventive Seenotrettungsmassnahmen vorzunehmen.

Im Weiteren lässt sich weder aus dem SRÜ noch aus dem Solas oder dem SAR ein Hafenzugangsrecht (Nothafenrecht) ableiten. Hinzu kommt, dass die Vorschriften des SRÜ nicht self-executing sind; sie bedürfen einer nationalrechtlichen Umsetzung. Somit können die Küstenstaaten den Zugang verweigern, wenn keine Notlage vorliegt. Zu beachten ist, dass bei einer Bedrohung des Küstenstaates oder einer selbstverschuldeten Notlage der Zugang zum Hafen verweigert werden kann. Die massenhafte illegale Einwanderung ist klarerweise als Bedrohung zu qualifizieren, ist sie doch geeignet, unerwünschte Auswirkungen auf jede Gesellschaft zu entfalten.

Europäischer Sonderweg

Die Parlamente und Regierungen der europäischen Demokratien haben ihr politisches Primat im Ausländerrecht zugunsten weitreichender Zuständigkeiten des EGMR preisgegeben. Der Vergleich mit der Praxis aussereuropäischer Demokratien von den USA und Kanada über Japan und Australien verdeutlicht, dass die europäischen Staaten sich damit rechtspolitisch in eine gefährliche Sackgasse begaben; die oben aufgeführten Länder sind hingegen zu Recht nicht gewillt, ihre Gesetzgebung im Einwanderungsrecht der Beurteilung internationaler Gerichtshöfe zu unterwerfen.

Die Vertragsstaaten der EMRK könnten sich über eine realistische Auslegung und Anwendung der Konventionsbestimmung verständigen: Tatsächlich sieht Artikel 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention Vereinbarungen über die Anwendung von vertraglichen Bestimmungen vor. Vielleicht wäre eine derartige Vereinbarung für den EGMR zumindest ein Fingerzeig, über eine realistische Auslegung der Konvention nachzudenken. Falls der EGMR seine Rechtsprechung nicht der Realität anpassen will, bleibt den Vertragsstaaten nur die Kündigung der EMRK übrig, wenn sie nicht von der neuen Völkerwanderung überrollt werden wollen.

Fulvio Haefeli war von 2007 bis 2022 Richter am Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen.