Lima

Ganz so jung ist sie mit 32 Jahren zwar nicht mehr, doch Sanija Ameti erinnert sich bestens: Als sie im zarten Alter von drei Jahren in den Armen ihrer Eltern aus dem sozialistischen Jugoslawien flüchtete, ging es nach Europa. Denn Europa bedeutete Freiheit. Indes, so schrieb die Zürcher GLP-Politikerin kürzlich in einem Essay für die Zeit, «der Schlepper schmiss uns zu früh aus dem Lastwagen». Also landete sie unglücklicherweise in der Schweiz. Ihr Unglück kündigte sich bereits im Titel an: «Die Schweiz wird dann frei sein, wenn Europa ihre Heimat wird». Mit Europa meint Ameti selbstredend die EU.

Das ist natürlich Blödsinn. So wie Monaco sich Frankreich verweigert oder die Ukraine der GUS, will sich die Mehrheit der Schweizer nicht der EU unterwerfen. Weil sie damit mehr verlieren als gewinnen würde. Man ist versucht, Ameti viel Glück für die Weiterreise ins europäische Nirwana zu wünschen. Und tschüss! Niemand hält sie in ihrem helvetischen Gefängnis zurück. Aber das wäre unfair. Weil man damit unterstellt, Ameti sei keine richtige Schweizerin. Ihre Geisteshaltung passt jedoch perfekt zu den Sprösslingen aus der akademischen Mittelschicht, die sie anspricht.

Fundament für den Wohlstand

Das Phänomen ist auch bei uns in Südamerika zu beobachten. Wenn einem ein junger amerikanischer Tourist über den Weg läuft, distanziert er sich meist umgehend von seiner Heimat. Als ob die prosperierenden USA die Schuld hätten an all dem Elend bei ihren südlichen Nachbarn. Das ist natürlich Blödsinn, populistische Neidpropaganda. Das Elend ist hausgemacht. Es liegt daran, dass es den lateinamerikanischen Katholiken an Tugenden wie Gemeinsinn, Disziplin oder Vertragstreue mangelt, die den angelsächsischen Protestanten Wohlstand bescherten.

Die USA und die Schweiz sind bei Einwanderern aus der Nachbarschaft so gefragt, weil sie mehr Lebensqualität bieten. Doch vielen Schweizern oder Amerikanern ist dieses Privileg peinlich. Weil sie tief im Innern (und völlig zu Recht!) fühlen, dass sie sich mit fremden Federn schmücken. Der Erfolg ist nicht ihr Verdienst. In den USA setzten die Gründerväter vor über 200 Jahren mit einer genialen Verfassung das Fundament für den Wohlstand. Die Schweiz ist so prosperierend, weil unsere Urahnen auf dem Rütli, bei Sempach, Marignano oder Kappel, am Wiener Kongress, nach dem Sonderbundskrieg oder in den beiden Weltkriegen kluge und weitsichtige Entscheide trafen.

Lateinamerikaner lästern gerne (und völlig zu Recht!) über ihre Regierungen und die Gesellschaft, welche diese hervorgebracht hat. Doch tief in ihrem Herzen sind sie glühende Patrioten. Auch wenn sie meilenweit gehen würden für einen Hamburger oder (wie Sanija Ametis Eltern) für eine Coca-Cola, nichts geht über eine heimische Pachamanca, einen Asado, eine Feijoada oder einen Mole.

Wer in Haiti geboren wurde, kann nicht mehr viel falsch machen. Denn in Haiti lief und läuft bereits so ziemlich alles falsch, was falsch laufen kann. Es kann nur noch besser werden. Wer hingegen in einem überragend erfolgreichen Land wie der Schweiz oder den USA aufgewachsen ist, trägt die Last eines reichen Erbes. Der unverdiente Wohlstand ist schwer zu toppen, aber einfach zu vermasseln. Und noch einfacher ist es, das grandiose Erbe so lange schlechtzureden, bis es aus den Sinnen entschwindet.