Marcus Tullius Cicero, 106 bis 43 vor Christus, ist in seinen jungen Jahren ein Wunderkind, die Väter der Mitschüler kommen extra in die Klasse, ihn zu erleben und zu bestaunen. Der erwachsene Cicero prozessiert sich zu Roms berühmtestem Advokaten hoch. Geht in die Politik und hält auch auf diesem Feld Reden, die schärfer schneiden als manches Schwert. Erkämpft sich 63 das oberste Amt der römischen Republik und zerschlägt als Konsul die Verschwörung des düsteren Adelsputschisten Catilina. Caesar und andere Grosse umwerben Cicero, wollen ihn, brauchen ihn, bewundern ihn, hassen ihn. Und er lässt sich auf das Machtspiel ein, um schliesslich unterzugehen wie die Republik, für die er sich stark gemacht hat.

Ein beeindruckendes Curriculum Vitae. Vor allem, weil Cicero, übrigens auch ein leidenschaftlicher Philosoph, beflissener Epistelschreiber und genialer Sprachstilist, seine Karriere ohne den Geburtsvorteil althergebrachter Nobilität schafft. Sein Vater ist nur ein «eques», einer aus dem zweithöchsten, dem ritterlichen Stand, der so heisst, weil dessen Angehörige kriegstaugliche Pferde stellen können. Zu einem höheren Staatsamt bringt es einer, der nach Stall riecht, selten. Der elterliche Gutshof steht auch nur in Arpinum, hundert Kilometer südöstlich Roms; die wirklich Mächtigen im Staate entstammen dem Ur-Adel der Kapitale und verachten alle Plebejer und Provinzler. Auch jenen Streber, dessen Name von «cicer» gleich «Kichererbse» kommt (ein Vorfahr hatte eine Warze auf der Nase). Doch der Verspottete setzt sich durch gegen alle Widrigkeiten und Widerstände; die einzigartige Ambitioniertheit des «homo novus» mag illustrieren, dass er sich, unter Einsatz aller erlaubten und weniger erlaubten Mittel, jedes Amt «suo anno» holt, im gesetzlichen Mindestalter also.

Begnadeter Stilist bis in den Tod

Cicero, «a man in full». Eine Saftwurzel. Dazu passt sein brutales Ende. Als Caesar, Diktator auf Lebenszeit, 44 in der Senatssitzung erdolcht wird und der Kampf um die Nachfolge sich anbahnt, setzt der republikanisch gesinnte Anwalt auf den Falschen. Nämlich auf den jungen Octavian, den er zum Krieg gegen Marc Anton anstachelt. Fatal, dass Octavian (der spätere Kaiser Augustus) mit Marc Anton zu einer provisorischen Einigung kommt. Marcus Tullius Cicero wird, samt dem jüngeren Bruder Quintus Tullius, auf die Todesliste gesetzt. Am 7. Dezember 43 rückt die letzte Stunde heran. Zaudernd nur hat Cicero seine Flucht eingeleitet. Bei Formiae an der Küste stellen die Häscher seine Sänfte. Die Sklaven wollen ihren Herrn verteidigen, doch der verbietet es. Nunmehr ganz Stoiker und begnadeter Stilist seiner selbst, beugt er sich aus der Sänfte und empfängt den tödlichen Streich.

Rom zerbricht am Erfolg

Kopf und Hände der Leiche lässt Marc Anton auf der Rednertribüne des Forums zu Rom ausstellen. Es schweigt nun der Mund, aus dem ihm Schmach zuteilgeworden, es ruhen die Hände, die ihn als Gefahr für die «res publica» bezeichnet haben. Denn in seinen letzten anderthalb Lebensjahren ist Cicero, der so oft zwischen den Fronten lavierte, ein Kampfredner mit glasklarem Programm. Da Caesar beseitigt ist, hegt er die Hoffnung, man könne die Republik wiederherstellen. Deswegen attackiert er öffentlich den neuen starken Mann Marc Anton – und zieht redend alle Register: «Du mit deinem Riesenschlund, deinem Leibesumfang und deiner ganzen robusten Gladiatorenfigur hattest auf der Hochzeit des Hippias so viel Wein ausgesoffen, dass du am Tag darauf vor den Augen des römischen Volkes kotzen musstest!» Und weiter, nun direkt ans feixende Publikum gerichtet: «Bei der Ausübung seiner Amtspflichten, als Befehlshaber, übergibt sich dieser Mensch und spuckt seinen Schoss und das ganze Tribunal voll mit weinstinkenden Essensbrocken.»

