Der Mensch ist ein migrierendes Wesen. Seit er aufrecht gehen konnte, trieb es ihn aus seiner Heimat Afrika in die Welt hinaus, auch nach Europa. Wie diese Migration vor sich ging und wie die Einwanderung die Europäer genetisch prägte und veränderte, das erforscht Johannes Krause, Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und mit 39 Jahren einer der Stars auf dem noch jungen wissenschaftlichen Feld der Archäogenetik. Krause entschlüsselt aufgrund winziger Knochenproben das Erbgut jahrtausendealter Skelette und liefert damit überraschende Erkenntnisse zur frühen Vergangenheit des Menschen.

Herr Professor Krause, vor rund 50 000 Jahren ist unser Vorfahre, der moderne Mensch, von Afrika nach Europa und Asien gekommen. Wen hat er da vorgefunden?

Der moderne Mensch traf in Europa auf andere Menschenformen wie den Neandertaler und in Asien auf die Denisovaner, die bereits dort lebten. Diese Populationen, allesamt Jäger und Sammler, haben lange Zeit nebeneinander existiert.

Haben sie sich miteinander vermischt?

Sie hatten alle Sex miteinander und haben sich fortgepflanzt – wohl nicht regelmässig, sondern eher dann, wenn sie aufeinandertrafen, was zu jener Zeit weniger häufig war als für Menschen heute. Es gibt keine klare Stammbaumlinie der Vorfahren, die zu uns, dem modernen Menschen, führt, sondern es ist eher ein wildverzweigter Busch. 90 Prozent der Gene der Menschen weltweit stammen von den gemeinsamen Vorfahren in Afrika ab, daneben haben alle Menschen ausserhalb Afrikas auch Neandertaler-Gene. Bei den Europäern sind es gut 2 Prozent. Asiaten und Australier haben zusätzlich Denisovaner-Gene.

Die ersten Menschen aus Afrika, diese Ureuropäer, wie sahen die aus?

Vom Skelett her ähnlich wie wir, die Hautfarbe war dunkel, nicht zu unterscheiden von Menschen südlich der Sahara. Die Ersten, die kamen, hatten dunkle Augen. Die Menschen, die nach dem Ende der Eiszeit vor rund 15 000 Jahren wieder nach Europa vorgedrungen sind, hatten hingegen blaue oder grüne Augen – das war eine grosse Überraschung, als man das feststellte. Der Ureuropäer hatte also dunkle Haut und helle Augen. Die Gene für blaue Augen breiten sich übrigens auch heute gegenüber jenen für braune Augen stärker aus, das hat eine Studie in Grossbritannien gezeigt. Blaue Augen scheinen ein sexueller Selektionsvorteil zu sein: Wer blaue Augen hat, scheint attraktiver zu sein und hat häufiger Kinder.

Wie wirken sich die 2 Prozent Neandertaler-Gene bei den Europäern aus?

Dazu wissen wir wenig; die 2 Prozent sind ganz unterschiedlich in den Genpool reingemischt. Wir haben ein Neandertaler-Gen gefunden, das sich auf die Beschaffenheit der Haut auswirkt. Oder eines, das sich gehäuft bei Rauchern findet, eine Art «Sucht-Gen». Welche Rolle dieses Sucht-Gen spielt – die Neandertaler haben sicher keinen Tabak geraucht –, das weiss man nicht.

Die zweite grosse Einwanderungswelle fand vor 8000 Jahren statt, als anatolische Ackerbauern nach Europa vorstiessen. Was passierte zwischen den Einwanderern und den Ansässigen?

Das waren eigentliche Parallelgesellschaften, die rund 3000 Jahre lang vorwiegend getrennt voneinander gelebt haben. Sie haben sich aber auch vermischt, wie man am bekannten Norditaliener Ötzi erkennen kann: Ein Fünftel seiner Gene stammt von Jägern und Sammlern, der grosse Rest von anatolischen Ackerbauern. Die Anatolier haben die Ureuropäer zum Grossteil verdrängt.

Leben heute noch irgendwo genetische Ureuropäer?

