Democracy in Action

Banner am Europäischen Parlament

 

Es ist nie zu früh, sich das Ende der Welt vorzustellen.

Alte Weisheit

 

Deutschland, Deutschland über allen

Rammstein

 

Brüssel

Fabio De Masi, ein linker Finanzpolitiker im Europaparlament, ein Mann also, der Steueroasen trockenlegen will, ist aus bürgerlicher Schweizer Perspektive so etwas wie der Antichrist. Aber dann, als wir frühmorgens mit ihm durch Brüssel spazieren, will der Antichrist gar nicht den Paradeplatz niederbrennen. Stattdessen sagt der Mann, der an mehreren EU-Untersuchungsausschüssen zu organisiertem Steuerbetrug beteiligt war, es sei ja sehr verständlich, dass die Schweiz das Bankgeheimnis verteidige: «Es war gewissermassen die Lebensversicherung für ein kleines Land, das von grossen Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien umgeben ist.» Es sei auch kein Zufall, dass Schattenfinanzplätze wie Malta ähnlich funktionierten. Länder ohne militärische Absicherung setzten oft auf Finanzgeschäfte als wirtschaftliche Überlebensstrategie. «Das ist in dem Sinne keine moralische Frage, sondern ziemlich rational», sagt De Masi.

Bald ist es vorbei mit Pragmatismus, und mein Laptop beginnt im Hotelzimmer in Brüssel zu rauchen vor Gebrüll in Deutschland. Spiegel-TV-Livestream: sechzig Stunden Bundestagskrawall, Wagenknecht-Spitzengespräch, Nazi-Schläger irgendwo im Osten.

 

«Herr Kollege Merz: Kehren Sie um!»

Im Bundestag buht und schreit man sich gegenseitig nieder, weil der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz der AfD die Hand gereicht habe, und Linksradikale stürmen ein CDU-Büro irgendwo in Niedersachsen und hängen ein Transparent vom Balkon, da steht «Friedrich von Hindenburg» drauf, also der Vorname des CDU-Chefs und der Nachname des Reichspräsidenten, der Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannte.

«Erst mal besteht die Gefahr, dass mit Stimmen der AfD Recht und Gesetz, Recht und Gesetz – und was ist das? Es ist das Fundament unserer Demokratie! – im Bundestag geändert wird und Deutschland aus der Mitte Europas heraustritt», schreit der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich ins Hotelzimmer. So kurz vor der Bundestagswahl liegen die Nerven blank. «Ich kann nur sagen, Herr Kollege Merz: Kehren Sie um! Das wäre das Beste für unser Land. [. . .] Der Sündenfall wird Sie für immer begleiten. Aber das Tor zur Hölle, ja, ich sage es, das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schliessen. Sie müssen die Brandmauer – Sie müssen die Brandmauer wieder hochziehen!»

Mich erreichen Memes der Satirezeitschrift Titanic, in denen Friedrich Merz als Hitler dargestellt wird, denn ohne Dauernazivergleich geht es nicht in Germany, aber ohne Nazis offenbar auch nicht: Spiegel-TV springt weiter, und eine Neonazigruppe namens Elblandrevolte macht im Osten im Jahr 2025 Jagd auf Menschen, und einer jungen Frau, einer Politikerin von den Linken, treten die Nazis gegen den Kopf, als sie am Boden liegt, und verletzen sie schwer.

Selbstverständlich liest auf unserer siebenstündigen Zugreise von Zürich nach Brüssel die ältere, gutgekleidete Dame neben mir eine linksradikale Lokalpostille, die Trump als Faschisten bezeichnet, und der feingliedrige Mann mit Hornbrille, schwarzem Rollkragenpullover, Röhrenjeans und braunen Schnürlederschuhen schräg gegenüber eine französische Ausgabe von Judith Butlers «Who’s Afraid of Gender?», als wolle man dem Schweizer Journalisten illustrieren, wohin die Reise geht, nämlich ins dunkle Herz der Bürokratenfinsternis Europas.

 

Ein bisschen Monty Python

Diese Tage, da bin ich ehrlich mit Ihnen, geschätzte Leserschaft, sind für Menschen wie mich, also Menschen links von Björn Höcke, nicht ganz stressbefreit, und das hat neben Donald Trump auch viel mit Deutschland zu tun, ein Nachbarland am Rande des Nervenzusammenbruchs.

2014 bis 2017 sass Finanzpolitiker Fabio De Masi, mit dem ich in diesen Tagen über die vielfältigen politischen Verwerfungen in Deutschland sprechen will, erstmals im Europaparlament, damals für Die Linke. Später war er Mitglied des Deutschen Bundestags und dort Obmann im Wirecard-Untersuchungsausschuss. Er war als Europaparlamentarier Mitglied im Sonderausschuss zu den «Luxembourg Leaks» sowie stellvertretender Vorsitzender des «Panama Papers»-Ausschusses.

