Bern

Die Meldung war den Medien höchstens eine Randnotiz wert. Verständlich, denn in Deutschland geht punkto Zuwanderung alles seinen geregelten Gang. Die Bevölkerung der stärksten Volkswirtschaft Europas stieg im vergangenen Jahr um 0,1 Prozent oder 82 000 Personen. Ende 2021 lebten im nördlichen Nachbarland 83,2 Millionen Menschen. Der Ausländeranteil erhöhte sich von 12,7 auf 13,1 Prozent.

Was für ein Kontrast zur Schweiz! Obwohl 2021 der Zustrom für hiesige Verhältnisse bescheiden war, wuchs die Bevölkerung um 0,8 Prozent, achtmal stärker als in Deutschland. Auch der Ausländeranteil ist mit 25,7 Prozent ungleich höher. Per Ende März lebten 8 753 933 Millionen Menschen auf dem 41 285 Quadratkilometer kleinen Staatsgebiet der Schweiz, wobei nur drei Viertel davon als produktive Fläche gelten. Der Rest entfällt auf Gewässer, Fels oder Gletscher.

Los Angeles mit Seen

Das Schweizer Mittelland, der schmale Streifen zwischen Jura- und Alpenbogen, zählt zu den dichtbesiedelten Regionen Europas. Auf weniger als einem Drittel der Schweiz leben über zwei Drittel ihrer Bevölkerung. Zwischen Genf und St. Gallen ist in den vergangenen Jahrzehnten ein einziger Siedlungsbrei entstanden, ein Los Angeles mit Seen. Die Stauzeit auf den Schweizer Nationalstrassen hat sich im 21. Jahrhundert verfünffacht. Seit 1985 wurde eine Landfläche von der Grösse des Kantons Schaffhausen verbaut und zubetoniert.

Die Zuwanderung, die angeblich dem Fachkräftemangel abhelfen soll, ist in Wahrheit dessen Treiber.

Das laufende Jahr wird alles in den Schatten stellen, was das abgehärtete Zuwanderungsland bislang erlebt hat. Ende Dezember dürften bis zu einer Viertelmillion mehr Menschen in der Schweiz leben als noch Anfang Januar, wie SVP-Migrationsspezialistin Martina Bircher vorrechnet. Konkret: 60 000 bis 70 000 Personen könnten dank der Personenfreizügigkeit mit der EU einwandern. Dazu kommen, gestützt auf Prognosen des Bundes, bis zu 140 000 Flüchtlinge aus der Ukraine. Weiter dürften vorsichtig geschätzte 16 000 reguläre Asylbewerber ihr Glück in der Schweiz suchen. Zusammen mit dem Kontingent von 15 500 Einwanderern, das der Bundesrat für Drittstaaten freigegeben hat, ist ein Bevölkerungswachstum von 250 000 Einwohnern in einem Jahr realistisch.

Lange Zeit hiess es: Die Schweiz hat 26 Kantone und sechs Millionen Einwohner. Nun steuern wir auf die Neun-Millionen-Schweiz zu, auch wenn Behörden, Medien und Experten wie gewohnt tiefstapeln und das Thema am liebsten unerwähnt lassen. Legendär ist das Versprechen des Bundesrats vor der Abstimmung über die Bilateralen I im Mai 2000. Damals behauptete die Regierung, der freie Personenverkehr mit der EU würde netto 8000 bis maximal 10 000 Zuwanderer im Jahr bedeuten. Tatsächlich waren es seit Einführung der vollen Personenfreizügigkeit im Jahr 2007 sieben- bis achtmal so viel.

Einbürgerungen im Akkord

Der Grund für die starke Zuwanderung ist offensichtlich: der vergleichsweise hohe Wohlstand der Schweiz. Der Asylbewerber aus Afghanistan und der Manager aus Deutschland haben eins gemeinsam: Beide sind sie auf der Suche nach einem besseren Leben. Anders sind nur ihre Ausgangspunkte. Die Schweiz ist für beide attraktiv und lässt kaum einen Wunsch offen: ausgebauter Sozialstaat, hohes Lohnniveau, sauberes Wasser, funktionierendes Gesundheitswesen. Es fehlt an nichts.

