Sag jetzt bloss nichts Falsches, Schatz! Hat Hans Spiess das gedacht, 1503 auf dem Friedhof zu Ettiswil im Luzernischen, als er nackt vor die Leiche seiner Gattin Margret tritt, die man drei Wochen nach der Beerdigung exhumiert hat? Der Ex-Söldner steht unter Mordverdacht, er soll seine Frau, von der er getrennt lebte und der er Unterhalt zahlen musste, des Nachts erstickt haben, nachdem er bei ihr gegessen hat.
Das behaupten die Behörden, ohne Beweise zu haben. Den entscheidenden Hinweis soll jetzt die «Bahrprobe» liefern, ein Gottesurteil, das in Prozessen angewendet wird, wenn die Zeugen fehlen. Die simple Grundregel ist über die Jahrhunderte und Landesgrenzen hinaus die gleiche. Verändern sich die Wunden der Leiche während der Konfrontation mit dem Delinquenten, gilt dieser als überführt – dann hat Gott gesprochen. Eine Reihe von Bedingungen verleiht dem Verfahren Kontur und macht es zum beliebten Spektakel: So wird der Angeklagte meist ausgezogen, auf dass nicht ein verstecktes Amulett verhindernd wirke; so wird einleitend eine Messe zelebriert und ausgiebig das Kreuz gegen den Angeklagten geschwenkt; so muss dieser die Wunden der Leiche berühren oder gar küssen; muss er vor der Leiche auch einen Eid ablegen und diesen zweimal wiederholen.
Im Freisinger Rechtsbuch von 1328 lautet die Formel: «Ich bezeuge bei Gott und bei dir, dass ich an deinem Tode unschuldig bin.» Der Leichnam der exhumierten Margret Spiess, reportiert eine zeitgenössische Chronik, blutet so heftig, dass ihr Mann noch auf dem Friedhof zusammenbricht und gesteht; ihm werden daraufhin mit einem Wagenrad die Knochen gebrochen, und er stirbt, auf dasselbe geflochten, einen qualvollen Tod.
Fingerzeig aus dem Jenseits
Aber hat der Leichnam wirklich geblutet, weil der Mörder ihm nahe kam? Hat man ihn nicht eher bei der Bergung verletzt? Oder hat ihn ein übelwollender Küster oder Kleriker manipuliert? Bis heute erörtern Historiker den dunklen Fall – hat gar Hans Spiess, unter Druck die Nerven verlierend, ein falsches Geständnis abgelegt? Die Bahrprobe ist ein zweifelhaftes Ritual. Doch während die anderen Formen des Gottesurteils – Wasserprobe, Feuerprobe, Kreuzprobe, Zweikampf-Ordal – zwischen 1200 und 1300 nach ihrem Verbot durch die Kirche definitiv aus dem Rechtsleben verschwinden, ist die Bahrprobe nach einiger Zeit auferstanden und hält sich, oft in Kombination mit der Folterung des Angeschuldigten, an einigen Orten bis ins 18. Jahrhundert.
Eine makabre Form von Gegenüberstellung. Was aber kann man tun, wenn man gar keinen Verdächtigen hat, den man mit der Leiche zusammenbringen kann? Dann amputiert man deren Hand, erhitzt sie im Ofen, bewahrt sie mumifiziert auf für den Fall, dass sie vielleicht doch dereinst auf den Mörder zeige. Auch das gab es.
Immer aber soll es Gott sein, der letztlich das Zeichen auslöst und die Wahrheit signalisiert. Das Gottesurteil ist eine rechtliche Ureinrichtung der Menschheit, bekannt aus dem alten China, Japan, Indien, Ägypten, Israel. Schon im vierten Buch Mose wird festgehalten, dass eine der ehelichen Untreue verdächtige Frau ein von Priesterhand gebrautes «fluchwirkendes Wasser des bittern Wehs» trinken soll, einen Mix aus geheiligtem Wasser und Fussbodenstaub. Schwillt nun ihr Leib und schwindet ihre Hüfte, wie es blumig heisst, so ist sie schuldig. Noch älter der Codex Hammurapi aus Babylon, der bei Verdacht auf verbotene Zauberei ein «Flussordal» anordnet (das Wort «Ordal» ist eine sprachliche Vorform des heutigen Wortes «Urteil»). Man wirft den Verdächtigen ins Wasser; geht er unter, ist er schuldig.