Die Gedächtnislücken des Bundeskanzlers sind deutsche Zeitgeschichte.

Im Finanzausschuss des Bundestags machte De Masi Bundeskanzler Olaf Scholz die Hölle heiss wegen dessen Treffen mit dem Chef der Hamburger Privatbank Warburg, die in einen Milliardensteuerbetrug namens Cum Ex verwickelt war (Scholz war zum Zeitpunkt der Treffen, als die Hamburger Steuerbehörden gegen die Bank ermittelten, Hamburgs Erster Bürgermeister). Scholz konnte sich zuerst nicht an die Treffen erinnern, und dann, als er, gegrillt von De Masi, die Treffen eingestand, da konnte er sich nicht mehr an den Inhalt der Gespräche erinnern, und diese Gedächtnislücken des Bundeskanzlers, die ihm natürlich niemand glaubte, sind deutsche Zeitgeschichte. Scholz betonte, seine Treffen mit dem Warburg-Chef hätten keinen Einfluss auf die Entscheidung des Hamburger Finanzamts gehabt, auf eine ursprünglich geplante Rückforderung von 47 Millionen Euro schliesslich zu verzichten.

In den gemeinsamen Tagen in Brüssel wird Fabio De Masi sagen, trotz der ganzen Kritik an Scholz sei er mit Blick auf den Ukraine-Konflikt ja eigentlich froh, dass der Bundeskanzler Scholz geheissen habe und nicht «Anton Hofreiter oder Annalena Baerbock, denn die Grünen sind heute aussenpolitisch das, was die Neokonservativen in den USA waren». Und von Wirtschaftsminister Habeck möge er gar nicht erst anfangen, sagt der BSW-Finanzpolitiker. «Drei Jahre Rezession, und trotzdem fühlt er sich berufen, Bundeskanzler zu werden, was viel aussagt über Zustand und Schizophrenie in der Politik.»

Im September 2022 erklärte der heute 44-Jährige auf Twitter seinen Parteiaustritt bei der Linken. Er wolle «nicht mehr in Verantwortung für das eklatante Versagen der massgeblichen Akteure in dieser Partei genommen werden». 2024 verkündete De Masi dann, als Spitzenkandidat für das Bündnis Sahra Wagenknecht für die Europawahlen zu kandidieren, und das macht ihn als Gesprächspartner im Moment natürlich besonders interessant, denn diesem politischen Phänomen, angetrieben von enttäuschten Ex-Linken und bei den ersten Landtagswahlen durchgestartet (obwohl die Medien das BSW in Grund und Boden schrieben), droht bei den Bundestagswahlen der Absturz.

Beim Gespräch mit De Masi über die innerlinken Zerwürfnisse zeigt sich: Es ist mit den parlamentarischen Linken in Deutschland, die sich als Opposition zur Bundesregierung verstanden haben wollen, ein bisschen so wie mit den Widerstandsgruppen aus der Satirekomödie «Monty Python’s Life of Brian» von 1979, die gegen die römische Besatzung kämpfen, die Volksfront von Judäa und die Judäische Volksfront, aber noch viel mehr als die Römer hassen sich die Widerstandsgruppen gegenseitig.

Die Partei Die Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit (BSW) –, diese beiden Parteien bestehen zusammengenommen momentan aus gefühlt knapp fünfzig Leuten und sind dabei aber dermassen zerstritten, dass die Mitglieder der Linken einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn man die vom BSW als «Linke» bezeichnet – die seien wegen ihrer Migrationsposition Steigbügelhalter der AfD.

Die Ex-Linken vom BSW wiederum sagen, Die Linke habe mit einer identitätspolitischen Akademikerpolitik die Arbeiter in die Hände der AfD getrieben, weil die gar nicht mehr verstünden, wovon Die Linke überhaupt rede mit ihrem Gendern, wo man bei Fehlverhalten aus dem Sozialleben gecancelt werde. Und das habe mit Antifaschismus nichts zu tun, im Gegenteil. Kurz: Man findet nicht mehr zusammen, und mit ein bisschen Pech, so schlecht steht es nämlich in den aktuellen Umfragen für beide Parteien, fliegt man am 23. Februar gleich auch noch gemeinsam aus dem Bundestag, während die AfD bei 23 Prozent steht, und dann hat man den Schaden.

 

«Man wollte Sie töten?»

Zwei Jahre ist es nun her, da musste Fabio De Masi, inzwischen aus der Linken ausgetreten, wegen einer Drohung in Südafrika sein Auto komplett auseinanderschrauben lassen. Das erzählt er, während er uns in seinem Brüsseler Büro einen hervorragenden Espresso serviert. Und zwar wegen Recherchen für sein Buch, an dem er seit 2022 arbeitet und das noch dieses Jahr bei Rowohlt erscheinen soll. Glaubt man dem Titel, kommt das Buch gerade recht: «Geld, Macht, Verbrechen: Wie wir die Demokratie vor Finanzkriminellen und dem grossen Geld schützen».

