Daniel de Visé: King of the Blues. Das Leben des B. B. King. Reclam. 697 S., Fr. 49.90

«Lucille hat mich einfach nie andere Musik spielen lassen als den Blues, und sie ist eine äusserst selbstbewusste Geliebte.» Seiner halbakustischen Gibson-E-Gitarre war B. B. King seit 1949 hörig. Damals trat er in einem kleinen Flecken namens Twist in Arkansas auf. Das Konzert hatte kaum begonnen, da gerieten zwei Männer auf der Tanzfläche aneinander. Als dabei eine riesige Petroleumlampe zu Bruch geht, steht das Gebäude Sekunden später in Flammen. Unter den Besuchern, die panisch ins Freie drängen, ist auch B. B. King.

Plötzlich fällt dem Gitarristen ein, dass er sein Werkzeug in dem brennenden Gebäude zurückgelassen hat. Weil er nicht genug Geld besitzt, um sich ein neues Instrument kaufen zu können, rennt er noch einmal in den Klub zurück. Gerade als er mit der Gitarre wieder herauskommt, stürzt das Haus ein und begräbt zwei Menschen unter sich. Später erfuhr King, dass die Schlägerei wegen eines Mädchens namens Lucille ausgebrochen war, und beschloss spontan, seiner Gitarre ihren Namen zu geben, um sich immer wieder daran zu erinnern, nie wieder so etwas Dummes zu tun.

Diese und viele andere Anekdoten finden sich in Daniel de Visés epischer Biografie, die gerade im Reclam-Verlag auf Deutsch erschienen ist. Der Pulitzer-Preisträger, der auch für die Washington Post schrieb, misst dem Brand in Twist musikhistorische Bedeutung bei: «In der Nacht, in der B. B. seine Gibson L-30 vermenschlichte und ihr den Namen Lucille gab, schubste er die populäre Musik in die Zukunft. Wo andere Gitarristen Tonleitern und Akkorde und Arpeggios vernommen hatten, hörte B. B. King eine Stimme. ‹Ich wollte einen Ton so lange halten wie ein Sänger›, erinnerte er sich.» Da King es einfach nicht schaffte, die Bottleneck-Technik der Slide-Gitarristen zufriedenstellend zu beherrschen, entwickelte er sein weitschwingendes, kraftvolles Vibrato aus dem Handgelenk heraus. So konnte er die Saiten weinen oder jubilieren lassen.

Universität des Lebens

Geboren im September 1925, wuchs Riley B. King – seine Initialen B. B. leiteten sich erst Jahre später aus «Blues Boy» ab – in dem kleinen Nest Berclair im Herzen des Mississippi-Deltas auf. Sein Vater, ein armer Farmpächter, verliess die Familie bald, und King musste unzählige Meilen hinter dem Pflug auf den Baumwollplantagen zurücklegen – «einmal um die ganze Welt», wie er später zu sagen pflegte. Seine Mutter starb, als er zehn Jahre alt war, und der Junge kam in den nächsten Jahren bei verschiedenen Verwandten unter. Seine Bildung blieb rudimentär, folglich musste er die harte Tour an der «Universität des Lebens» absolvieren. Sein Cousin, der legendäre Folk-Blues-Gitarrist Bukka White, förderte früh Kings Interesse am Gitarrenspiel.

Mit sechzehn kaufte sich King eine flammend rote Stella-Akustikgitarre, und schon bald zeigte er mehr Interesse an den sechs Saiten als an schulischen Leistungen. Wie viele Blues-Musiker vor ihm suchte auch King sein Glück im Norden. Doch zog es ihn nicht bis nach Chicago, sondern er blieb 1946 in Memphis hängen, wo er schon bald Auftrittsmöglichkeiten in lokalen Klubs fand und nach kurzer Zeit seine eigene fünfzehnminütige Sendung im Radiosender WDIA moderieren konnte. Seine Debüt-Single benannte er nach seiner ersten Ehefrau «Miss Martha King», die er in seinem Heimatort zurückgelassen hatte.