Gut drei Jahrtausende später, im Europa der frühen Neuzeit, gilt bei der «Hexenprobe», die vom Gottesurteil der «Wasserprobe» abgeleitet ist, das Gegenteil: Ertrinken deutet Unschuld an, Obenaufschwimmen Schuld, denn das durch Jesu Taufe geheiligte Wasser soll die Eigenschaft haben, das Böse abzustossen und das Gute aufzunehmen.
Ein gewisser Wilhelm Adolf Scribonius hat im deutschen Lemgo beobachtet, wie man mit drei der Hexerei bezichtigten Frauen verfuhr: «Die rechte Handt war an den lincken grossen Zehen und wiederumb die lincke Hand an den rechten grossen Zehen verknüpffet, dass sie sich mit dem ganzten Leibe gar nicht regen kondten, darauff in Beywesen etlicher tausend Menschen sind sie in das Wasser geworffen und ein jede zu drei Malen, aber gleich wie ein Holtz oder Block oben geschümmet, und keine undergegangen.»
Hexen überführt, dem Wasser sei Dank. Seit er Mensch ist, hat der Mensch seinesgleichen den Elementen ausgeliefert – wenn Gott es richtet, so ist auch vermieden, dass der Getötete seinen Töter als Geist heimsuchen kann. Die frühsten Hinrichtungsarten sind Elementar- und Naturstrafen: die Verbrennung im Feuer; die Kreuzigung am Pfahl in der Sonne; die Überantwortung ans Wasser. Es soll als Orakel funktionieren; im gerichtlichen Beweisverfahren treffen wir diese Vorstellung vom Gottesurteil wieder, die in der Hinrichtung wurzelt: Die alten Friesen binden den Verurteilten an einen Pfahl an der Flutgrenze und nennen dies «in die Nordsee führen»; kommt die Flut an diesem Tag weniger ungestüm als üblich, kann der Verurteilte mit dem Leben davonkommen. Viele seefahrende Völker wenden als Fast-Todesstrafe das Aussetzen in einem ruderlosen alten Boot auf hoher See an; noch die Meuterer von der «Bounty» 1789 schicken ihren verhassten Kapitän in einem Boot von dannen (er überlebt).
Der Wächter reanimiert
In der Zürcher Blutgerichtsordnung aus dem 15. Jahrhundert ist für die Hinrichtung im Wasser festgelegt, dass der Verurteilte an den Handgelenken und separat den Fussgelenken gebunden wird, worauf man ihn in Fötusstellung bringt, die gebundenen Füsse zwischen den Händen emporzieht und diese Haltung durch einen Querstock fixiert – kaum eine Chance, so im Wasser zu überleben. In Basel hingegen gibt man der gefesselten Person zwei luftgefüllte Rindsblasen an Hals und Füssen mit und postiert ein Stück weiter unten am Rhein Wächter zu Wasser und zu Land mit dem Auftrag, die Person zu bergen. Kann sie wiederbelebt werden, ist sie durch Gottes Willen frei; sie wird freilich des Ortes verwiesen.
Gott kann also strafen, aber er kann auch begnadigen; auf jeden Fall ist er gerecht. Und wie wollte der Mensch auch selber die Schuld eines Angeklagten beweisen in einer Zeit, da es keine Polizei gab, die am Tatort Beweise sichert, keinen Untersuchungsrichter, der die Indizien sichtet und Zeugen befragt, keine investigativen Methoden? Die Leute im Mittelalter sind nicht dümmer als die heutigen, sie wollen die Wahrheit erkennen, bloss fehlt ihnen das technische Instrumentarium. Als im frühen christlichen Mittelalter das Gottesurteil in die Gerichtsstuben einzieht, rechtfertigt man dies mit der Bibel. Bei Jesaja heisst es: «Wenn du durch Wasser gehst – ich bin mit dir; wenn durch Ströme – sie werden dich nicht überfluten. Wenn du durch Feuer schreitest, wirst du dich nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.» Das Feuer hat in der Folge als prozessualer Wahrheitsindikator unzählige Körperteile versehrt. «Dafür gehe ich durchs Feuer», sagen wir Neuzeitler und wissen kaum noch, dass einst Menschen, die mit einem leicht entflammbaren Wachshemd bekleidet waren, zwischen zwei brennenden Holzstössen durchgehen mussten. «Er langt da ein heisses Eisen an», sagen wir und meinen es metaphorisch – ein Geistlicher namens Robert 1172 im nordfranzösischen Städtchen Arras aber muss die Wendung wörtlich nehmen. Der Ketzerei beschuldigt und dem Verhör unterworfen, willigt er in die Feuerprobe ein – laut der historischen Quelle ein Desaster für ihn: «So offenkundig scheiterte er beim Versuch, seinen Ruf vom Vorwurf der Häresie mittels Gottesurteil durch heisses Eisen zu reinigen, dass nicht nur an der rechten Hand, in der er das Eisen hielt, sondern wundersamerweise auch an der linken und an beiden Füssen und an den Seiten, der Brust und dem Bauch eine Verbrennung auftauchte; aus diesem Grund wurde er auf Befehl des Erzbischofs ins Feuer geworfen und verbrannt.»
