In der Deutschschweizer Öffentlichkeit wird derzeit ein Stück aufgeführt, das man als Burleske oder als Fasnachtsschwank bezeichnen könnte, wenn die Sache, um die es geht, nicht ziemlich ernst wäre. Vielleicht sollte man eher von einem Lehrstück sprechen – von einem Lehrstück, das sehr viel über das Funktionieren der Medien und des öffentlichen Raums in der westlichen Gesellschaft aussagt. Als Titel des Stücks schlagen wir vor, frei nach Bertolt Brecht: «Sanija oder Der Kongress der Weisswäscher.» Oder nach Max Frisch: «Die Brandstifterin und die Biedermänner».

Was passiert da? Was ist da gerade passiert?

 

Lieblichkeit und Zärtlichkeit

Passiert ist, dass eine junge Zürcher Politikerin in einem gediegenen Stadthaus offenbar Schiessübungen veranstaltet und bei einer Schiessübung sinnigerweise das Bild der Gottesmutter Maria mit dem Kleinkind Jesus als Zielscheibe verwendete. Schöner noch: Die Freizeitschützin postete die Bilder von ihren Schiessübungen gleich auf Internet. Man kann feststellen: Sie hat ziemlich gut getroffen. Denn wie man unschwer erkennt, ist das Gesicht der Gottesmutter und des Kinds von Schusseinschlägen durchsiebt. Bei dem als Schiessscheibe verwendeten Porträt handelt es sich um die Wiedergabe einer Tafelmalerei eines italienischen Malers aus dem 15. Jahrhundert, das – typisch Frührenaissance – eine grosse Lieblichkeit und Zärtlichkeit ausstrahlt.

Nun, wenn eine Frau auf das Bild einer Frau mit Kind schiesst und dies auch noch urbi et orbi kundtut, so ist dies ein bemerkenswertes Statement. Noch krasser ist aber, dass es sich bei dem zerschossenen Bild um das Porträt der Gottesmutter handelt, also einer Gestalt, die nicht nur von den Christen, sondern unter dem Namen Myriam auch von den Muslimen verehrt wird (siehe Sure 19 des Korans). Die Schiessaktion ist also von beträchtlicher symbolischer Gewalttätigkeit und Wucht. Nicht nur Christen und Muslime und religiös fühlende Menschen, auch gewöhnliche Frauen und Mütter können sich verletzt fühlen.

Noch bemerkenswerter wirkt der Vorgang aber, wenn man weiss, um wen es sich bei der stolzen Schützin handelt. Es handelt sich um Sanija Ameti, eine 32-jährige Frau, die für die GLP (Grünliberale Partei) im Zürcher Gemeinderat sitzt und als grosse politische Nachwuchshoffnung und – weil sie aus einer muslimisch-bosnischen Flüchtlingsfamilie stammt – als Musterbeispiel erfolgreicher Integration betrachtet wird. Sie gilt als Kommunikations- und Internetspezialistin. Offenbar ist sie daran, an der Universität Bern zu doktorieren. Ihr Spezialgebiet: Cybersecurity, also: Sicherheit im Internet. Weil die Schützin eine Kommunikationsfachfrau ist, muss man davon ausgehen, dass sie mit ihrem Post etwas sagen wollte. Nun würde man gerne wissen, was genau. Aber eine Erklärung blieb bis heute aus.

Man hätte meinen können, die arme Frau werde als Geisel in einem Tunnel der Hamas festgehalten.

Jetzt kann man sich fragen, was passieren würde, wenn beispielsweise ein Schweizer Politiker auf das Foto einer schwarzen Frau mit Kleinkind auf dem Arm geschossen und dies in die Welt hinausposaunt hätte? Wahrscheinlich gäbe es in Politik und Medien eine riesige Aufregung – und ganz zu Recht. Und ganz zu Recht gingen die Medien ausführlich der Frage nach, ob ein solcher Akt nicht unter die Antirassismus-Strafnorm oder eine andere strafrechtliche Norm fällt und gerichtlich geahndet werden müsste.

Oder was würde geschehen, wenn eine Rasselbande von jungen Männern auf das Bild eines siebenarmigen Leuchters schiesst, wie er im jüdischen Gottesdienst verwendet wird, und das Video gleich stolz ins Internet schaltet? Oder wenn irgendein geistig beschränkter junger Mann auf einen Koran schiessen und die Heldentat gleich publik machen würde? Postwendend erhöbe sich in Politik und Medien ein Sturm der Entrüstung. Und die Medien würden die Frage stellen, ob die Schweiz nicht vermehrt gegen Extremismus, Terrorismus und Nazis vorgehen müsste.