Anfeindungen und Demütigungen

Den Durchbruch erzielte er 1952 mit dem «3 O’Clock Blues», doch sein bekanntestes Stück wurde siebzehn Jahre später «The Thrill Is Gone» – eine lasziv-müde Meditation über verblasste Liebe und den Fluch des Älterwerdens. In jenen Jahren, die de Visé facettenreich durchleuchtet, hatte King seine Hauptanhängerschaft bereits in der Rockszene gefunden. Für den Biografen ist King der erste «Guitar Hero». Während der Blues in den Sechzigern bei der schwarzen Hörerschaft in den USA immer weniger Akzeptanz fand, erreichte der britische Blues-Boom mit seinen Heroen Eric Clapton, Jeff Beck, Jimmy Page und Peter Green ein neues, breites Publikum, vornehmlich von langhaarigen weissen Zuhörern. Für King bedeutete dies wachsenden Ruhm und Wohlstand.

Aus dem Handgelenk heraus konnte er die Saiten weinen oder jubilieren lassen.Obwohl King sich im Laufe seiner Karriere nur selten explizit gegen den alltäglichen Rassismus in den USA wehren sollte, fühlte er sich dennoch von den schon frühen Anfeindungen wegen seiner Hautfarbe tief getroffen. All die Demütigungen durch Polizeiwillkür, die alltägliche Segregation in den Tour-Hotels, die wiederholten Bombendrohungen hatten auch bei King ihre Narben hinterlassen. Doch de Visé schreibt: «King verschloss seine Wut tief in seinem Innern, verborgen hinter seinen ausdrucksstarken Augen.» Er besiegte den Schmerz, indem er einfach immer weitermachte mit seiner Musik. Er war der Grossmeister des «Moving on», ein Virtuose der Beharrlichkeit.

Dabei verlief Kings Leben weitgehend frei von Skandalen. Der Mann hatte keine Feinde, galt als immer freundlich und fair, bezahlte seine Mitmusiker stets angemessen und hatte nach Einschätzung seines Biografen nur zwei Laster: die Spielsucht, die ihn Millionen kostete, und eine exzessiv ausgelebte Sexsucht, aus der eine Vielzahl unehelicher Kinder hervorgegangen sein soll. Nach der Schilderung eines Familienstreits während eines Thanksgiving-Dinners, bei dem fünfzehn seiner geschätzt zwei Dutzend Kinder anwesend waren, lässt de Visé eine Bombe platzen: «B. B. hätte in seinen Memoiren einräumen können, dass er unfruchtbar war. Stattdessen hielt er die Fiktion der Vaterschaft am Leben und warf seinen Ex-Frauen vor, sie wären nicht imstande gewesen, während ihrer Ehe Kinder zur Welt zu bringen.»

Überraschend bis zum Schluss

Das glänzend geschriebene Buch – mit einem Detailreichtum, der seinesgleichen sucht – verschweigt auch nicht, dass King sich in seinen letzten, von einer sich verschlimmernden Diabetes geprägten Lebensjahren oft dem Vorwurf ausgesetzt sah, er betreibe eine «Las-Vegaisierung des Blues», habe seine musikalische Integrität längst eingebüsst und wolle nur noch im Rampenlicht stehen: «An schlechten Tagen war der grosse Blues-Musiker nicht mehr imstande, einen Song ordentlich zu Ende zu bringen, geschweige denn eine ganze Performance durchzuhalten.» Und dennoch besass King auch da noch die Fähigkeit, mit einer einzigen zärtlichen Liebkosung seiner «Lucille» alle Erstarrung zu sprengen. Dann hatte man das Gefühl, er spiele das Stück zum ersten Mal und es handle sich um die definitive Version. King wusste zeitlebens genau: «Du kannst einem alten Hund keine neuen Kunststücke mehr beibringen. Er kann allenfalls versuchen, die alten Tricks in ungewohnter Weise vorzuführen.»