Der Kongress bot allerlei Gescheites über «Das Unbewusste in Zürich», und das Unbewusste hat in Zürich ein Heimspiel. An keinem andern Ort der Welt kommt auf eine so kleine Einwohnerzahl eine so grosse Anzahl Psycho-Praxen. Über zehn Seiten beansprucht die Branche im Telefonbuch, wusste der Stadtpräsident in seinem «Grusswort» an die Kongressgemeinde zu berichten. Zürich, die zweite Hauptstadt der Tiefenpsychologie neben Wien. Daniel Hell, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, referierte über einen seiner Vorgänger: «Eugen Bleulers Seelenverständnis und die Moderne». Bleulers Lebenswerk sei darauf ausgerichtet gewesen, «das Menschliche im Geisteskranken zu würdigen». Der Schriftsteller Adolf Muschg wiederum würdigte die Klinik unter Eugen Bleulers Leitung als ein «Vorzeigestück avancierter Zürcher Gesundheitspolitik». Heile Welt der Psychiatrie?
Es war ein Kongress von Unbeirrten, damals im Juni 2000. Zur gleichen Zeit prägte sich das Burghölzli einer breiteren Öffentlichkeit ganz anders ein. Im Mittelpunkt stand nicht das Bleulersche Seelenverständnis, sondern die eugenische und rassenhygienische Schattenwirtschaft, die unter Eugen Bleuler im Burghölzli gedieh. Man erfuhr besonders aus journalistischen Recherchen (hervorgehoben sei das 1999 erschienene Buch «Hirnriss» des ehemaligen Weltwoche-Autors Willi Wottreng), dass Zürich nach 1900 vielleicht Metropole der Psychoanalyse, bestimmt aber eine Hochburg der Eugenik war. Mindestens bis 1987 wurden geistig behinderte oder sich asozial verhaltende, jedenfalls «abnormale» Frauen (auch Männer) gegen ihren Willen sterilisiert oder kastriert.
Biograf des «Sitten-Fuchses»
Die späte Aufdeckung einer Sozialpolitik, die mehr mit Schädlingsbekämpfung als Fürsorge zu tun hatte, führte zu parlamentarischen Vorstössen auf städtischer, kantonaler und zuletzt auf Bundesebene: Man verlangte historische Untersuchungen und darüber hinaus ein Gesetz, um die Opfer zu entschädigen. Das Sozialdepartement der Stadt Zürich liess seine fürsorgepolitische Vergangenheit von Thomas Huonker durchleuchten, einem erprobten Fachmann, der für die Bergier-Kommission den Band «Schweizer Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus» mitverfasst hat.
Zudem hat sich Huonker bleibende Verdienste erworben als Biograf und Herausgeber des Erotiksammlers und Sittenhistorikers Eduard Fuchs, genannt «Sitten-Fuchs». Vor einem Jahr stellte Huonker seinen Fürsorge-Bericht vor, mit zahlreichen Fallstudien über Zwangssterilisationen, Zwangskastrationen, Kindswegnahmen, Eheverboten, Euthanasiefantasien. Nun erscheint die Arbeit in ergänzter, gut lesbarer Form als Buch unter dem Titel «Diagnose: ‹moralisch defekt›» und liefert erstmals eine gründliche Geschichte der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie zwischen 1890 und 1970.
«Ein grosser Haufen Minderwertiger»
Das Wort «Eugenik» leitet sich nicht aus Eugen Bleulers Vornamen ab. Der Begriff geht auf Francis Galton, einen Vetter Darwins, zurück, der schon Ende des 19. Jahrhunderts überzeugt war, dass physische wie psychische Eigenschaften eines Menschen erblich seien und alles getan werden müsse, um eine Auslese der «Besten» zu erhalten und Unwürdige an der Fortpflanzung zu hindern.