Was geschah aber im Fall S. A.? Es geschah und geschieht etwas anderes.

In einer ersten Phase zwar blies der Dame ein heftiger Gegenwind ins Gesicht. Führende Medien qualifizierten ihre Missetat als schamlos und unanständig; die NZZ etwa schrieb, Ameti könne jetzt moralisch zusammenpacken. Auch in der Politik rumorte es gewaltig. Der Präsident der GLP, Jürg Grossen, drohte mit dem Parteiausschluss, und ihr Arbeitgeber – die PR-Agentur Farner – kündigte an, die Dame sei ihren Job los.

Auch im Internet erhob sich ein Sturm der Entrüstung: Die Provokation hatte offenbar ihr Ziel erreicht. Leider erwachte aber bald auch die übliche Meute von Hetzern und Hetzerinnen, Hasspredigern und Scharfmachern, die das Internet als cloaca maxima benützen und mit ihren Ressentiments vergiften. Ein Strom von scheusslichen Hasstiraden ergoss sich ins Netz: Der Shit hatte einen Shitstorm geboren.

Dies war zwar überaus widerlich, aber sicher nicht überraschend, zumal für jene, die den Sturm provoziert hatte. Denn man wird ja kaum annehmen dürfen, dass eine Spezialistin für Kommunikation nicht genau um die Wirkung ihrer Botschaft gewusst hätte. Zumal heutzutage alle, die öffentlich Position beziehen, sei sie auch noch so differenziert, damit rechnen müssen, Adressat von Hassnachrichten zu werden; auch der Autor dieser Zeilen muss es. Dies ist zwar nicht sehr angenehm, aber es gehört zum Geschäft.

In einer zweiten Phase freilich kehrte der Wind. Die Schützin, der noch eben eine steife Bise ins Gesicht geweht hatte, bekam nun plötzlich von links und rechts Unterstützung und Zuspruch.

 

Als Erste verziehen die Katholiken

Denn die Kommunikationsspezialistin hatte etwas getan, was man in einer solchen Lage unbedingt tun muss: Sie hatte sich «entschuldigt» – auf ihre Art allerdings, nämlich schwammig. Ihre Schiesserei sei eine grosse Dummheit gewesen, erklärte sie. Weshalb sie gerade auf ein Foto von Maria und Jesus geschossen habe? Ja, das sei gewesen, weil im Schiesskeller ein Auktionskatalog von Koller mit diesem Titelbild herumgelegen sei. So einfach ist das. Zudem liess sie wissen, es gehe ihr nicht gut, sie erhalte Drohungen und stehe unter Polizeischutz, und sie und ihre Familie machten Schreckliches durch.

Dies alles war wenig überzeugend, aber es reichte, um sie wieder ins Spiel zu bringen. Plötzlich war sie nicht mehr eine Täterin, sondern ein Opfer; und der Opferstatus ist in der westlichen Gesellschaft ein Talisman. Und weil ein Opfer unantastbar ist, begann man allenthalben zu verzeihen. Die Ersten, die verziehen, waren die Katholiken. Die Präsidentin des katholischen Frauenbunds hatte offenbar Mitleid mit der jungen Frau und erinnerte daran, dass hinter allem ja ein Mensch steht (was schwer zu bestreiten ist). Auch der Bischof der Diözese Chur, Joseph Maria Bonnemain, liess verlauten, er habe der Schützin verziehen.

Nun ist es eine der grossartigen Seiten der christlichen Moral, dass jede Tat verziehen werden kann, wenn der Täter aufrechte Reue zeigt. Die Vergebung der menschlichen Fehlleistungen (in der kirchlichen Sprache: Sünden) ist ein zentrales Moment der christlichen Frohbotschaft. Aber wenn der Bischof verzeiht, heisst dies noch lang nicht, dass sich nicht viele Christen und Nichtchristen verletzt fühlen können.

Wie soll eine «postmigrantische» Gesellschaft funktionieren, wenn nicht durch ein Minimum an Respekt?

Aber es kam für Ameti noch schöner. Denn ein Teil der Medien begann nun, sich für das arme Opfer starkzumachen. Das Hauptthema war jetzt nicht mehr das, was die Dame getan hatte, sondern das, was ihre Tat bewirkt hatte. Eine tüchtige junge Frau aus einer bosnischen Flüchtlingsfamilie wird von einem Shitstorm heimgesucht und muss Schlimmes durchleiden, das war das neue rührende Stück. Der Tages-Anzeiger schrieb über «Die Zerstörung der Sanija Ameti». Grundton: Wegen einer Lappalie werde eine grossartige Karriere zerstört. Man ist gebeten, das Taschentuch hervorzuholen.