«Drei Jahre Rezession, und trotzdem fühlt sich der Wirtschaftsminister berufen, Bundeskanzler zu werden.»

«Im Buch geht es unter anderem um Wirecard», sagt der Finanzpolitiker, einen der grössten Finanzskandale Deutschlands, bei dem das DAX-notierte Unternehmen 2020 zusammenbrach, nachdem bekannt wurde, dass 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz fehlten. Fabio De Masi war der erste deutsche Politiker, der nach ersten Berichten in der Financial Times im Jahr 2015 über Unstimmigkeiten in der Wirecard-Bilanz kritische Fragen zum Unternehmen stellte. De Masi war auch der Erste, der mit Blick auf Wirecard nicht nur von einem Finanzskandal, sondern auch von einem Geheimdienstskandal sprach. Dass es also nicht nur um systematischen Bilanzbetrug ging und um mangelnde Kontrolle von Wirtschaftsprüfern und Aufsichtsbehörden, sondern um die Frage, wer alles Einblick hatte in die Geldflüsse und Zahlungsabwicklungen, also mögliche Geldwäscherei und illegale Transaktionen und ein riesiger Schwall kompromittierenden Datenmaterials.

«Ich erhielt in Südafrika Drohungen. So konkret, dass man mein Auto auseinanderschrauben musste. Ich weiss nicht, von wem die Drohungen kamen. Es ist davon auszugehen, dass sie mit meinen Wirecard-Recherchen zusammenhängen.»

«Verstehe ich Sie richtig, Fabio De Masi: Man wollte Sie töten?»

«Mehr will ich dazu im Moment nicht sagen», sagt er.

«Die Wirecard-Geschichte begann zu einer Zeit, als die Server noch Minuten brauchten, um sich mit dem Internet zu verbinden, und dabei die komischen Üüü-ööö-Geräusche machten», sagt De Masi. «Das Unternehmen stellte eine schnelle Datenautobahn zur Verfügung, zu horrenden Kosten in der Telefonrechnung, die häufig für Pornografie gebraucht wurde. Damals gab es noch keine Smartphones, keinen blühenden Online-Handel. Wirecard war die frühe Marktführerin, wenn es darum ging, Datenspuren zu sammeln, die Kunden hinterlassen hatten. Das Unternehmen konnte Rückschlüsse ziehen über Einkommen, Konsumgewohnheiten und sexuelle Vorlieben. Theoretisch verfügt man so schnell über eine riesige Menge von Daten, die kompromittierend sein können.»

 

Champagner-Party in der Marx-Brasserie

Im Herbst 2020, nachdem das Kartenhaus zusammengebrochen war, setzte der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags, dem De Masi angehörte, unter anderem einen Sonderermittler ein, der mögliche Verbindungen zwischen Wirecard und den Geheimdiensten aufklären sollte. Ein paar Wochen zuvor war Jan Marsalek, der wegen Milliardenbetrugs gesuchte ehemalige Wirecard-Manager, die Flucht aus Österreich gelungen. Das letzte Mal sah man ihn am 18. Juni 2020 auf dem österreichischen Flugplatz Vöslau mit Martin W., einem früheren hochrangigen Abteilungsleiter des österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Einen Tag später stieg er in ein Flugzeug nach Minsk. Dann verlor sich seine Spur.

Während wir an einem der Brüsseler Tage in einem Café in der Nähe seiner Wohnung sitzen und über Finanzskandale reden und über ein System, in dem ein paar wenige immer reicher werden, da erzählt Fabio De Masi irgendwann von seiner Mutter.

«Als ich klein war, lebten wir in einer winzigen Wohnung in Darmstadt in der Nähe der Militärkaserne», sagt De Masi. «Ich weiss nicht, ob das eine Sozialwohnung war, aber auf jeden Fall keine sehr luxuriöse Wohnung. Wenn wir Verstecken spielten, war das immer sehr schnell vorbei, denn der einzige Ort, wo man sich in der winzigen Wohnung verstecken konnte, war die Badewanne.

Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist, wie meine Mutter auf dem Bett liegt und weint, weil sie nicht mehr weiss, ob sie es finanziell schafft. Das brennt sich ein, das kriegt man nicht mehr los. Später hatte ich darum auch immer das Gefühl, ich müsse ein bisschen härter arbeiten als andere. Für mein erstes Auslandsstudium war ich bis über beide Ohren verschuldet und konnte das erst abzahlen, als ich das erste Mal ins Europaparlament gewählt wurde. Von diesem Gefühl der Unsicherheit bin ich nie losgekommen, obwohl ich heute ein Spitzenverdiener bin. Der Angst nämlich, es könnte einem den Boden unter den Füssen wegziehen, und man könnte vor dem Nichts stehen.