Als ein Gründervater der eugenischen und rassenhygienischen Bewegung gilt der berühmte Waadtländer Ameisenforscher und Burghölzli-Direktor August Forel. Er äusserte sich kompromisslos: «Wir haben hier nicht nur Idioten und Geisteskranke, sondern einen grossen Haufen Minderwertiger [...], von Untermenschen wimmelt es und bei ihnen ist die Beschränkung der Zeugung am Platz.» Forel, eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, verstand nicht, wie man sich einer «rationellen, eugenischen menschlichen Zuchtwahl» entgegenstemmen konnte.
Der Übergang von der Eugenik zur Euthanasie war fliessend: Forel schrieb 1903: «Früher, in der guten alten Zeit, machte man mit unfähigen, ungenügenden Menschen kürzeren Prozess als heute. Eine ungeheure Zahl pathologischer Hirne, die [...] die Gesellschaft schädigten, wurden kurz und bündig hingerichtet, gehängt oder geköpft [...].» Sein Nachfolger Eugen Bleuler, auch er an sich ein Psychiater mit sozialreformerischer Ader, war der Ansicht, Hinrichtungen würden die Gesellschaft «von der Sorge um den Delinquenten» befreien und «die Zeugung einer ähnlich gearteten Nachkommenschaft» verunmöglichen.
Es gab schlimmere Eugeniker als Forel und Bleuler, sogar in der Schweiz, aber auf ihre sozialhygienischen Rezepte stützten sich bis vor zwanzig Jahren Psychiater, Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden im ganzen Land. Oft hatten die Patienten nur die Wahl, lange oder dauernd interniert zu bleiben oder sich sterilisieren zu lassen. Huonker kennt keinen Fall, wo die Operation ohne Zwang vorgenommen wurde. Sterilisiert oder kastriert wurde, wer im Ruf stand, «sexuell zügellos» (Bleuler), liederlich, homosexuell, vagabundierend, verkrüppelt oder sonst degeneriert zu sein.
Fest angestellte Sozialspitzel
Dank der kontrollwütigen Sozialämter mussten unsere Eugeniker nie über Nachschub an frisch assortiertem Menschenmaterial klagen. In Zürich schnüffelte der «Erkundigungsdienst» bis 1990. Zuweilen genügte eine anonyme Denunziation, um ins fürsorgliche Visier genommen zu werden. 1937 leistete sich die Stadt 28 fest angestellte Sozialspitzel und etliche Aushilfsinformanten mit gut bemessenem Jahressalär inklusive GA für das Zürcher Tram- und Busnetz.
Das offizielle Jobprofil: «Beobachten, riechen, fragen, anordnen!», stellte keine besonderen Anforderungen. Die Historikerin Nadja Ramsauer hat in ihrer Studie «Verwahrlost» detailliert beschrieben, wie «Fürsorgehülfinnen» aus der Mittel- und Oberschicht die Lebensverhältnisse von Frauen aus der Unterschicht überwachten, ob sie «Herrenbesuch» empfangen, in der Welt «herumvaganten» oder die Kinder falsch erziehen. Die staatlich besoldeten Spitzelinnen sollen bei ihren unangemeldeten Visiten manchmal weisse Handschuhe getragen haben. Dieser soziale Schnüffelstaat ist im Gegensatz zum politischen nie Gegenstand öffentlicher Debatten geworden, obwohl er vermutlich mehr Opfer forderte. Genaue Zahlen kann auch Thomas Huonker nicht liefern.
Die angewandte Eugenik trug der Schweiz 1934 Lob aus dem Dritten Reich ein. Man kann sich das böse Erwachen von Flüchtlingen aus dem NS-Staat vorstellen, die in die Schweiz flohen, um der nazistischen Zwangssterilisation zu entgehen. Weil der Hausierer Franz S. als Kommunist mehrmals den Moskauer Sender gehört habe, war er als «Hochverräter» zunächst mit Arbeitslager bestraft und danach psychiatrisiert worden. Der Zwangssterilisation entzog er sich durch Flucht in die Schweiz. Ein «unerwünschter» Gast, befand der zuständige Polizeiabteilungsleiter. Nicht verfolgt genug, um Asyl zu erhalten.
