Oscar Wilde: Werke in drei Bänden. Nikol. 2304 S., Fr. 45.90

In Paris regnet es. Der Friedhof Père Lachaise liegt leer und gräulich da, Besucher in bunten Regenjacken gehen den Parcours mit Gräbern berühmter Menschen ab: Edith Piaf, Frédéric Chopin, Jim Morrison, Simone Signoret, weitere Sänger und Schauspieler, berühmte Staatsmänner.

Das Grab von Allan Kardec, der im späten 19. Jahrhundert den Spiritismus begründete, ist überhäuft mit Blumen; in übergrossen Kübeln stecken speckig glänzende Blütenblätter wahlloser Baumarktassortimente, Geranien und Petunien. Am Grab stehen betende Frauen, eine wiegt ihren Oberkörper sachte vor und zurück und murmelt etwas. Hinter ihr stehen weitere Frauen Schlange, um vor der auf dem Grab aufgestellten Büste Kardecs ein paar Worte oder Blumen loszuwerden.

Zwei Wegspuren weiter liegt das Grab Oscar Wildes. Niemand sucht hier spiritistischen Halt, die Grabstelle ist leer, kein Besucher verweilt vor dem eindrücklichen, vom Künstler Jacob Epstein 1908 fein gemeisselten Grabstein: ein nackter Sphinx mit assyrischem Löwenblick, der mit zurückgenommenen Armen gegen den Wind anzufliegen scheint. Die Grabstelle ist umfasst von einer Plexiglaswand. Auf dem Boden liegen keine Blumen, sondern achtlos dahingeworfenes Gerümpel: eine angelaufene Plastikblüte, Zigarettenkippen, zwei, drei Metrotickets, zusammengeknüllte Papierbälle.

Auf dem Weg zur Grabstelle des Schriftstellers Oscar Wilde sitzt ein Mann in knirschendem Anorak auf der unteren Stufe einer Treppe. In der Nähe liegen die Gräber französischer Staatsgrössen. Schäkernd-schelmisch fragt der Anorak-Mann eine Passantin, die offensichtlich auf der Suche nach etwas ist:

«Verehrte Frau, kann ich Ihnen helfen? Ich kenne hier einfach alles.»

«Ich suche Oscar Wilde.»

«Oscar Wilde? Sie wissen wohl, wer das ist!»

«Natürlich.»

«Also, nichts kann Sie schockieren?»

«Nicht wirklich.»

«Das war ein Pädophiler!»

«Ich liebe seine Literatur.»

«Das kann man doch nicht trennen!»

Die Gleichsetzung von Künstler und Werk spiegelt die naiven Stereotype einer moralisierenden Prüderie.

Bis vor ein paar Jahren war Wildes Grab frivol und glamourös. Auf dem hellen Stein prangten Lippenstift-Kussmünder in allen Schattierungen von Rot und Rosa, vorne, an den Seiten, hinten, nur nicht auf der Sphinx. Vor dem Grab lagen Lilien, Wildes liebste Blumen. Nun das grosse, sterile Nichts. Die vage und nicht weiter spezifizierte Begründung der Friedhofsverwaltung: Grabschändung.

Deckmantel besonderer Feinfühligkeit

Die Gleichsetzung von Künstler und Werk, die der Friedhofsbesucher im Anorak nonchalant vornahm, spiegelt die naiven Stereotype einer moralisierenden Prüderie, in deren Klauen sich Gegenwart und Geisteswissenschaften schon länger winden. Noch trauriger ist es allerdings, wenn Ahnungslosigkeit und die mit ihr einhergehenden Vorurteile unter dem Deckmantel einer besonderen Feinfühligkeit (auch «Wokeness» genannt) gegenüber Rassismus, Chauvinismus, Patriarchalismus, Sexismus, Antifeminismus die Debatte um Kunst diktieren.

Oscar Wilde, 1854 in Dublin geboren, war ein komplexer Schriftsteller; seine äussere Erscheinung schien ihm wichtiger zu sein als sein literarisches Werk. Er war ein Dandy, Katholik, Homosexueller und in den Augen seines Biografen Richard Ellman ein tragischer Held, der, wie die Helden der Antike, das Leid ebenso suchte wie die unbedingte Ästhetik. Die Mutter war Schriftstellerin, der Vater Arzt. Zum Studium ging Wilde nach Oxford, dann nach London, wurde Autor «unmoralischer», antibürgerlicher Schriften. Berühmt wurde er als provokanter Ästhet und Alter Ego des «Bildnisses des Dorian Gray» – der Roman war sein schriftstellerischer Durchbruch. Die Tragödie «Salomé», die er für die Schauspielerin Sarah Bernhardt geschrieben hatte und die von Richard Strauss vertont wurde, durfte in England bis in die frühen 1930er Jahre nicht aufgeführt werden. 1898 erschien «Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading», eine Polemik auf die schlechten Bedingungen des Gefängnislebens und das Leben an sich, die letzte und aus philosophischer Sicht wahrscheinlich bedeutendste Schrift, die Wilde zu Lebzeiten veröffentlichte.

1895 wurde Wilde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er homosexuell war und vier Jahre zuvor, selbst verheiratet und Vater von zwei Kindern, ein Verhältnis mit dem gutaussehenden, egomanischen 21-jährigen «Bosie» (Lord Alfred Douglas) begonnen hatte. Dessen Vater klagte Wilde wegen Sodomie an. Aus Reading schrieb er an Bosie einen Liebesbrief, der zu den schönsten der Literaturgeschichte gehört. Als Wilde Reading verliess, ging er nach Paris. Zerbrochener Mann, zerbrochene Seele. Seine Kinder sah er nie wieder. Er lebte noch zwei Jahre, umgeben von wenigen Freunden.

Auf seinem Grabstein steht ein Zitat aus der «Ballade vom Zuchthaus zu Reading»: «And alien tears will fill for him / Pity’s long-broken urn, / For his mourner will be outcast men, / And outcasts always mourn.» (Des Mitleids gesprungene Urne sind / Fremde Tränen zu füllen bereit, / Denn die ihn betrauern – Geächtete sinds, / Und Geächtete trauern allzeit.)

Oscar Wilde ist, wie so viele Künstler, ein damals wie heute fälschlich überführter «Straftäter»; seinen Texten und seinem Wesen hat das keinen Abbruch getan. Wilde liebte Griechenland und Lilien auf dem Nachtisch. Syphilis-Medizin hatte ihm die Zähne schwarz gefärbt, so dass er auf Bildern nie mit offenen Lippen lächelte. Er verehrte die Schönheit, die er weder weiblich noch männlich konnotiert sah, sondern als intuitive Ausgewogenheit der Form im Verhältnis zu Licht, Wetter, Stimmung und Geruch. Wilde war dekadent, kleidete sich passend zu Interieurs, Tapeten, Teppichen, nonchalant wie ein übergeworfenes Seidencape.

Trauer um Oscar Wilde ist nicht woke, es ist Trauer um eine Zeit, auf die sich nur noch aus der Position des diskursiven Aussenseiters blicken lässt. An einem Abend, erinnerte sich ein französischer Schriftsteller, sass Wilde allein draussen an einem Cafétisch in Paris. Regen fiel auf ihn, er schien es nicht zu merken.