Edinburg

Der Tartan ist sagenumwoben, ebenso wie die Clans, die ihn tragen. «Die genaue Herkunft von beiden ist ungewiss, Mythen haben diese Tradition bis heute geprägt», so die Modedesignerin Vixy Rae zum karierten Webmuster. Zahlreiche Legenden vermischten sich mit Folklore, vieles sei Romantik aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Sicher ist nur: «Tartan und Clans gehören seit je zur schottischen Kultur», schreibt Rae in ihrem Buch «The Secret Life of Tartan – How a Cloth Shaped a Nation», in dem sie die wechselvolle Geschichte des Schottenmusters dokumentiert, die eng verwoben ist mit dem schottischen Clanwesen.

Vixy Rae ist in den sechziger Jahren in der schottischen Hauptstadt Edinburg aufgewachsen, lebt bis heute dort, hat zahlreiche Bücher über Textilien verfasst und ist Mitinhaberin der angesagten Schneiderei Stewart Christie & Co. an der Queen Street im Zentrum Edinburgs. Zwar sei ihr der Karo-Punk in jungen Jahren nicht sehr nahegegangen: «Meine Garderobe war lange Zeit eine Tartan-freie Zone.» Aber ihre Liebe zur Farbe habe sie doch noch auf diese Muster gebracht, die sie heute über alles liebt.

Zum Wollstoff gehörte stets der Clan, die schottische Version einer erweiterten Familie. «Das farbige Muster verrät vieles über sie», sagt Rae auf Anfrage. «Es belegt die stolze Verbundenheit mit der Herkunft aus einer bestimmten Region.» Die Autorin zeigt anhand einer rund hundert Jahre alten Karte, wie sich das Land in Clans aufteilen lässt: von den Sinclairs im nördlichsten Zipfel in John O’Groats über die MacKenzies bis zu den Macaulays nördlich von Glasgow. Alle diese Regionen sind von Abertausenden von Schafen bevölkert; sie liefern mit ihrer Wolle das Material für das fein Gewobene.

Clan-Chefs vorbehalten

Jeder Clan ist Besitzer eines Tartanmusters. Die rechteckigen Zeichnungen sind in den Büchern des Lord Lyon King of Arms verzeichnet, des traditionellen Oberaufsehers der schottischen Wappen und Karos. Nicht jedermann kann bei ihm einen Tartan eintragen lassen. Dies ist einzig den Clan-Chiefs vorbehalten, die auch neue Varianten melden können, falls etwa das familiäre Farbempfinden gerade mal ändert. Bei den MacLeods von den Hebriden fällt etwa das markante Gelb auf, das auch im Spiel mit Blau auftreten kann.

Pech haben Clans ohne einen traditionellen Chief wie etwa die Familie der Craigs. Sie gelten als zweitklassig und unterstehen nicht dem alten schottischen Recht. Der seit der Feudalordnung herrschende Klassenunterschied war in der Vergangenheit einschneidend: Noble Clans wie die Forbes verfügten über Ländereien und besassen ein Schloss oder ein grösseres Anwesen. Habenichtse wie die McAlpines mussten dagegen auf crown land hoffen, auf Gebiete, die der Krone gehörten.

Wie die Schweizer Trachten

All diese Botschaften vermittelt ein Tartanmuster bis heute demjenigen, der es zu lesen versteht. Die Informationen sind nicht im Detail enthalten, aber der Eingeweihte kann den Stoff einem Clan zuordnen und kennt die damit verbundenen Rechte und Verpflichtungen des Trägers. Autorin Rae spricht deshalb von «den Geheimnissen dieses Tuchs». Zumal viele Stoffe nicht nur auf einen Clan, sondern auf eine Herkunftsregion verweisen, ähnlich wie die Schweizer Trachten im 19. Jahrhundert.

Die rechteckigen Zeichnungen sind in den Büchern des Lord Lyon King of Arms verzeichnet.Die Botschaften des Tartan nutzen Amerikaner oder Australier auf der Suche nach ihren Vorfahren. Sie freuen sich, wenn sie beim Lord Lyon entfernte Vorfahren von Clanmitgliedern ausmachen. Damit sind sie auch formal befugt, den entsprechenden Tartan zu tragen, sofern sie ihren Clan-Chief darum bitten, der es in der Regel grosszügig gewährt. Niemand landet jedoch im HMS Prison Shotts, dem berüchtigten Gefängnis, wenn er den Schottenrock eines Clans unautorisiert trägt. Aber das Vergehen zeugt laut Rae von «schlechtem Benehmen und mangelndem Respekt vor den schottischen Traditionen».