Der englische Bestsellerautor Robert Harris, ein Spezialist der exakt auf den vorhandenen Fakten aufbauenden Geschichtsfiktion («Fatherland»), nimmt Ciceros Leben jetzt zum Anlass eines Spannungsromans. In «Imperium» macht Harris anhand seines Protagonisten plastisch, weshalb die römische Republik, die sich bereits von Spanien bis in die heutige Türkei spannt, in jenen turbulenten Jahren zerbricht: Ihre Triumphe bewirken ihren Untergang. Cicero-Biograf Manfred Fuhrmann hat Roms Problem mit der eigenen Expansion so formuliert: «Die Kette der römischen Erfolge wirkte indes in starkem Masse negativ auf die inneren Verhältnisse, auf die Struktur der Gesellschaft und schliesslich, zu Lebzeiten Ciceros, auch auf deren institutionellen Ausdruck, die Verfassung, zurück.»

Die Spannungen im Staat nehmen zu. Da sind die Bauern, die aufgrund des permanenten Kriegsdienstes ihre Höfe verloren haben. Da sind die italischen Bundesgenossen, die die gleichen Lasten wie die römischen Bürger tragen, beim Profit aber das Nachsehen haben. Da sind – eine reale Gefahr – die Sklavenhorden, die wie Tiere auf den Latifundien schuften. Und da sind die Adeligen der Oberschicht, die die Erträge aus den eroberten Gebieten monopolisieren wollen. Der Reichtum weckt Begehrlichkeiten. Drei Ehrgeizlinge, allesamt siegreiche Feldherrn, wollen um jeden Preis die totale Gewalt: Caesar, der Vollblutpatrizier und Eroberer Galliens. Pompeius, der sich als mindestens ebenso brillanter Militär das Attribut «Magnus» (der Grosse) verdient hat. Und Crassus, der Steinreiche. Von allen dreien umworben wird Cicero. Von schmächtiger Gestalt, ist er sozusagen der Archetpyus des Intellektuellen. Oder, wie der deutsche Dichter Martin Walser geschrieben hat: «Cicero war in einer Zeit, in der politisches Handeln nicht ohne militärische Begabung zum Ziel führte, der reine Zivilist.»

Allee der Gekreuzigten

Gruselig jene Szene im Roman von Harris, in der der übertalentierte Jurist vor die Stadt bestellt wird. Crassus, der ihn als Gefolgsmann gewinnen will, hat das arrangiert; eben hat er den Aufstand der Sklaven um Spartacus niedergeworfen und lässt nun die Rebellen der Via Appia entlang auf 25 Kilometern kreuzigen. Die Schilderung von Tiro, dem – historisch verbürgten – Cicero-Sekretär, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird: «Ausserdem erinnere ich mich an den Augenblick, als wir eine Hügelkuppe überquerten und in eine lange Allee aus Kreuzen blickten, die in der Hitze des Spätvormittags schimmerte und sich Meile um Meile schnurgerade dahinzog. Die Luft schien zu zittern von dem Stöhnen der Sterbenden, dem Brummen der Fliegen, dem Kreischen der kreisenden Krähen.» So grausam strafen Roms Grosse ihre Feinde. Cicero ist schockiert. Ein Crassus-Parteigänger wird er umso weniger. Bald schliesst er sich stattdessen Pompeius an.

Schriftsteller Robert Harris inszeniert die Laufbahn des Juristen von den Rhetorikstudien in Griechenland (Atemübungen, Stimmkräftigungstraining, Einproben eines Gestenrepertoires) bis zum Konsulatsjahr 63 gezielt als moralische Parabel. Sie handelt von der betörenden Wirkung der Macht – die bald auch Cicero korrumpiert, der doch als Saubermann begonnen hat: In seinem ersten Grossprozess vertritt er siebzig sizilianische Bürger und Kommunen gegen den korrupten, raffgierigen, bösartigen Statthalter Verres. Dass der Chefbeamte ein Verbrecher ist, wissen im Prinzip alle im Senat, aus dem sich das Geschworenengericht konstituiert. Doch Verres hat viele Freunde unter den Adeligen. Und sein Verteidiger ist Hortensius, der so reich ist, dass er die Aale des eigenen Fischteiches mit Juwelenringen bestückt. Im nächsten Jahr soll Hortensius gar Konsul werden – wie kann Verres vor Gericht verlieren, wenn die Verschleppungstaktik der Verteidigung funktioniert und er bald mit einem der zwei höchsten Männer im Staat (es amten stets zwei Konsuln gleichzeitig) verbandelt sein wird?