Diese Prägung ist der Grund, warum ich bei feinen Pinkeln, die alles auf dem Serviertablett bekommen haben, immer einen Klassenstandpunkt eingenommen habe. Wenn ich dann jemanden wie Markus Braun, den Vorstandsvorsitzenden von Wirecard, im Parlamentsausschuss vernahm oder einen Cum-Ex-Beteiligten, spürte ich jeweils sofort, wie die selbst auf jemanden wie mich, der als Abgeordneter zu den statistischen Spitzenverdienern zählt, herabblickten. Wie das eine Zumutung war für diese feinen Herren, dass die sich von mir überhaupt befragen lassen mussten. In diesen Momenten dachte ich an meine Mutter, die noch nicht mal eine Briefmarke falsch angeklebt hätte, obwohl sie jeden Tag kämpfen musste. Und ich wusste: Diese arroganten Pinkel nehme ich in die Mangel.

«Was Papst Franziskus sagt, ist genau das, was früher die klassische Linke vertreten hat.»

Und in dieser Einfachheit und Klarheit muss man das eben auch sehen bei solchen Finanzermittlungen, wo sich feine Herren durch Betrug bereichert haben. Und dann muss man diese Leute eben auch als das behandeln, was sie sind: gewöhnliche Räuber und Diebe.»

Auf dem Besprechungstisch von BSW-Spitzenpolitiker Fabio De Masi in dessen Büro im vertrackten, riesigen Brüsseler Europaparlament steht keine Büste von Karl Marx, sondern eine Kartonbüste von Papst Franziskus, und was soll das denn jetzt, bitte?

«Ursprünglich hatte ich den Papst sogar als Pappfigur in Lebensgrösse hier rumstehen, jetzt habe ich noch diese Minivariante», sagt er. «Papst Franziskus gehört noch zu den Besten, die wir heute haben. Ich bin zwar, wie das als Italiener so ist, als kulturelle Mitgift katholisch. Aber ich bin keineswegs tiefreligiös. Trotzdem finde ich das Schreiben von Franziskus, das «Evangelii gaudium», und das, was Papst Franziskus sagt – insbesondere zum Ukraine-Konflikt –, bemerkenswert. Denn das ist genau das, was früher die klassische Linke vertreten hat.»

«Was sagt er denn, was die klassische Linke früher gesagt hat?», frage ich.

«Er steht für Diplomatie, Verhandlungen und Entspannungspolitik ein. Er betrachtet den Konflikt aus mehreren Perspektiven. Natürlich rechtfertigt das nicht den russischen Angriff – aber man muss anerkennen, dass Russland kein Interesse daran hat, dass Nato-Raketen mit immer grösserer Reichweite direkt an seiner Grenze stationiert werden. Sonst müsste man auch sagen, dass es in Ordnung war, dass die Kubaner damals sowjetische Raketen stationierten. Doch das fanden die USA nicht akzeptabel – genauso wenig würden sie es wohl hinnehmen, wenn Mexiko einem Militärbündnis mit China beitreten würde. Sicherheitspuffer und strategische Abstände sind wichtig. Gleichzeitig darf die Ukraine nicht zum Aufmarschgebiet Russlands werden. Papst Franziskus spricht diese komplexen Zusammenhänge an – genauso wie er die übermächtigen Finanzmärkte und die sozialen Verwerfungen des Kapitalismus kritisiert.»

Notiz: Die Kneipe, in der Karl Marx während seiner drei Jahre in Brüssel laut Fabio De Masi am «Kommunistischen Manifest» gearbeitet hat (oder zumindest laut Plakette an der Hauswand eine Silvesternacht verbrachte), das Restaurant «La Maison du Cygne» an der Grand-Place in Brüssel, dem Unesco-Weltkulturerbe mit dem gotischen Rathaus, einem der schönsten Plätze der Welt und kein klassisches Arbeiterquartier, diese Kneipe beziehungsweise Brasserie ist am Tag unseres Besuchs, wo wir dort auf den Kommunismus anstossen wollen, leider geschlossen wegen eines Privatanlasses von Laurent-Perrier-Champagner.

Die klassische Linke habe sich durch die elitäre Identitätspolitik wegführen lassen von den Konfliktlinien zwischen Arbeit und Kapital, sagt De Masi, und dann sprudelt es aus ihm heraus wie aus einer Flasche Laurent-Perrier. Und ich will ihn reden lassen, dazu bin ich ja hier und auch deshalb, weil ich das Bündnis Sahra Wagenknecht bis heute nicht ganz fassen kann, ein aus der Linken hervorgegangenes Projekt, das bei jeder Gelegenheit von «unkontrollierter Migration» spricht.

