Dieser Text erschien zuerst auf dem Onlineportal Nachdenkseiten.

Eineinhalb Jahre ist es nun her, dass beide Stränge der Gaspipeline Nord Stream 1 und ein Strang der nie in Betrieb genommenen neueren Gaspipeline Nord Stream 2 in den Gewässern vor Bornholm gesprengt wurden. Während der Starjournalist Seymour Hersh und viele andere davon ausgehen, dass die Pipelines von den USA gesprengt wurden, gehen die offiziellen Ermittlungen von einer Sprengung durch nichtstaatliche ukrainische Terroristen aus. China will sich damit nicht zufriedengeben und forderte in der letzten Woche im UN-Sicherheitsrat Untersuchungen unter Führung der UN. Argumentative Unterstützung bekommt China aus einer unerwarteten Ecke. Die beiden britischen Versicherer Lloyd’s of London und Arch weigern sich, für den Schaden zu zahlen, und haben vor wenigen Tagen ein Dokument vor einem Londoner Gericht eingereicht, in dem sie einen staatlichen Akteur für die Sprengung verantwortlich machen und darauf verweisen, dass die Versicherung der Pipeline für Kriegsschäden nicht haftet.

Im Februar 2023 debattierte der UN-Sicherheitsrat schon einmal über die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines. Russland, China und Brasilien forderten damals eine Untersuchung des Anschlags durch die UN. Die USA und die Europäer lehnten dies mit der Begründung ab, dass die laufenden Untersuchungen der Anrainerstaaten Deutschland, Dänemark und Schweden bereits ausreichend seien und bald zu abschliessenden Ergebnissen kommen würden. Die Untersuchungen durch Dänemark und Schweden sind bereits abgeschlossen und kamen zu keinem Ergebnis. Die deutschen Untersuchungen laufen noch, haben sich jedoch auf die unwahrscheinliche Arbeitshypothese festgelegt, dass die Pipeline durch ein paar ukrainische Hobbytaucher von Bord eines Segelschiffs aus gesprengt wurde und es weder einen staatlichen Auftraggeber noch eine Mittäterschaft von staatlichen Akteuren gab.

Diesen Ergebnisstand finden die Chinesen «enttäuschend». Man könne «keine konkreten Fortschritte [bei den Ermittlungen] erkennen», so der stellvertretende chinesische UN-Botschafter Gen Shuang am Freitag im UN-Sicherheitsrat. «In dieser Situation kann man nur vermuten», so Shuang, «dass sich hinter dem Widerstand gegen eine internationale Untersuchung eine versteckte Absicht verbirgt, während man gleichzeitig die mögliche Vertuschung und den Verlust einer grossen Menge zwingender Beweise beklagt.» China fordere «die betroffenen Länder auf, aktiv mit Russland zu kommunizieren und mit diesem bei der gemeinsamen Untersuchung zusammenzuarbeiten» und hoffe, «dass eine baldige Einigung über den Entwurf erzielt werden kann, so dass der Rat sich so bald wie möglich zu diesem Thema äussern kann».

Konkrete Folgen wird der chinesische Vorstoss jedoch wahrscheinlich nicht haben, da es bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat neun Stimmen für einen Antrag auf die Aufnahme eigener Ermittlungen durch die UN brauchte, von den fünfzehn Mitgliedern vier Staaten Mitglieder der Nato sind und mit Malta, Japan und Südkorea drei weitere enge Verbündete der Nato im Gremium sitzen.

Sehr konkrete Folgen wird jedoch ein Richterspruch des Handelsgerichts des britischen High Court of Justice haben. Dort reichte vor rund einem Monat die im schweizerischen Zug ansässige Nord Stream AG eine Klage gegen die beiden britischen Versicherungskonzerne Lloyd’s of London und Arch ein. Die beiden Konzerne gehören zu den Versicherern der Nord-Stream-1-Pipeline – der Versicherungsschutz für Nord Stream 2 durch westliche Versicherer musste nach der Androhung von Sanktionen durch die USA im Jahr 2021 gestoppt werden, für Nord Stream 1 galten diese Sanktionen jedoch nicht. Die Nord Stream AG beziffert den versicherten Schaden in ihrer Klage auf 400 Millionen US-Dollar, Lloyd’s und Arch weigerten sich bislang jedoch, zu zahlen.

In ihrer Antwortschrift zur Nord-Stream-Klage, die mittlerweile auch öffentlich vorliegt, verweisen die Versicherer darauf, dass der Versicherungsvertrag mit Nord Stream Kriegsschäden ausdrücklich ausschliesse. Solche «Kriegsklauseln» sind übrigens bei privaten Versicherungen vollkommen normal, die Definition, was ein Kriegsschaden ist und was nicht, ist jedoch strittig. Lloyd’s und Arch verweisen darauf, dass die Sprengung von Nord Stream 1 «nur – oder mit hoher Wahrscheinlichkeit – von einer Regierung oder auf deren Befehl hin verursacht werden konnte». Dies stehe in direktem Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und sei demnach ein kriegerischer und kein terroristischer Akt; gegen Letzteren wäre die Pipeline sehr wohl versichert.