Wie ein John-Grisham-Gerichtsthriller liest sich «Imperium» streckenweise; dabei bleibt der Roman nah an den geschichtlichen Tatsachen. Die Reden des Cicero «in Verrem» sind ja überliefert. O-Ton, als Cicero den Statthalter als Schänder adeliger Römerinnen anprangert: «Unter den Städten Siziliens [...] gab es keine, aus der er sich nicht eine Frau aus vornehmer Familie zur Befriedigung seiner Begierde auserwählt hätte. Und so wurden einige von diesen in aller Öffentlichkeit zum Gelage herbeigeholt; wenn welche einen Schein ihrer Keuschheit retten wollten, kamen sie zu einer bestimmten Zeit und mieden das Licht und die Gesellschaft.»

Der Zweck heiligt die Mittel

Derart niederträchtig erscheinen in Ciceros Worten – nicht von ungefähr gilt er mit Demosthenes als grösster Redner der Geschichte – die Delikte des Verres, dass nicht einmal der voreingenommenste Geschworene sie ignorieren kann, umso mehr, als die Herren Senatoren die Wut der Massen fürchten. Verres flieht noch vor der Urteilsverkündung aus der Stadt. Doch jetzt kommt der Clou: Der siegreiche Anwalt Cicero opfert postwendend die Interessen seiner Mandanten: Statt vierzig Millionen Sesterze Schadenersatz erhalten die Sizilianer nur einen Bruchteil (drei Millionen laut dem Schriftsteller Plutarch). Warum das? Lassen wir Robert Harris intelligent spekulieren: Weil Pompeius aus Sorge, die adelige Verres-Clique könnte zu sehr gedemütigt werden, Cicero zu dem faulen Abschluss nötigt. Gemäss Harris ist Cicero in seinem 36. Altersjahr bereits vorwiegend Politiker. Das Gerichtswesen instrumentiert er für die eigene Karriere.

Man denkt und plant im Hause Cicero langfristig: Der beste Spross der Sippe soll Konsul werden. Quintus Tullius verfasst zu dem Zweck eine Schrift mit Wahlkampftipps für den begabteren älteren Bruder. Einer seiner Ratschläge: «Sorge [...] dafür, wenn es sich auf irgendeine Weise erreichen lässt, dass übles Gerede über deine Gegenkandidaten aufkommt, entweder wegen einer Rechtsverletzung oder wegen einer Liebesaffäre oder wegen eines Wahlbetrugs – wähle den Vorwurf, der dem Charakter dieser Gegenkandidaten am ehesten zu entsprechen scheint.» Den deutschen Historiker Theodor Mommsen, der Mitte des 19. Jahrhunderts die monumentale «Römische Geschichte» verfasste, befremdete Ciceros Hin und Her zwischen den Parteigängern des konservativen Adels einerseits und denen, die sich für die Mittel- und Unterschicht einsetzten, anderseits. Sein Urteil über Cicero ist von legendärer Harschheit: «Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht, hat er nacheinander als Demokrat, als Aristokrat und als Werkzeug der Monarchen figuriert und ist nie mehr gewesen als ein kurzsichtiger Egoist.»

Von Caesar kaltgestellt

Den opportunistischen Cicero führt jetzt auch, in einer Nebenrolle, die 140 Millionen Franken teure amerikanisch-britische Fernsehproduktion «Rome» vor. In der Serie, deren deutsche Free-TV-Premiere noch aussteht, erleben wir den Ex-Konsul Cicero (David Bamber) in jenen Jahren, als der Konflikt zwischen Caesar, Pompeius und Crassus dem Höhepunkt zustrebt. Cicero hat da seine beste Zeit bereits hinter sich. Als Konsul war er gewissermassen der Ausputzer der Adeligen, hat deren finstersten Spross, Catilina, entlarvt, einen verarmten Patrizier, der einen Putsch gegen alle Neuerungen und Neuerer plante, einen antiken Darth Vader, der schon im Bürgerkrieg des Marius gegen Sulla eine Blutspur hinterlassen hatte. Cicero erwirkt die Hinrichtung der Mitverschwörer. Man ist ihm im Moment dankbar, doch im Nachhinein wird seine Härte gegen ihn verwendet; seine vielen Feinde erwirken, dass er 58/57 für ein Jahr ins Exil muss. Politisch verharrt Cicero bei Pompeius. Eine Fehlentscheidung. Caesar überschreitet 49, von Gallien her als siegreicher Eroberer Rom zustrebend, mit seinen Truppen den Grenzfluss Rubikon. Pompeius’ Kräfte samt Teilen des Senates fliehen, auch Cicero verlässt Rom. Beim nordgriechischen Pharsalos kommt es 48 zur Entscheidungsschlacht. Pompeius verliert.