In der Friedenspolitik habe die klassische Linke beweisen müssen, dass man Waffenlieferungen unterstütze, und dadurch habe sie die Rechte gestärkt. «Und das ist das Drama», sagt De Masi. «Die AfD ist im Kern keine Friedenspartei. Teile der Partei befürworten Netanjahus Vorgehen in Gaza. Frau Weidel selbst ist für Hochrüstung. Sie kann sich mehr als 5 Prozent des BIP, fast die Hälfte des Bundeshaushalts, für den militärisch-industriellen Komplex vorstellen. Die AfD ist eine Partei der Superreichen, insofern passt das ja auch, dass sie Fan ist von Elon Musk. Sie steht für eine Teilprivatisierung des Rentensystems, für die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur und für Steuererleichterungen für Reiche. Aber viele Menschen sind verzweifelt. Die sagen mir: Was soll ich denn sonst wählen? Die nehmen die Linken als Teil des Establishments wahr mit diesen identitätspolitischen Diskursen, die man ohne Hochschulabschluss nicht wirklich versteht. Diese Leute wählen die AfD, obwohl sie vermutlich ahnen, dass diese Partei eine Partei des oberen einen Prozents ist. Gucken Sie sich doch mal Frau Weidel an. Ich weiss nicht mal, wann die das letzte Mal Steuern bezahlt hat in Deutschland. Die lebt ja nicht umsonst in der Schweiz. Und dann schwingt sie ständig so patriotische Reden.»

Die Linke kümmere sich nicht mehr um Substanzielles, sondern poliere Fassaden. «Wenn Sie den Kampf um Sprache führen, müssen Sie keinen realen Kampf mehr führen. Sie können sich besser fühlen, Sie gendern jetzt, aber überwiegend leben immer noch Frauen in der Altersarmut und haben keine gesicherten Rentenansprüche. Da wird nichts gemacht. Aber Hauptsache, im Proseminar eine Trigger-Warnung ausgesprochen.» Und das habe die klassische Linke letztlich mit Donald Trump gemeinsam, ist De Masi überzeugt, Fassaden polieren, «denn auch Trump betreibt Identitätspolitik, einfach für weisse Arbeiter».

 

«Schlüsselmoment mit Marine Le Pen»

Die Menschen würden wie auf Eiern gehen aus Angst, gecancelt zu werden beim Verwenden falscher Wörter, und Amazon lege in seinen Studios fest, dass nur noch homosexuelle Schauspieler homosexuelle Charaktere spielen dürften, und der Kulturbetrieb feiere daraufhin die Diversity-Quote, aber wenn der schwarze Amazon-Arbeiter eine Gewerkschaft gründe, fliege er raus, und Hillary Clinton bezeichne sich als Feministin, aber welche Frauen vertrete sie eigentlich? «Die Frauen, die unter den Regime-Change-Kriegen leiden mussten – mit Zerstörung, Vergewaltigung und Flucht? Die Frauen an der Wall Street? Oder die Verkäuferin bei McDonald’s? Bernie Sanders ist ein alter weisser Mann, aber er hat sich im Gegensatz zu Clinton für die Frauen bei McDonald’s eingesetzt.» Und dann komme immer das Argument, man könne sich ja sehr wohl gleichzeitig für mehrere Dinge einsetzen, aber das stimme so leider nicht, sagt De Masi: «Denn es gibt eine Aufmerksamkeitsökonomie. Man hat nur begrenzte Ressourcen. Worauf lenkt man die politische Kraft?»

Was heute passiere, diese rechte Revolution, der erste Wahlsieg Trumps, all das könne man nicht ohne die Finanzkrise verstehen, sagt der Finanzpolitiker. Man könne es nicht verstehen ohne all die Menschen, die in den trailer parks gelandet und von Hillary Clinton als «Bemitleidenswerte» bezeichnet worden seien, die weissen Arbeiter im Rostgürtel. Auch darüber schreibe er im kommenden Buch: «Die Niederlage der Linken hat mit dieser Auseinandersetzung begonnen und mit der Unfähigkeit, auf die Finanzkrise eine Antwort zu finden.»

Verheerend sei es gewesen, dass der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras von Syriza 2015 ein Referendum über die Sparmassnahmen habe ansetzen lassen in der geheimen Hoffnung, das Referendum zu verlieren, um dann als Linker eine Ausrede zu haben, die verhassten EU-Vorgaben durchzusetzen. «Aber Tsipras hat die Abstimmung ungewollt gewonnen. Denn die Leute wollten keine Kürzungen, auch wenn sie wussten, dass das einen harten Wirtschaftskrieg mit der Troika bedeutete, den drei wichtigsten Gläubigern Griechenlands: der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds. Die EU erhöhte den Druck, Tsipras entliess seinen Finanzminister Varoufakis, der eine Parallelwährung einführen wollte, und setzte daraufhin die Sparmassnahmen um.»

Diese rechte Revolution, der erste Wahlsieg Trumps, all das kann man nicht ohne die Finanzkrise verstehen.

