Florian Werner: Schnecken. Ein Portrait. Naturkunden, Nr. 20. Hrsg. von Judith Schalansky. Matthes & Seitz. 151 S., Fr. 29.90

Sie sind Todfeinde und feiern doch jeden Frühling mit gleicher Inbrunst das Fest der Auferstehung: die Gärtner und die Schnecken. Für die einen beginnt unter dem Jubel der Vögel und Blüten die köstliche Zeit des Pflanzens und Säens, Rupfens, Bindens, Schneidens, In-der-Erde-Wühlens. Die anderen müssen erst die kleine Kalk-Tür, die ihr Haus seit dem Herbst versperrt, sprengen, bevor sie den Winterschlaf beenden, die Fühler wieder ausstrecken, den Schleimteppich bilden und loskriechen können. Zwei bis sieben Zentimeter pro Minute. Dahin, wo das frische Futter wächst: Rettich, Rhabarber, zarte Salatspitzen. Und dann geht’s gleich ans Vermehren. Als Zwitter sind Schnecken sexuelle Alleskönner, bei denen jeder mit jedem kopuliert. Ihre Vorspiele können zwanzig Stunden und mehr dauern und den Gebrauch von Liebespfeilen einschliessen, die sie einander in die erregten Körper schiessen. Das Schnecken-Viagra soll den Weg der Spermien zu den Eizellen bahnen helfen.

Vier bis sechs Wochen später legen die temporären Weibchen 40 bis 400 Eier in Erdhöhlen, je nach Art. Und aus dem, was davon überlebt, schlüpft nach weiteren drei Wochen die nächste Generation Jungtiere.

Ihre Vorspiele können zwanzig Stunden dauern und den Gebrauch von Liebespfeilen einschliessen.

Gastropoden-Kino aus 500 Jahren

Die meisten Schnecken haben nur ein kurzes Leben, das sie aber genau so verbringen, wie Hochglanzzeitschriften es uns Lesern als Ideal empfehlen: gutes Essen, Tantra-Sex im Marathon-Format, entschleunigtes Sich-vorwärts-Bewegen. Trotzdem werden sie wie kaum eine andere Spezies gehasst und gejagt. Pech für sie, wenn sie ihren Appetit auf frisches Grün ausgerechnet in den Beeten der Gärtner stillen müssen und dabei so beschämend wehrlos sind, dass sie sich geradezu anbieten, zertreten, vergiftet, ertränkt, zerstückelt, verbrannt zu werden. Und doch wählt der grosse Garten-Gott des Barock, André Le Nôtre, Genius von Versailles, nach seiner Erhebung in den Adelsstand gerade sie zum heraldischen Symbol für sein Banner. Wieso? Drei nackte Wegschnecken, die gefrässigsten und meistgehassten Mollusken, silbern auf schwarzem Grund. Ein Witz? Kapitulation? Ein Stück Magie?

Immerhin geht auch eine der magischsten Denkfiguren der Philosophie und Mathematik, die Spirale, auf die Schnecke zurück. Das lateinische spiralis steht für «schneckenförmig gewunden», was sich allerdings auf das Haus der Gehäuseschnecken bezieht und nicht auf deren ungeliebte nackte Geschwister. Dieses Haus ist das Trumpf-Ass für die gesamte Art. Es rettet ihr Image und macht die verachteten Freaks zu Stars, Trophäen, Attraktionen und Delikatessen.

So auch in der jeden Frühling wieder aktuellen kleinen Kulturgeschichte der Schnecken, die Florian Werner vor ein paar Jahren für die hinreissende Reihe «Naturkunden» des Berliner Matthes-&-Seitz-Verlags schrieb. Denn auch hier sind die Häuschenschnecken die heimlichen Lieblinge, und der Autor spürt sie mit Witz und Wissen besonders dort auf, wo man sie nicht vermutet: in der zeitgenössischen Musik, im Kinderzimmer seiner Tochter, in der Hand des ultimativen Bond-Girls, in Frank Lloyd Wrights Guggenheim-Museum. Staunend folgt man ihm zum jährlichen Schneckenwettrennen ins englische Congham, auf eine schwäbische Alb in den dort nach historischem Vorbild angelegten Schneckengarten, in die Bretagne auf eine Schneckenfarm. Und dann ist da noch das stille Café «Schnegg» in Bern.

Aber das Wunderbarste und Bezauberndste an diesem so vergnüglichen, überraschungsreichen und dazu auch noch jackentaschenkompatiblen Schnecken-Brevier sind doch seine Illustrationen. Fast jede Seite krönt ein Schneckenbild. Behauste Bauchfüssler kriechen durch das Buch in allen Lebens- und Preislagen. Ein tolles Gastropoden-Kino aus 500 Jahren, das nebenbei auch noch den grössten aller Designer, die Natur, dabei zeigt, wie sie aus fast nichts ein faszinierendes Universum schafft. Aus einem einzigen Stoff – nämlich dem Kalk, aus dem jedes Schneckenhaus besteht – und aus einer einzigen Form – nämlich der Spirale – kreiert sie ein geradezu hypnotisches Feuerwerk an Mustern, Formen und Farben, Schönheit und Perfektion. Seit 350 Millionen Jahren. Gleichgültig, ob der Mensch es sieht und bewundert oder nicht.