Die unfreiwillige Sterilisation widerspreche der schweizerischen «ordre public» nicht. Der Beamte bekannte sich geradezu schwärmerisch zur Eugenik. Sein Vorgesetzter, der berüchtigte Heinrich Rothmund, liess dann Milde walten. Franz S. wurde in Witzwil interniert statt ausgeschafft. Ausgeschafft wurde aber noch 1944, wie Huonker schreibt, der Sinto Anton Reinhardt, der vor der Zwangssterilisation im Spital Waldshut geflohen und über den Rhein geschwommen war. Die SS ermordete ihn am Ostersamstag 1945.
Rückfall in die eugenische Barbarei?
Nach dem Krieg aberkannte der Bundesrat dem führenden Schweizer Rassenhygieniker Ernst Rüdin das Bürgerrecht. Der in München tätige Profiteur der Nazi-Herrschaft hatte unter anderem das am 14. Juli 1933 vom Deutschen Reich erlassene «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» wesentlich mitgestaltet. An Rüdin wurde ein Exempel statuiert.
Die Eugenik geriet als Theorie in Verruf, überstand in der Praxis jedoch vorerst alle Anfeindungen. Unter den Kuppeln der Schweizer Universitäten war noch Platz für manchen leidenschaftlichen Anhänger des sterilisierfreudigen Forschungszweigs: Zürich etwa berief 1946 den Physiologen Emil Abderhalden, bis Kriegsende Professor und Geheimrat in Halle, auf den Lehrstuhl für Physiologische Chemie. Besonders rüstig blieb der Zürcher Professor Ernst Hanhart, einst Mitherausgeber des Nazi-Standardwerks «Handbuch der Erbbiologie des Menschen». Er schrieb noch 1972 über die Erfolge von «eugenischen Beratungen». Seine Studenten fahndeten unter der Bergbevölkerung nach verdächtigen «Sippen».
Die Frage nach dem Erbe der Eugenik stellt sich heute: Ist es wirklich ein Rückfall in eugenische Barbarei, wenn mit Hilfe der Präimplantationsdiagnostik verhindert werden kann, dass ein Kind ein defektes Gen erbt und wie seine Mutter an einer Frühform von Alzheimer erkrankt? Oder was die Euthanasie betrifft: Schlägt die nazistische Mentalität wieder durch, wenn aktive Sterbehilfe entkriminalisiert wird? Zürich hob vor zwei Jahren das Verbot der Beihilfe zum Suizid in Alters- und Krankenheimen auf, und wie der Stadtrat vor einigen Tagen bekannt gab, kam es deswegen nicht zu mehr Selbsttötungen. Rechte wie linke Bedenkenträger, die eine «Suizidwelle» befürchteten, sind verstummt.
Ein Übel, das sich selber ausrottet
Die meisten historischen Studien zur eugenischen Schweizer Sozialpolitik – und erfreulicherweise sind in den letzten Jahren etliche neu entstanden – enden wegen der Schutzfristen spätestens um 1970 und halten sich mit Vergleichen zu aktuellen gentechnischen Experimenten betreffend Erblichkeit und Erbsubstanz zurück. Dass es heute problematisch wäre, die Augen vor der unheilvollen eugenischen Vergangenheit zu verschliessen, ist ohnehin allen klar. Andererseits «degeneriert» die Diskussion über die moderne Gen- und Biotechnologie, wenn immer nur das Schreckgespenst der alten Eugenik an die Wand gemalt wird.
Den grössenwahnsinnigen Rassenhygienikern ging es um die Veredelung der gesamten Population. Sie wollten Schöpfungsgeschichte treiben. Stattdessen brachten sie unsägliches Leid über Tausende Unschuldiger. Frei nach Karl Kraus war die Eugenik selber das Übel, das sie auszurotten versprach. Die meisten Gentechnologen haben viel weniger zu bieten und deshalb vielleicht mehr: Sie tragen dazu bei, individuelles Leiden zu mindern.
Thomas Huonker: Diagnose: «moralisch defekt». Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970. Orell Füssli. 280 S., Fr. 49.– Buchvernissage: 25. März, 19.30 Uhr, in der Zürcher Buchhandlung Helvetiaplatz