Eine Studie von schwedischen Zentralbankern habe 200 Wahlen in Europa ausgewertet und sei zum Schluss gekommen, dass Kürzungspolitik rechte Parteien stärke. Man könne, anders als linke Parteien, wie die FPÖ oder die AfD eine Rechtspartei sein und von neoliberaler Politik profitieren, weil man die sozialen Themen mit kulturellen Themen und der Migrationsthematik überdecke.

«Ich hatte einen Schlüsselmoment im Europäischen Parlament um das Jahr 2015, als Marine Le Pen eine Rede hielt. Eine Brandrede gegen die Kürzungspolitik. Hätten Sie nicht gewusst, wer da redet, wäre das eine bravouröse linke Rede gewesen. Da merkte ich, es rutscht was weg. Wenn wir uns heute, zehn Jahre später, umschauen: Überall sind die Linksparteien in einer grossen Krise, und die Rechte hat einen riesigen Aufschwung erlebt, und im Osten, im ehemaligen Milieu der Linken, ist die AfD eine Volkspartei.»

 

«Dein Adolf»

Deutschland und Internet – eher unangenehm gerade. Mein Tiktok-Algorithmus spielt mir bezüglich Deutschland nur noch Dinge rein, wo sich die Menschen von Berlin über Köln bis Riesa anschreien oder gleich direkt aufs Maul hauen. Pandemie, Ukraine, Migration, UFC, Bushido, du Hund, getrau dich nicht nach Berlin zurück, sonst wirst du gestochen, und Shindy, dein Sklave, gleich mit, MfG, Ihr Bundeskanzler.

Und Alice Weidels AfD ist quasi wie der Todesstern aus «Star Wars»: Je mehr man da politisch draufschiesst, desto grösser wird sie, denn der nächste radikalislamistische Mord an kleinen Kindern kommt bestimmt.

Allein die Art der Zuschriften nach einem publizierten Artikel unterscheidet sich fundamental, ist quasi ein Fiebermesser.

Aus der Schweiz eher: «Grüezi Herr Ryser, Sie haben leider keine Ahnung. Ihr Linken lernt es nie. Immer das Geld ausgeben, das ihr selbst nicht verdient habt. Andere Meinungen schon interessant, aber warum schreiben Sie nicht für die Woz? PS: Mein Onkel war bei der Gewerkschaft und im Gegensatz zu Ihnen ein Chrampfer. Freundliche Grüsse, Pirmin Z. aus G.»

Aus Deutschland eher: «Genickschuss, du linksversifftes Schwein, Dein Adolf.»

Wenn man sich nun also umschaut im wütenden Deutschland, spalten Linke und das BSW nicht nur die sogenannte Russland-Frage, die in Deutschland die Frage, wie man es mit den Covid-Massnahmen hält, in ihrer Heftigkeit im fliessenden Übergang abgelöst hat, sondern auch die Migrationsfrage, wo sich in den nächsten Tagen zeigen wird, wie sehr CDU-Chef Friedrich Merz sein Zusammengehen mit der AfD überhaupt geschadet hat und ob der Druck der konservativen Wähler, in dieser Angelegenheit endlich Härte zu demonstrieren, nicht mindestens so gross ist wie der Druck von links, keine Mehrheiten mit der AfD zu ermöglichen.

Die AfD ist wie der Todesstern aus «Star Wars»: Je mehr man politisch draufschiesst, desto grösser wird sie.

Als er über die Migration spricht, erzählt De Masi von seiner Familie, kommunistischen Landarbeitern aus Italien, wo der Vater nach Deutschland gekommen sei und wo er, der erste Studierte in der Familie, Deutschland schliesslich deprimiert wieder verlassen habe, weil er es trotz Studium nicht zu mehr geschafft habe als zum schlechtbezahlten Paketkleber. Er erzählt von den Türken auf der Hamburger Insel Veddel, die einen anderen, viel engeren Blick auf Migration hätten und die Merkel-Politik viel kritischer bewerten würden als das linksliberale Bürgertum, weil sie stärker von den Auswirkungen betroffen seien, denn Migration sei immer eine soziale Frage. Während der grüne Wähler im Prenzlauer Berg gerade mal dann Kontakt mit Migranten habe, wenn einer das Essen liefere oder die Wohnung putze, und die Kinder das Gymnasium und die Montessori-Schule besuchten. «Aus dieser Position lässt es sich leicht über jene Menschen die Nase rümpfen, die mit den sozialen Herausforderungen der Migration konfrontiert sind», sagt De Masi.

Die Menschen in den sogenannten Herkunftsländern, sagt De Masi, brauchten wirtschaftliche Perspektiven – und zwar dort, wo sie lebten. «Migration kann nur ein Symptom lindern, nicht die Ursache beseitigen.» Der Westen habe mit seiner Katastrophenpolitik überall Fluchtgründe geschaffen und verkaufe gleichzeitig die Migration als Ausweis besonderer Humanität, «während die meisten Geflüchteten aus Kriegsgebieten hier in der Perspektivlosigkeit landen».

