Kristin Hannah: Die Frauen jenseits des Flusses. Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh. Rütten & Loening. 542 S., Fr. 33.90

Frankie, der Vater der angehenden Krankenschwester Frances McGrath, hat eine tolle Fotowand in seinem Büro: seine Familiengeschichte. Doch es sind lauter Helden zu sehen, ausschliesslich Männer, keine Frauen. «Gerahmte Fotos, zum Teil Erbstücke von Moms Eltern und sogar ein paar Bilder, die Dad aus Irland mitgebracht hatte, etwa das Foto von Urgrossvater McGrath in Soldatenuniform, wie er vor der Kamera salutiert. […] Das Hochzeitsfoto ihrer Eltern war zwischen Alexanders ‹Purple Heart›, einer Verwundetenauszeichnung, und einem Zeitungsausschnitt platziert, der schilderte, wie das Schiff seiner Truppe bei Kriegsende in den Hafen einfuhr. Von ihrem Vater gab es keine Bilder in Uniform. Er war dienstuntauglich erklärt worden …»

Frankies Sohn Finley zieht in den Vietnamkrieg. Er kommt dort um. Seine Schwester Frances, die Krankenpflegerin werden soll, reist ihrem geliebten Bruder 1965 aus dem kalifornischen Coronado Island um die halbe Welt nach. Sie will herausfinden, wie er zu Tode gekommen ist. Auf der langen Reise findet sie treue Freundinnen und auch Liebhaber, aber mit denen geht es eher schief.

Sie hat das Talent, private Geschichten mit Weltgeschichte zu verknüpfen.

Die 1962 geborene Autorin Kristin Hannah war ursprünglich Anwältin. In den letzten dreissig Jahren hat sie mehr als zwanzig dicke Bücher geschrieben, von denen viele Weltbestseller geworden sind. Zum Beispiel «Die Nachtigall» über die Schwestern Vianne und Isabelle, die im besetzten Frankreich überleben wollen. Hannah ist unglaublich produktiv. Ihr idealer Arbeitstag beginnt mit einem Morgenlauf an der kalifornischen Küste. «Ich brauche beim Schreiben das Rauschen der Wellen im Ohr.»

 

Auf den Spuren der Veteraninnen

Kristin Hannah hat das Talent, private Geschichten mit Weltgeschichte zu verknüpfen. Und sie hat ein überwältigendes musikalisches Gedächtnis. Sie folgt ihren Protagonistinnen – und auch ein paar Männern – buchstäblich auf den Fersen, hautnah. Ihr neustes Werk handelt von den Frauen, die auf amerikanischer Seite im Vietnamkrieg gekämpft haben. Zurück in Amerika, müssen die Veteraninnen erfahren, dass sie als solche nie wirklich ernst genommen wurden, ja, dass es sie im öffentlichen Bewusstsein gar nicht gegeben hat. Das militärische, das männliche Amerika hat die Kameradinnen ausgeblendet, die als Krankenschwestern anfingen und von denen manche auch Kampfpilotinnen wurden. Dabei waren es deren 265.000, wie die kämpferische Offizierin und Historikerin Wilma Vaught herausfand.

Seit zwanzig Jahren gibt es in Washington, DC, eine Gedenkstätte für diese Frauen, die anfänglich nicht einmal Waffen zur Selbstverteidigung tragen durften. Kristin Hannah verfolgt die Spuren der Veteraninnen: ihre grauenhaften Abstürze ins Alkohol- und Drogenelend. Sie wissen nicht mehr weiter, die Gesellschaft lässt viele von ihnen krepieren. Als Nixon 1973 das Friedensabkommen unterzeichnet, hat er kein Wort für sie übrig.

Kristin Hannahs fulminantes Lebensthema ist die Verknüpfung von persönlichen Schicksalen mit geschichtlichen Ereignissen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Die hierzulande kaum bekannte, in den USA aber mit Auszeichnungen überhäufte Autorin tanzt sicher und anmutig zwischen E und U, dem Ernsthaften und dem Unterhaltenden – ein Unterschied, der in der deutschen Literatur todernst genommen wird und in der angelsächsischen kaum eine Rolle spielt. Kristin Hannah bricht zeitgeschichtliche Komplexität auf die menschliche – in diesem Buch vor allem auf die weibliche – Ebene herunter und stellt durch ihren emotionalen, rasanten Erzählstil Verständlichkeit und Verständnis her. Sie erinnert mich auch an die alte Weisheit: Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verurteilt, sie noch einmal zu erleben.