Auch in anderen Medien hiess es, eine junge Frau sei zum Abschuss freigegeben. Aber bitte: Wer hat denn hier zuerst geschossen?

Überraschenderweise machte auch die Weltwoche in dem nun anlaufenden Kongress der Weisswäscher mit. «Free Sanija Ameti», lautete hier die einschlägige Titelgeschichte. Das war zumindest ein bisschen lustig, aber es war Unsinn. Denn man hätte meinen können, die arme Frau schmachte in einem Hochsicherheitsgefängnis oder werde als Geisel in einem Tunnel der Hamas im Gazastreifen festgehalten.

Und natürlich reagierte jetzt auch die vielgelobte «Zivilgesellschaft». Ein Unterstützungskomitee meldete sich zu Wort und sammelte mehr als 300 Unterschriften von Prominenten, darunter dem früheren SRG-Generaldirektor Roger de Weck. Kritisiert wurde zu Recht der Shitstorm. Man hätte aber auch gern gelesen, dass der Sturm der Entrüstung nicht ganz gegenstandslos war.

Natürlich wurde jetzt auch die schärfste Munition hervorgeholt und Ametis Kritiker unter ideologischen Generalverdacht gestellt. Motto: Sie hätten nur deshalb reagiert, weil es sich bei der Täterin um eine Frau aus einer Immigrantenfamilie handelt. Stramm stellte SP-Nationalrätin Tamara Funiciello die Schützin als Opfer von Frauenfeindlichkeit hin. Logik: Eine Frau schiesst auf ein Frauenbildnis – wer sie kritisiert, ist ein Frauenhasser. Verstehe dies, wer kann.

Dabei ist es natürlich genau umgekehrt: Weil Ameti eine Frau mit Migrationshintergrund ist, kann sie auf die Unterstützung eines gewissen Mainstreams rechnen.

Noch bunter trieb es ein Kolumnist der Republik. Die Affäre Ameti sei eine Hexenjagd und ein Tiefpunkt in der Schweizer Mediengeschichte, ist da zu lesen. In schönstem Newspeak ist von einer «antifeministischen, islamophoben und xenophoben Kollektivregression des Schweizer Diskurses» zu lesen. Auf allgemeinverständliches Deutsch übersetzt, lautet der Vorwurf wohl: «Wer S. A. kritisiert, ist gegen Muslime, Frauen und Ausländer.» So einfach ist das.

 

Verwirrung der Geister

Im gleichen Text wird Ameti als wichtige Schweizer Stimme des «urbanen, progressiven und postmigrantischen Milieus» bezeichnet. Aber mit Verlaub: Wie soll denn eine «postmigrantische» multikulturelle Gesellschaft funktionieren, wenn das Zusammenleben der kulturellen Gruppen nicht durch ein Minimum an Respekt und Toleranz gekennzeichnet ist? Wie soll denn sozialer Frieden hergestellt werden, wenn zwischen Christen, Juden, Muslimen, Atheisten, Agnostikern und so weiter nicht Schonung herrscht? Ist die Schiessaktion von Ameti denn ein Zeichen von Respekt und Toleranz? Wir hätten gerne Antworten.

Aber gut. Die arme Frau ist jetzt nicht mehr Täterin, sondern Opfer. Es würde nicht wundern, wenn die schiessfreudige Dame demnächst noch heiliggesprochen würde.

All dies ist freilich nicht neu, und solche Täter-Opfer-Umkehrungen wird es auch in Zukunft immer wieder geben. Irgendwie erinnert einen der Vorgang an ein Theaterstück von Shakespeare. Welches denn? Natürlich an «Macbeth». Und zwar an die Hexenszene gleich zu Beginn, in der die drei Hexen singen: «Fair is foul, and foul is fair.» Schön ist wüst und wüst ist schön: die Vernebelung der Sinne und Verwirrung der Geister, hier ist sie.

In unserem Fall sind die eigentlichen Opfer all jene, welche von Ameti in ihren Gefühlen verletzt worden sind. Inzwischen sind sie es, die sich rechtfertigen und entschuldigen müssen.

Statt die Wirklichkeit zu zerreden und mit dialektischen Nebelpetarden zu verschleiern, wäre es doch besser gewesen, man hätte Sanija Ameti ohne Wenn und Aber und kurz und bündig gesagt: So geht es nicht! Rote Karte! Sie muss ja deswegen nicht ein lebenslängliches Spielverbot bekommen.