Und dann, nachdem er dem Thema Migration einen längeren Vortrag gewidmet hat, sagt Fabio De Masi einen bemerkenswerten Satz: «Beim Migrationsthema gewinnen fast immer die AfD oder Parteien, die sich möglichst stark von der AfD abgrenzen.» Weiter sagt er: «Wir wiederum gewinnen, wenn die Friedensfrage im Mittelpunkt steht oder wenn wir die soziale Frage starkmachen. Aber die soziale Frage ist momentan völlig verdrängt, denn sie interessiert die Medien nicht. Unsere Partei erlebt diesbezüglich einen regelrechten Medienboykott.»

«Bedeutet Ihre Analyse, dass beim Thema Migration immer die AfD gewinnt, in der Konsequenz den Tod des BSW?»

«Wir stecken in einer Zwickmühle», sagt De Masi mit Blick auf die Abstimmung zum umstrittenen sogenannten Zustrombegrenzungsgesetz, jenem Gesetzesentwurf, wo während unseres Brüsseler Treffens im Berliner Bundestag die Fetzen fliegen. «Wenn wir nicht mit CDU, FDP und AfD stimmen, verlieren wir Stimmen im Osten. Aber wenn wir mit der AfD stimmen, verlieren wir Stimmen im Westen. Der Westen ist insgesamt elektoral wichtiger, aber der Osten ist für uns entscheidender. Dem Gesetz kann man grundsätzlich zustimmen, aber man kann gleichzeitig den Kontext nicht ignorieren.»

«Aus dieser Zwickmühle kommen Sie nicht raus, oder?»

«Wir existieren erst seit einem Jahr. Wir haben noch keine Stammwählerschaft. Was wir wissen: Laut einer Studie der Uni Mannheim waren wir die Einzigen, die das Wachstum der AfD zumindest dämpfen konnten. Wenn also die Politik der Grünen und der Linken die AfD stärkt, dann sind wir die Effektiveren im Kampf gegen die Rechten. Aber Bundestagswahlen sind fluid. Die Umfragen sind widersprüchlich. Manche zeigen uns bei 6 Prozent, andere bei 4. Das kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Wenn die Leute glauben, dass wir unter 5 Prozent liegen, könnten wir dadurch tatsächlich unter 5 Prozent rutschen, weil sie dann lieber ihre Stimme anderen geben, von denen sie hoffen, dass sie die Hürde schaffen. Wir befinden uns in der Todeszone. Die Grünen und die AfD sind zwar bei ihrer ersten Bundestagswahl ebenfalls nicht reingekommen. Aber anders als die AfD haben wir keine reichen deutschen Spender, die in der Schweiz wohnen. Wenn wir bei der Bundestagswahl scheitern, drohen wir politisch zu sterben.»

Die Medien, die würden das BSW in Grund und Boden schreiben, sagt De Masi, und womöglich hätten ein paar Verrückte die junge Partei auch unterwandert, um Chaos zu stiften. Man habe schliesslich zwei Optionen gehabt: Entweder man nehme zu Beginn viele Mitglieder auf, da würden ein paar Irre nicht auffallen. Oder aber man nehme nur wenige Mitglieder auf, dann aber sei man verpflichtet, genau hinzuschauen, und wenn die «brillante Sahra Wagenknecht» eine Schwäche habe, dann sei das die, dass sie zu gutgläubig sei den Menschen gegenüber. Und nachdem sie ihn angefragt hatte, als EU-Spitzenkandidat zu kandidieren, habe sie ihn kurz darauf gefragt, ob er nicht doch auch für den Bundestag kandidieren wolle. Diese Arbeit wäre eigentlich spannender, aber er sei jetzt gerade nach Brüssel gezogen und habe sich hier eine Wohnung gesucht, und man könne sich ja nicht wählen lassen und dann gleich wieder abtreten, das wäre unglaubwürdig. Und wie er da so redet über seine Minipartei, die aufgrund auch von mangelndem Top-Personal im Nichts zu verschwinden droht, könnte man das Gefühl bekommen, Fabio De Masi, einst ein Popstar der deutschen Linken, sei heute ein Mann ohne politische Heimat.

 

Neoliberale wie Obama

Im Spiegel-Spitzengespräch verteidigt Sahra Wagenknecht am Abend die Migrationspläne von Friedrich Merz. Man müsse den «Kontrollverlust bei der Migration» beenden, sagt sie, sonst werde die AfD weiter erstarken und die ausländerfeindliche Stimmung im Land zunehmen, es brauche eine «Atempause». Die Brandmauer-Debatte um die AfD halte sie für «krank», sagt sie, schliesslich werde die AfD nicht von Nazis gewählt, sondern von Menschen, deren Sorgen man ernst nehmen müsse. Tags darauf stimmt das BSW für das Zustrombegrenzungsgesetz.