Hätte es diese schlimmen Verletzungen nicht gegeben, hätte im Gegenteil die Hand des Probanden, der in der Regel vor der Probe mit Weihwasser bespritzt wird oder dieses gar zu trinken kriegt, nach drei Tagen der Bandagierung Anzeichen einer sauberen Heilung gezeigt, so hätte dies besagt: unschuldig! Die Menschen damals meinen, dass ein moralisch guter Leib, wenn man ihm eine Verletzung zufügt, durch Gottes Willen wieder ein gesunder Leib wird. Die grässlichsten Torturen sind durch den guten Zweck entschuldigt: Auch dass man Beschuldigte über glühende Pflugscharen gehen lässt oder sie den Arm oder die Hand in einen Kessel mit kochendem Wasser tauchen lässt.
Präparierte Kerzen und Holzspäne
Oft «menschelt» das Gottesurteil allerdings überwältigend. Bei der Speiseprobe muss der Beschuldigte eine unzerkaute Hostie verschlucken oder auch ein unzerkautes Stück Brot oder Käse: Da hat der mit der dehnbarsten Speiseröhre einen Vorteil. Bei der Kreuzprobe muss der Beschuldigte in Konkurrenz mit dem Beschuldiger vor dem Christuskreuz in der Kirche die Arme waagrecht ausstrecken: Eine gute Muskulatur zahlt sich aus, denn wer’s länger aushält, bekommt Recht. Bei der Kerzenprobe müssen die beiden Anschuldiger je eine Kerze anzünden: Gottes Favorit ist, wer zufällig die langsamer abbrennende Kerze erwischt oder mit einer kleinen Bestechung diesen Fall sichergestellt hat. Von gelegentlichen Schummeleien ist auszugehen. Meistersinger Hans Sachs hat 1551 aus einer drei Jahrhunderte älteren Geschichte einen Schwank destilliert um einen Mann, der zum Beweis seiner ehelichen Treue mutig ein heisses Eisen anfasst, ohne sich die Hände zu verbrennen. Ein Taschenspielertrick: Er trägt in der hohlen Hand einen schützenden Holzspan.
Besonders umstritten ist das von den alten Germanen her kommende Ritual, die Wahrheit per Zweikampf zu ermitteln, in einer Art Schwertorakel also. Ursprünglich ist es freien und edlen Herren vorbehalten; es gibt Regeln, die zum Beispiel erörtern, wie lange einer Waffen-Intensivunterricht beziehen darf, bevor er sich dem Kampf stellen muss. Bald kommt allerdings die Sitte auf, dass Reiche und Vornehme Stellvertreter in den Kampf schicken. Und schliesslich wird in der Rechtsliteratur auch die Möglichkeit eines Frau-Mann-Duells diskutiert; in einigen Fällen, man nehme die Lausanner Bischofsgesetze um 1380, wird dieses erlaubt. Im erwähnten Freisinger Rechtsbuch ist präzisiert, wie der Kampf sozusagen zur Chancengleichheit arrangiert ist: Der Mann muss in einer hüfthohen Grube stehen und mit einer Axt kämpfen, während die Frau frei beweglich und mit einer Art Steinschleuder bewehrt ist, ihrem Schleier, in den ein Stein eingelegt ist. Aber verrät sich in dieser Bastelei an der Geschlechterrealität nicht ein Misstrauen gegenüber der Wirkungsmacht Gottes, der wohl jederzeit auch die schwächste Frau gegen den stärksten Mann siegen lassen kann? Auch dies irritiert die Kirche allmählich: Hier wird Gott nicht gewürdigt, sondern entwürdigt. Die breite Masse schätzt solche Kämpfe ohnehin vor allem als Schauvergnügen.