Im Mittelalter beruhte die Zugehörigkeit zu einem Clan auf Blutsverwandtschaft, das gälische Wort lässt sich mit «Kinder» übersetzen. Seit dem 16. Jahrhundert wurden die familiären Bande jedoch zusehends lockerer. Längst ist «ein Murray nicht mehr zwingend ein Verwandter des Clan-Chiefs», heisst es bei Rae. Er gehört einfach zur erweiterten Gruppe, was das Gefühl der Zugehörigkeit indes nicht mindern muss – im Gegenteil. Die Lektüre von «Secret Life» erinnert mitunter an kontinentaleuropäische Sippschaften in Sizilien, in der Normandie oder in Ostpreussen. Diese verfügen indes über keine stofflichen Identifikationsmuster; ein gemeinsames Wappen muss genügen.

Mythos über Plausibilität

Laut Rae ist dank den Clans die Verbundenheit mit der Vergangenheit in Schottland ausgeprägter als anderswo: «Es kann einem leicht passieren, dass jemand behauptet, ein Vorfahre habe 1764 in der Schlacht von Culloden bei Inverness gekämpft.» Damals festigten die Engländer ihre Vorherrschaft in Schottland, indem sie einen Aufstand der Jakobiter niederschlugen, die einen Anspruch auf die Krone des gesamten Königreichs erhoben. Schier unzählige Darstellungen der MacLachlans oder MacLeans in Tartanröcken erinnern an diese Auseinandersetzung stolzer Clankrieger. Selbst englische Künstler wie Joshua Reynolds setzten das Motiv auf der Leinwand um. Die historische Plausibilität des Outfits ist zwar gering; viel eher kämpften Schotten und Engländer in Lederkleidung und Metallrüstungen gegeneinander. Wichtiger ist aber der Mythos dahinter, denn die Clans im Karoschottenrock stehen für die Freiheit eines Volkes. Tartan wurde zum Symbol der Rebellion.

Dies erkannte der Schriftsteller Sir Walter Scott (1771–1832), wie Autorin Rae sagt, und erinnert an seinen Roman «Waverley», der den Jakobiter-Aufstand historiografisch schildert. Seine Heldenschilderung machte den Tartan zum Modestoff, nicht nur bei den Schotten, sondern überraschenderweise ebenso bei den Engländern. Als der damalige König George IV. Schottland besuchte, gehörte es zum guten Ton der Gastgeber, seine Majestät im Rock zu empfangen, zumal diese selbst Karo trug.

Trivialisierung durch Prinz Philip

Die spätere Königin Victoria und ihr deutscher Mann Albert wählten schliesslich Schloss Balmoral bei Aberdeen zu ihrem Lieblingssitz. Sie machten mit ihrer romantischen Schottenmanie den Tartan Mitte des 19. Jahrhunderts zum angesagten Modeteil, das nicht nur in Schottland, sondern in allen Teilen des Königreichs Anklang fand. Balmoral ist bis heute von besonderer emotionaler Bedeutung für die Monarchie, ist doch Queen Elisabeth II. letztes Jahr dort verstorben. Ihr Ehemann Philip war Herzog von Edinburg und liebte es, im Kilt zu posieren, als ob er selbst ein Clan-Chief gewesen wäre. Autorin Rae schreibt allerdings von «gemischten Gefühlen» der Einheimischen: «Es freut sie, dass ein nationales Symbol so grosse Anerkennung gefunden hat. Anderseits bedauern sie die Trivialisierung.»

In den letzten Jahrzehnten akzentuierte sich das schottische Nationalbewusstsein. Die Clans haben zwar ihre einstige politische Bedeutung längst verloren, doch der Tartan bietet sich weiterhin als Projektionsfläche an. Rae sieht den Zusammenhang zwischen dem Ruf nach Unabhängigkeit und der Nationalkleidung differenziert: «Schottland ist ein stolzes Land, in dem sich viele finden», sagt sie. «Der Tartan ist schon immer ein politisches Bekenntnis gewesen. Wir schwenken ihn wie eine Fahne gegenüber Westminster.» Sie vermeidet aber das Reizwort «Unabhängigkeit» tunlichst.

Die Clans im Karoschottenrock stehen für die Freiheit. Tartan wurde zum Symbol der Rebellion.Der schottische Kleiderschrank hat noch mehr zu bieten als die Vielfalt des Tartan – den Tweed. Er stammt von den nördlichen Hebrideninseln Harris und Lewis und erlebte ebenfalls im 19. Jahrhundert ein Revival. Rae bezeichnet ihn als «nahen Verwandten des Tartan», auch wenn er farblich diskreter daherkommt. Rae hat darüber ihr neuestes Buch verfasst und ist auf eine etwas überraschende Erkenntnis gestossen: Im Mittelalter liessen sich Tartan und Tweed nur schwer unterscheiden. Später entwickelten sie sich unterschiedlich – blasser der Tweed, farbiger der Tartan. Die Clans entschieden sich für die bunte Variante; sie ist kämpferischer.

Vixy Rae: The Secret Life of Tartan – How a Cloth Shaped a Nation. Black & White Publishing. 304 S., Fr. 38.90