Wo wir dann irgendwann während der langen Gespräche so deprimiert sind – der geliebte Kommunismus tot, die Linke während der Finanzkrise von Neoliberalen wie Obama ans Kreuz genagelt, die AfD steil nach oben, BSW und Linke kurz vor dem Sargnagel und ich mich eigentlich nur noch auf den vorzüglichen Laphroaig-Whisky in der Hotelbar freue –, da frage ich Fabio De Masi, ob wir, wenn wir in fünfzig Jahren in unseren Höhlen ums Feuer sitzen, uns womöglich fragen, ob die heutigen Jahre der Moment gewesen wären, wo wir das Steuer noch hätten herumreissen können.

«Ja», sagt er wie aus der Pistole geschossen.

«Wir sehen heute Mechanismen, die ich für brandgefährlich halte», sagt er. «Wir erleben den Aufstieg einer extremen Rechten, wir erleben Donald Trump an der Macht und scheinen nicht zu realisieren, dass dies das Ergebnis einer langen Entwicklung ist. Das alles ist nicht vom Himmel gefallen. Wir leben in einer Zeit einer massiven politischen Repräsentationslücke. Wenn sich jetzt das grosse Internetkapital mit der politischen Rechten verbündet, wird es düster. Wir haben eine Zeit der Hyperglobalisierung hinter uns, und Teile der Arbeiterschaft spüren intuitiv, dass diese nicht in ihrem Interesse ist, und die Rechten versprechen ihnen Schutz und Souveränität. Die Linke hat immer gesagt, wir müssen einfach mehr globalisieren und global regulieren. Aber die Leute sehen, die Regulierung findet nicht statt. Man muss nur die EU angucken: 27 Länder, da reicht eine Steueroase, um eine EU-weite Mindeststeuer, die Einstimmigkeit erfordert, zu verhindern. Die Linke hat den Nationalstaat als Schutzraum für die Interessen der sogenannten kleinen Leute aufgegeben. Und die Rechte ist in diese Lücke gestossen.»

Ob die heutigen Jahre der Moment gewesen wären, wo wir das Steuer noch hätten herumreissen können?

Und dann kehrt De Masi noch einmal zurück zu Wirecard, zu seiner Arbeit im EU-Sonderausschuss und zu seinem Buch, das bald erscheinen wird. Der Fall Wirecard sei schon früh ein Fenster in die heutige Zeit des Datenkapitalismus gewesen, sagt er. Wo im digitalen Meinungsraum ein Kampf um unsere Gedanken geführt werde. Ein Raum, der von ein paar US-Oligarchen kontrolliert werde. Ein Raum, wo die AfD heute den Algorithmus auf dem Schulhof beherrsche.

«Es ist dystopisch, wenn eine rechtslibertäre US-Oligarchie in Verbindung mit einer Partei, in der auch Rechtsextreme sind, diesen Meinungsraum beherrscht», sagt De Masi. Denn der Kampf in diesem Raum gehe viel weiter, das habe Wirecard früh gezeigt: Wer im 21. Jahrhundert die Datenautobahn und damit womöglich auch die Finanzdatenautobahn kontrolliere, habe massgeblichen Einfluss im Wirtschaftskrieg. «So, wie die Kolonialmächte früher versucht haben, mit der Schifffahrt die internationalen Handelswege zu kontrollieren, versuchen jetzt Unternehmen und Staaten die Finanzdatenautobahn zu kontrollieren. Denn diese Autobahnen sind das neue Nervensystem der Weltwirtschaft.»

 

«Weidel Wagenknecht 2028»

In der dritten und letzten Nacht in Brüssel schlafe ich schlecht und habe schreckliche Albträume. Ich träume vom Grand-Place, der aber jetzt ein wehendes schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer ist, und ich träume von Jürgen Klinsmann, der Holland 1990 aus der Weltmeisterschaft geschossen hat und nun auf diesem Platz in Belgien eine Rede hält. Grüngrossdeutschland sei ab heute für immer Geschichte, brüllt Klinsmann, und Zehntausende fahnenschwenkende Menschen jubeln und schreien in dieser Gigi-D’Agostino-Melodie «Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!». Neben mir, aufgespiesst, der Kopf von Joschka Fischer vor einem fünfzig Meter langen blauen Transparent mit der roten Aufschrift «Weidel Wagenknecht 2028».

«Nicht der Feminismus, den wir wollten, aber womöglich der Feminismus, den wir verdient haben», sagt meine Begleiterin, als ich ihr vom Traum erzähle.

In einer früheren Version hatten wir behauptet, Fabio De Masi habe eine Bombendrohung erhalten. Wir entschuldigen den Fehler.