Polen hat bereits 2,5 Millionen ukrainische Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Viele von ihnen wohnen nun bei polnischen Familien und essen gemeinsam mit ihren Gastgebern am selben Tisch. Dabei ist das gar nicht selbstverständlich, denn die polnisch-ukrainischen Beziehungen waren schwer belastet. Inmitten des Zweiten Weltkriegs verübten die Ukrainer 1943 einen brutalen Genozid an der polnischen Bevölkerung.

1943 litt die polnische Bevölkerung sowohl unter der deutschen als auch unter der sowjetischen Besatzung. Zivilisten wurden willkürlich ermordet, Frauen vergewaltigt, Kinder zu schwerer Arbeit gezwungen oder von ihren Eltern geraubt. Die Grauen waren unvorstellbar. Und obwohl das schier unglaublich schien, traf es die Bewohner von Kleinpolen und Wolhynien im Süden Polens vier Jahre nach Kriegsbeginn noch schlimmer. Es kam zu einem schrecklichen Völkermord an der polnischen Bevölkerung. Die Täter waren Ukrainer.

Die Massaker von Wolhynien und Ostgalizien sitzen bis heute tief im polnischen Bewusstsein. Ukrainische Nationalisten gingen im Sommer 1943 systematisch gegen alle Polen vor, es handelte sich um einen präzis geplanten Völkermord. Federführend war die sogenannte Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die von zahlreichen ukrainischen Zivilisten unterstützt wurde. Besonders schrecklich war die Brutalität dieses Genozids: Die polnischen Opfer wurden durch Axthiebe entzweit, mit Sensen bei lebendigem Leibe gehäutet, von Hunden zerfleischt. Auch Kinder durften keine Gnade erwarten, selbst Säuglingen wurden die Köpfe an Holzmasten oder Hauswänden zerschlagen.

Bis an die 130.000 Polen wurden im Sommer 1943 von Ukrainern ermordet, in manchen Ortschaften überlebten nur 10 Prozent der Bewohner.

Nach Kriegsende wurde die Ukraine Teil der Sowjetunion und Polen ein Satellitenstaat Moskaus, sodass Wolyn offiziell kein Thema war. Auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Ukraine nicht gewillt, offiziell Verantwortung für diesen Völkermord zu übernehmen, und bis heute leugnen zahlreiche ukrainische Historiker das Ausmass dieses Verbrechens. Deswegen war Wolyn auch in politischer Dimension ein grosses Hindernis im polnisch-ukrainischen Austausch.

Obwohl Wolyn heute für jeden Polen einen schmerzlichen Begriff darstellt, ist er momentan in der öffentlichen Debatte nicht vorhanden. Es war jedem klar, dass es nun gilt, das christliche Gebot der Nächstenliebe in die Tat umzusetzen und den Nachbarn zu helfen. Wir dürfen nicht vergessen, aber wir müssen vergeben, sobald sich auch die ukrainische Seite dafür bereit zeigt. Und diese Bereitschaft wird reifen, da beide Nationen nun ein prägendes Ereignis eint, in dem beide Seiten eine positive Rolle spielen.

So tragisch dieser Krieg ist: Er bietet eine Möglichkeit, dass Polen und die Ukraine 79 Jahre nach Wolyn wieder zueinander finden und ihre Beziehungen auf ein neues Fundament stellen. «Die Geschichte zeigt uns, dass wir in Polen einen liebevollen Bruder haben. Wir werden niemals aufhören, für die Hilfe zu danken, die aus den Herzen der Polen zu uns fliesst», sagte neulich beispielsweise der ukrainische Botschafter in Warschau Andrii Deshchytsia.

Der Weg wird nicht einfach sein. Aber er ist nun zumindest möglich. Und auf dieses Zeichen der Hoffnung gilt es in diesen schwierigen Zeiten zu setzen.