Nein, der genetische Typ als solcher ist komplett verschwunden. Er hat sich aber ein bisschen in unsere Gene eingemischt. Die heutigen Mitteleuropäer weisen durchschnittlich rund 20 Prozent von diesem Ureuropäer auf.

Wie hat sich die Genetik der Europäer durch den Zuzug der anatolischen Ackerbauern verändert?

Wir haben hellere Haut bekommen. Es klingt seltsam, dass Menschen aus Anatolien helle Haut mitbringen. Der Grund dürfte beim Vitamin D liegen, das kann man über Fleisch oder Fisch zu sich nehmen. Die Ackerbauern waren aber Vegetarier und mussten deshalb das Vitamin D in der Haut produzieren. Im dunklen Norden braucht man dazu helle Haut, deshalb sind die Leute immer heller geworden. Die hellsten leben bezeichnenderweise im dunklen Skandinavien.

Wie lange dauert es, bis sich eine Population genetisch an ihre Umwelt anpasst?

Ein schönes Beispiel ist Australien. Die eingewanderten Australier sind britischer Herkunft, also hellhäutig, und passen eigentlich gar nicht dorthin; die Hautkrebsrate ist sehr hoch. Unter natürlichen Bedingungen – kein Sonnenschutz, keine Medizin – würde es wohl nur wenige Generationen dauern, bis die rein hellhäutigen Australier aussterben würden. Dank der Urbevölkerung der Aborigines gibt es in Australien bereits das Gen für dunkle Haut, und das würde sich unter einem solchen Szenario durch Vermischung sehr schnell ausbreiten. Dass eine Population ein völlig neues Gen entwickelt, welches noch nicht vorhanden ist, eines für dunkle Haut etwa, das würde hingegen Tausende von Jahren dauern.

Geradezu dramatisch verlief die nächste grosse Einwanderung vor 5000 Jahren, als Menschen aus der russischen Steppe nach Europa kamen.

Die Steppeneinwanderer haben sich genetisch breit gemacht, und zwar rasant. Die Treiber waren die Männer. In Grossbritannien etwa wurden die ansässigen Ackerbauern von den Ackerbauern mit den Steppengenen richtiggehend überrannt: Es dauerte hundert Jahre, und die männlichen Briten waren genetisch zum Grossteil Steppenmenschen.

Wie erklärt man sich die Ausdehnung des Steppenmannes? Waren das speziell gewalttätige Krieger?

Es gibt mehrere Hypothesen. Die eine geht dahin, dass es sich um Reiter handelte, die eingefallen sind und die lokalen Frauen in ihre Gemeinschaft aufnahmen; es gibt aber keine archäologischen Funde, Massengräber oder Anzeichen für grossflächige Gewalt, mit denen sich dies nachweisen liesse. Vielleicht waren die Steppenmänner attraktiver, grösser und kräftiger als die ansässigen Ackerbauern und wurden von den Frauen bevorzugt; dass die Frauen ihre Partner damals frei wählen konnten, halte ich aber für unwahrscheinlich. Oder es herrschte eine Art Kolonialsystem, in dem die Einwanderer die lokale Bevölkerung unterdrückten und sich mit den lokalen Frauen fortpflanzten. Womöglich gab es eine Epidemie, und die Steppenmänner waren biologisch oder kulturell besser angepasst und vor der Krankheit besser geschützt. Doch nicht überall in Europa setzten sich die Steppengene so schnell durch: Die grosse Ausnahme ist die Schweiz. Noch fast tausend Jahre nach dem Zuzug der Menschen aus der russischen Steppe gab es in der Schweiz Siedlungen, in denen die Steppenmenschen genetisch nicht aufzufinden waren. Das sieht man nirgends sonst.

Die Schweizer widersetzten sich den Steppenmenschen wie Asterix und Obelix den Römern?

So ähnlich, es handelte sich vermutlich um abgeschiedene Alpentäler, in welche die Einwanderer nicht vordringen konnten. In der Schweiz wurde übrigens auch eines der ältesten Individuen gefunden, 4200 Jahre alt, das laktosetolerant war. Ich würde nicht behaupten, dass die Schweizer das Milchtrinken erfunden haben, aber es war jedenfalls sehr früh verbreitet.