Diese Argumentation ist vor allem in dem Punkt interessant, dass die beiden britischen Versicherungskonzerne damit der von deutschen und amerikanischen Medien mit Nachdruck vertretenen Hypothese widersprechen, nach der die beiden Pipelines von ukrainischen Terroristen ohne Auftrag und ohne Mithilfe eines staatlichen Akteurs gesprengt worden wären. Dies wäre nämlich aus versicherungsrechtlicher Sicht ein Terrorakt, bei dem die Versicherung für den Schaden aufkommen müsste. Folgt man jedoch der Hersh-Version, wäre die Sprengung ein von einem oder mehreren Staaten verursachter Schaden, für den die Kriegsklausel-Regelung gelten und die Versicherer aus der Haftung befreien würde. Spitzfindig könnte man sogar argumentieren, dass Lloyd’s und Arch den USA damit unterstellen, einen kriegerischen Akt gegen Russland begangen zu haben.

Darüber muss nun der High Court of Justice entscheiden, und das Urteil wird – egal, wie es ausfällt – ein weiteres Politikum. Folgt der Gerichtshof den Argumenten von Lloyd’s und Arch, führt er höchstrichterlich die offiziellen Arbeitshypothesen der deutschen Ermittler ad absurdum und bringt den Westen auch international in eine prekäre Lage, da unter anderem die britische Regierung dann vor dem UN-Sicherheitsrat Ermittlungen verteidigen müsste, die der eigene Gerichtshof für unplausibel hält. Gibt der High Court of Justice hingegen der Nord Stream AG recht, bringt er die britischen Versicherer Lloyd’s und Arch in eine prekäre Lage, da sie zwar schadensersatzpflichtig wären, die Zahlung der Versicherungssumme jedoch durch die jüngeren Sanktionen nicht zulässig wäre. Russland ist Mitglied der Welthandelsorganisation WTO und würde in diesem Fall sicherlich Grossbritannien vor der WTO verklagen, da es durch seine Sanktionen die Zahlung von Ansprüchen verhindert, die ein eigenes Gericht in einem Urteil bestätigt hat.

Auch für die Bundesregierung hätte dies politische Folgen, da sowohl die Bundesrepublik selbst als auch zahlreiche deutsche Firmen in einem solchen Fall Ansprüche an ihre Versicherungen geltend machen könnten. An Nord Stream 1 waren beispielsweise auch die deutschen Konzerne E.ON und Wintershall DEA beteiligt, auch wenn sie ihre Anteile mittlerweile abgeschrieben haben. Wenn diese Konzerne einen überzeugenden Rechtsanspruch an die Versicherungen haben und ihn aus politischen Gründen nicht geltend machen, würde dies den Tatbestand der Untreue gegenüber den Aktionären erfüllen.

Interessant ist auch, dass die Nord Stream AG Nord Stream 1 nicht nur bei Lloyd’s und Arch, sondern auch bei anderen Versicherungen – darunter den deutschen Konzernen Munich Re und Allianz – versichert hat. Es ist unklar, ob das Londoner Urteil den Weg auch für Ansprüche gegen diese Konzerne frei machen würde, und es ist ebenfalls unklar, bei wem sich Lloyd’s und Arch selbst bei diesem Geschäft abgesichert haben. Es ist durchaus üblich, dass einzelne Versicherer solche Grossprojekte bei Rückversicherern absichern – hier kämen aus Deutschland die beiden Branchengrössen Munich Re und Hannover Rück in Frage. Während es im aktuellen Verfahren vor dem High Court erst einmal «nur» um 400 Millionen US-Dollar geht, wird der Gesamtschaden von den Versicherern auf 1,2 bis 1,35 Milliarden US-Dollar beziffert. Und auch das dürfte nicht die volle Schadenssumme sein, hat der Bau von Nord Stream 1 doch einst ganze 7,8 Milliarden Euro gekostet, und es klingt nicht eben wahrscheinlich, dass der Betreiber die Pipeline derart massiv unterversichert hat. Unklar ist zudem, ob die US-Sanktionsandrohungen für Nord Stream 2 wirklich von sämtlichen Versicherern befolgt worden. Auch hier drohen milliardenschwere Klagen. Nord Stream 2 hat 7,5 Milliarden Euro gekostet.

Auch wenn die westliche Politik gerne möglichst schnell Gras über die Sache wachsen lassen und ebenso wie die Medien die gesamte Thematik am liebsten totschweigen würde, wird – so viel ist jetzt schon klar – die Sprengung noch einige Gerichte beschäftigen. Und ob diese ebenso leichtgläubig wie die deutschen Medien der offiziellen Arbeitshypothese folgen werden, ist unwahrscheinlich. Es bleibt also spannend.

Jens Berger ist freier Journalist und Chefredaktor der Nachdenkseiten. Er publizierte mehrere Sachbücher, darunter «Der Kick des Geldes» (Westend, 2015) und der Spiegel-Bestseller «Wem gehört Deutschland?» (Westend, 2014).