Und die Duelle säen Zweifel: Obsiegt nicht schlicht der bessere Handhaber des Schwertes? Schon der Langobardenkönig Liutprand hat 713 das Problem formuliert: «Wir sind unsicher hinsichtlich des Gottesurteils, denn wir haben gesehen, dass viele im Zweikampf zu Unrecht ihre Sache verloren haben.» Im Lauf der Jahrhunderte wächst die Kritik; es handle sich um Tentatio Dei, «Gottesversuchung», wird argumentiert: Der Mensch dürfe sich nicht anmassen, Gott für menschliche Angelegenheiten einzuspannen, ja ihn gewissermassen zu nötigen.
Gleichzeitig setzt sich die Ansicht durch, die Rechtsfindung sei zwar von Gott gewollt, aber dem Menschen in Auftrag gegeben, der also nicht einfach auf Zeichen des Himmels warten, sondern die Aufspürung der Wahrheit selber an die Hand nehmen soll. Es ist der Moment, da sich die Theologie aus der Juristerei zurückzuziehen beginnt respektive die Juristerei sich von der Theologie emanzipiert. Nachdem während der grossen Verfolgungen der Katharer, die das Christentum völlig anders auslegen, in Strassburg mehr als achtzig Männer und Frauen dem glühenden Eisen unterzogen und die meisten hingerichtet worden sind, schreibt Papst Innozenz III. im Januar 1212 dem zuständigen Bischof und verbietet solche Verfahren. Auf dem Laterankonzil von 1215 dann wird grundsätzlich jedes Gottesurteil untersagt. Allerdings entsteht praktisch zur selben Zeit die Inquisition – wo das Gottesurteil endet, beginnt die Folter.
Wir Heutigen schütteln den Kopf über das Gottesurteil und seine bizarr-brutalen Ausformungen. Der Bielefelder Strafrechtshistoriker Wolfgang Schild erforscht das Gottesurteil und hat darüber viel publiziert; er erklärt, warum das Gottesurteil einst akzeptiert war.
Herr Professor, was braucht es, damit Menschen so ein Ritual ernst nehmen?
Zunächst ist das Gottesurteil ein Wunder, daher bedarf es einer Mentalität, die an Wunder glaubt. Das glauben wir heute nurmehr im Kino oder im Theater. Oder in der Oper: In Wagners «Lohengrin» muss Lohengrin gegen den Grafen von Telramund kämpfen – da kann das Gottesurteil durch die Musik in ihrer Intensität verständlich werden. Wagner hatte ja die These, dass das «Gesamtkunstwerk» durch die Musik auch dem modernen Menschen Wunder vermitteln kann.
Kann man das auch über das Gottesurteil im Mittelalter sagen: dass es eine Art «Gesamtkunstwerk» ist, indem es nur in einem Glaubenszusammenhang funktioniert?
Das ist so bei allen Formen von Zauber. Und das Gottesurteil ist in gewisser Weise der Zauber einer höheren Macht, die der Mensch nicht beherrschen kann. Das, was er machen kann, ist darum bitten, dass der Zauber geschieht. Diese Haltung der Demut – dein Wille, Herrgott, geschehe und nicht meiner – ist wesentlich für ein Gottesurteil. Andernfalls wäre es ein Herbeizwingen Gottes und damit sündhafte Gotteslästerung, wie es später auch eingeschätzt und daher von der Kirche verboten wurde.
Oftmals müssen die Zeichen Gottes interpretiert werden: Heilt die verbrannte Hand oder heilt sie nicht? Wirkte das nicht auch damals dubios?
Glaube heisst nicht, dass die Leute naiv und dumm sind, sondern Glaube heisst, bei allen Zweifeln sich zu einer Wahrheit durchzuringen. Zu einer bestimmten Haltung zur Welt. Man hat zu allen Zeiten Kritik geübt an unglaubwürdigen Gottesurteilen. Und es gab auch Hinweise, dass geschwindelt wurde. Aber das Ritual als Ganzes war glaubwürdig. Denn wie die Zauberhandlung ist auch das Gottesurteil ein Ritual: Bestimmte Worte, Gesten, Gebete prägen es. Wenn alles passt, kann das Wunder wirken. Wir reden in Deutschland immer noch vom «Wunder von Bern»: Man kann diesen unerwarteten Sieg an der Fussball-WM 1954 analytisch erklären, aber es gibt Menschen, die sagen, da sei mehr gewesen. Etwas Wunderbares eben.
Das Gottesurteil wurde durch Inquisition und Folter ersetzt. Ist das ein Fortschritt?
Fortschritt ist immer zwiespältig. Es ist jedenfalls ein Fortschritt im Bewusstsein der menschlichen Freiheit, indem man aktiv beginnt, die Welt zu gestalten – und auch im Gerichtsverfahren aktiv die Wahrheit herauszufinden.