Schaut man sich die frühzeitlichen Einwanderungswellen nach Europa an, drängt sich der Schluss auf, dass die Zuzüger die Ansässigen dominiert und schliesslich verdrängt haben. Stimmt das?

Grund der Migration ist häufig, dass es eine Gruppe gibt, die mehr Nachwuchs hat und sich ausbreitet – Ackerbauern etwa, die statt zwei plötzlich fünf Kinder haben und die dann neues Ackerland brauchen und auswandern. Es sind also Populationen, die bereits einen kulturellen Vorteil haben und diese Innovation mit in das neue Land bringen. Das erklärt auch ihren Erfolg und dass sie sich gegenüber den Ansässigen durchsetzen. Es kann natürlich auch erfolglose Migrationen gegeben haben, von denen wir nichts wissen, weil sie keine genetischen Spuren hinterlassen haben.

Sie haben die Hypothese erwähnt, dass die ansässigen Ackerbauern durch eine riesige Epidemie ausgelöscht wurden. Warum können sich Menschen bis heute genetisch nicht an Viren und Bakterien anpassen?

Unser Immunsystem schützt uns eigentlich recht gut, wir können uns durchaus an Viren und Bakterien anpassen. Doch das gilt eben auch umgekehrt: Sobald es zur Immunität kommt, verändern sich auch die Krankheitserreger – es ist ein Wettlauf. Das Hauptproblem ist, dass die Menschen in den letzten 8000 Jahren zu einer riesigen Population geworden sind, das macht uns für Viren und Bakterien sehr interessant. Zusätzlich gab es das enge, dichte Zusammenleben nie zuvor in unserer Evolution. Die meisten Infektionskrankheiten sind deshalb erst in den letzten paar tausend Jahren auf den Menschen übergesprungen, und wir hatten noch nicht so enorm viel Zeit, uns an diese anzupassen. Fledermäuse etwa wohnen seit Jahrmillionen in riesigen Höhlenkolonien zusammen – perfekt für Krankheitserreger. Ihr Immunsystem ist aber mittlerweile so ausgefeilt, dass sie nicht so schnell krank werden.

Zurück zu den Genen. Sie haben die durchschnittliche genetische Struktur in Mitteleuropa aufgeschlüsselt: 50 Prozent anatolischer Ackerbauer, 20 Prozent ureuropäischer Jäger und Sammler und 30 Prozent Steppeneinwanderer. Gilt das auch für die Schweiz?

Für den nördlichen Teil ist das so, im Süden gibt es etwas mehr anatolische Gene. Es existieren natürlich regionale Unterschiede, die teils beträchtlich sind. Die Sarden beispielsweise sind genetisch gesehen heute noch ausgeprägt anatolische Ackerbauern.

Kann man andere Epochen, etwa die Zeit der Römer, in unseren Genen nachweisen?

Mit zunehmend neuen Daten zeigt sich, dass die Antike, das Römische Reich und die Völkerwanderungszeit zu deutlichen genetischen Verschiebungen geführt haben. Allgemein lässt sich sagen, dass die Europäer genetisch sehr zusammengerückt sind und wir uns immer ähnlicher werden: In den letzten zehntausend Jahren haben sich die genetischen Unterschiede halbiert, durch die Zuwanderung ist eine neue Gen-Mixtur entstanden. Das war aber nur möglich, weil die früheren Zuwanderungen sehr, sehr gross waren. Die zwei Millionen Flüchtlinge, die vor fünf Jahren nach Europa gekommen sind, die wird man genetisch wohl in Zukunft kaum nachweisen können.

Was halten Sie von Gentests?

Die sind teils wirklich gut und können Aufschluss geben über die Herkunft der drei, vier vorherigen Generationen. Daneben gibt es allerdings auch Tests, die beispielsweise nachweisen wollen, dass man das «Kelten-Gen» hat und zu irgendeinem speziellen europäischen «Urvolk» gehört. Das ist schlicht Humbug.

 

Johannes Krause, Thomas Trappe: Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Propyläen, Berlin 2019, 288 S.