Cato der Jüngere, ein stolzer Patrizier, das Aushängeschild der Republikaner, ein harter Anti-Pompeianer, wird schliesslich Selbstmord begehen. Cicero findet im entscheidenden Moment den Weg zurück zu Caesar. Der vergibt ihm, stellt ihn freilich kalt. Es kommt die Zeit, auf dem glamourösen Landgut «Tusculanum» dem Komfort zu frönen und die «humanitas» zu leben, die Cicero so intensiv propagiert und die den Begriff des Humanismus geprägt hat. Es handelt sich um das griechisch veredelte Gegenideal zur altrömischen «gravitas». Jene tendenziell humorfreie, luxusfeindliche, bäuerlich-frugale, antiintellektuelle Gemütsstrenge verkörpert Cato, den man heute einen «Kaltduscher» nennen würde. Cicero hingegen arrangiert sich seine Existenz zum Genuss. Orgien sind damit nicht gemeint: «Mir geht es nicht um oberflächliches Vergnügen, sondern um eine Gemeinsamkeit in Leben und Lebensart, um die Entspannung der Gemüter, wie sie sich besonders beim Gespräch im vertrauten Kreis ergibt.»

Aber natürlich kann er seiner selbst nicht wirklich froh werden in Zeiten, da im Staat alles drunter und drüber geht. In vielen Briefen scheint jener wirklichkeitsferne Cicero auf, der die Republik zurückholen möchte. Seinen Plan hat er Jahre zuvor in einem Brief an Freund Atticus formuliert: «Was meinst du, wenn es mir auch noch gelänge, Caesar zu bessern?» Auch aus dieser politischen Absicht heraus versucht er, der Schmeichler, sich Caesar gewogen zu halten. Einmal lädt er ihn auf sein Landgut. Caesar kommt, sieht und völlert: «Da er später ein Brechmittel nehmen wollte, ass und trank er ohne Bedenken und mit Appetit. Es war auch ein glänzendes und wohlvorbereitetes Diner», schreibt Cicero. Der Diktator und sein Skeptiker in Freundesnähe. Als Caesar tot ist, geht Cicero wieder auf Distanz und kommentiert vernichtend: «Alles göttliche und menschliche Recht trat er zu Boden, weil er sich in die Idee verrannt hatte, Alleinherrscher zu sein.» Es ist der stete Wechsel der Tonalitäten im Umgang mit den Mächtigen, der einem von Cicero bleibt, wenn man sein Leben und Werk studiert. Auch fällt seine Eitelkeit auf: «Stelle mein Wirken in kräftigen Farben dar, mehr noch, als es vielleicht deinem Empfinden entspricht», rät Cicero einem Publizisten zur Abfassung einer Denkschrift über ihn selber.

Cicero, ein Mann vieler Facetten. Weichlich und weinerlich, streitsüchtig und wankelmütig sei der Fürst der Redekunst gewesen, urteilt der italienische Dichter Francesco Petrarca, als um 1345 die verschollenen Briefe des Cicero aufgefunden werden, die den Privatmann dokumentieren. Den Ruf des Pendlers zwischen den Fronten, des naiven Träumers oder wechselweise des Jammerers auf dem Landgut ist Cicero nie mehr losgeworden. Dennoch hat er durch alle Zeiten fasziniert. Insbesondere die Menschen der Renaissance bewunderten ihn: Die Gruppenbande, die den mittelalterlichen Menschen gefangen gehalten hatten, lockerten sich in der Epoche der Individualität. Und jener antike Denker, der sein Leben konsequent als Ich-Unternehmen betrieb, wurde zum Vorbild. Cicero ist eben auch – der erste grosse Selfmademan der Geschichte.

Literatur/DVD:

Robert Harris: Imperium. Heyne, 2006. 475 S., Fr. 35.–
Roman über Ciceros Aufstieg zum Konsul. Eine Fortsetzung ist geplant.

Manfred Fuhrmann: Cicero und die römische Republik.
Patmos, 2005. 350 S., Fr. 23.60 (Standardbiografie)

Marion Giebel (Hg.): Stillsitzen kann ich einfach nicht – Cicero zum Vergnügen. Reclam, 1997. 183 S., Fr. 7.40
(Die prägnantesten Ausschnitte aus Reden und Briefen)

Rome (TV-Serie): DVD-Set. Erste Staffel.
Englisch, ohne deutsche Untertitel. 720 Minuten, H 58.90
(Die Geschichte um zwei Legionäre spielt in den Jahren vor Caesars Tod.)
Die deutsche Version erscheint voraussichtlich im Februar 2007.