Eriwan

Letzte Woche habe ich erlebt, wie eine Belagerung im 21. Jahrhundert aussieht. Ich befand mich mit meinen Kollegen der Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International am Rande einer Autobahn, die sich durch ein felsiges Tal in Armenien schlängelt. Hinter uns stand eine Kolonne von zwanzig Lastwagen, alle beladen mit Mehl, Speiseöl, Babynahrung und Medikamenten. Sie steckten dort seit über sieben Wochen fest.

Im nebelverhangenen Tal unter uns beleuchteten Scheinwerfer eine grosse Brücke, die von einem Militärposten bewacht wurde. Abgesehen vom Kontrollpunkt war die Brücke leer – es gab keinerlei Verkehr.

Einst freies Land

Hinter dieser Brücke liegt Bergkarabach, eines der ältesten Gebiete der christlichen Welt. Seit neun Monaten sind die 120 000 dort lebenden armenischen Christen vom Rest der Welt abgeschnitten – durch eine Blockade, die verhängt wurde von Aserbaidschan, einem türkisch-muslimischen Staat im Osten Armeniens.

Hinter den Belagerungslinien sterben die Menschen an Hunger und aufgrund eines Mangels an grundlegenden Medikamenten. Die Zahl der Fehlgeburten hat sich vervierfacht. Es gibt keinen Treibstoff für Autos, nicht einmal für Krankenwagen.

«Meine Familie ist am Verhungern», sagte mir eine Frau namens Narine. «Wir haben versucht, in unserem Garten Gemüse anzubauen, aber es reicht nicht. Und jetzt kommt bald der Winter.»

Die Armenier leben seit Jahrtausenden in Bergkarabach. Im Jahr 301 n. Chr. konvertierte Armenien als erste Nation zum Christentum. Seitdem ist Bergkarabach ein freies christliches Land geblieben.

Die Armenier haben in ihrer Geschichte viel gelitten. Im Osmanischen Reich wurden zwischen 1915 und 1923 über eine Million armenische Christen in einem Völkermord getötet. Bald darauf eroberte die Sowjetunion Armenien, Aserbaidschan und Bergkarabach. Josef Stalin gliederte Bergkarabach in Aserbaidschan ein, schloss alle Kirchen und tötete oder deportierte sämtliche Priester.

Mit dieser Belagerung versucht Aserbaidschan nun, die Sache zu Ende zu bringen.

Doch der Glaube der Menschen und ihr Engagement für ihr Heimatland blieben bestehen. Als die Sowjetunion in den späten 1980er Jahren auseinanderzubrechen begann, erklärten sich die Armenier von Bergkarabach zu einer unabhängigen Republik. Aserbaidschan reagierte mit dem Versuch, die armenische Bevölkerung in der Region auszulöschen, doch mit Hilfe der Republik Armenien schlugen die Armenier von Karabach zurück und gewannen ihre Freiheit.

Im Jahr 2020 griff Aserbaidschan erneut an – und diesmal mit Erfolg. Nur ein von Russland in letzter Minute verhängter Waffenstillstand verhinderte, dass sie die Armenier vollständig vertreiben konnten. Mit dieser Belagerung versucht Aserbaidschan nun, die Sache zu Ende zu bringen. Die uralte christliche Gemeinde von Bergkarabach steht kurz davor, endgültig ausgelöscht zu werden.

Als ich letzte Woche in Armenien war, traf ich einen jungen Flüchtling aus Bergkarabach namens George. Er sagte: «Dieser Krieg ist nicht nur ein Krieg gegen die Armenier. Die Frontlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan ist die Frontlinie der zivilisierten Welt.»

Die EU sieht das anders. Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, nennt Aserbaidschans Diktator einen «zuverlässigen, vertrauenswürdigen Partner». Aserbaidschan ist reich an Öl und Gas und hilft Europa, das Gas zu ersetzen, das früher aus Russland kam.

Unterdessen laufen Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates und Gastgeber dieser Verhandlungen, begrüsst die «Fortschritte», die sie auf dem Weg zum Frieden machen. Doch wie können die USA und die EU von Frieden sprechen, wenn 120 000 Menschen in einer Belagerung verhungern?

Als meine Kollegen und ich in Armenien waren, sagten uns verschiedene Exilbeamte aus Bergkarabach dasselbe: Die westlichen Mächte hoffen, dass die Armenier Bergkarabach verlassen und in die Republik Armenien ziehen. Dann wird Aserbaidschan das Land bekommen, ein Friedensvertrag kann unterzeichnet werden, und der Westen kann von Aserbaidschans Ölreichtum profitieren, ohne sich um die Armenier kümmern zu müssen.

Doch wenn Europa glaubt, dass die Armenier ihre Heimat kampflos aufgeben werden – oder dass Aserbaidschan sich zufriedengeben wird, sobald es Bergkarabach verschlungen hat –, dann irrt es sich gewaltig. In Brüssel und Washington sprechen die Diplomaten von Frieden; vor Ort deuten alle Zeichen auf einen neuen Krieg hin, der in einem Völkermord enden könnte.

Schweizer Missionare riskierten ihr Leben

Die Schweiz verbindet eine lange Geschichte der Freundschaft mit dem armenischen Volk. Nachdem das Osmanische Reich 1897 ein Massaker an den Armeniern verübt hatte, unterzeichneten 453 015 Schweizer Bürger eine Petition, in der sie ihre Regierung aufforderten, «gegen diese Verbrechen zu protestieren», ohne dabei ihre Neutralität aufzugeben. Während des Völkermordes riskierten Schweizer Missionare wie Jakob Künzler ihr Leben, um den Armeniern zu helfen.

Welche Rolle wird die Schweiz in diesem historischen Moment spielen? Wird sie ihrem Erbe treu bleiben? Oder wird sie sich stillschweigend der EU-Linie anschliessen, obwohl Christen verhungern oder zu Tausenden getötet werden? Wird sie es zulassen, dass Aserbaidschan seine Kriegsmaschinerie mit seinen Socar-Tankstellen weiter finanziert?

Die Zeit für eine Entscheidung wird knapp.

Joel Veldkamp ist Leiter internationale Kommunikation von Christian Solidarity International (CSI).