Das rasante Bevölkerungswachstum verändert das Land an allen Ecken und Enden. Mehr als ein Drittel der Stadtberner Wohnbevölkerung ab fünfzehn Jahre weist einen Migrationshintergrund auf. Ein Drittel sind schon Schweizer Staatsangehörige, davon sind 88 Prozent eingebürgert. Andere Städte weisen ähnliche Werte aus. Das Beispiel zeigt: Wenn Gemeinden wie Bern nicht im Akkord den Pass mit dem weissen Kreuz aushändigen würden, wäre der Ausländeranteil in der Schweiz noch viel höher.

Die Stauzeit auf den Schweizer Nationalstrassen hat sich im 21. Jahrhundert verfünffacht.

Vogel-Strauss-Politik

Die vorsichtigen Prognostiker vom Bundesamt für Statistik schätzen, dass es in sieben Jahren erstmals eine Million Schulkinder in der Schweiz geben wird. Zwischen 2007 und 2019 kamen jährlich rund 9600 Kinder im Alter von null bis vierzehn in die Schweiz. Die Gesamtzahl der ausländischen Kinder wuchs von 2007 bis 2020 um 77 503, die der Schweizer bloss um 51 002, schrieb der Ökonom Reiner Eichenberger vor kurzem in der Handelszeitung. Gleichzeitig werden jährlich zwischen 6000 und 11 000 Kinder eingebürgert. «Das Wachstum der Schüler- und Schülerinnenzahl geht grösstenteils auf die Zuwanderung zurück», so Eichenbergers lapidares Fazit.

All diese Kinder brauchen Schulhäuser, Turnhallen und Schwimmbäder – und natürlich Betreuung. Überall ist von «Fachkräftemangel» die Rede. Was fast nie erwähnt wird: Die Zuwanderung, die angeblich dem Fachkräftemangel abhelfen soll, ist in Wahrheit dessen stetiger Treiber. Ständig muss die öffentliche Infrastruktur angepasst werden, um die zusätzlichen Einwohner zu versorgen, etwa mit neuen Schulen. Wieder neue Zuwanderer stellen diese Versorgung sicher und müssen ihrerseits durch wieder neue Zuwanderer versorgt werden. Und so weiter und so fort bis zur Zehn-Millionen-Schweiz und darüber hinaus.

Die Auswirkungen sind für jedermann spürbar: überfüllte Züge, steigende Mieten, schwindende Grünflächen. Doch im Bundeshaus herrscht Vogel-Strauss-Politik. Eine Mehrheit weigert sich, das Problem auch nur anzuerkennen. In der Welt dieser Politiker und Beamten ist die Schweiz zu offenen Grenzen verdammt, um erfolgreich zu bleiben – als ob das Land vor der Personenfreizügigkeit das Armenhaus Europas gewesen wäre.

Die Stimmbürger haben den Bluff längst erkannt. Schon 2014 nahmen sie die Masseneinwanderungsinitiative an. Seither steht in der Verfassung, die Schweiz steuere die Zuwanderung «eigenständig» (Artikel 121a). Die Politik weigert sich bis heute, diese Bestimmung umzusetzen – aus Angst vor der EU. So wird aus der Verfassung ein Papiertiger. Das ist der politische Kollateralschaden einer unehrlichen Politik. Die Schweiz beschädigt das, was sie auszeichnet: ihre Demokratie.

Nun lässt sich das Malaise nicht länger ignorieren. Während die Zuwanderung hoch wie nie ist, rücken die nationalen Wahlen von Oktober 2023 näher. Die SVP will die ausser Kontrolle geratene Situation zum Wahlkampfthema machen. Im Augenblick prüft die Partei verschiedene Projekte. Kommt eine weitere Masseneinwanderungsinitiative? Die Zeiten, in denen Bundesrat und die meisten Parteien schweigend über die Bevölkerungsexplosion hinweggehen konnten, sind vorbei.

250 000 zusätzliche Einwohner in einem Jahr: Das ist, als würde man eine Stadt Genf bauen – und obendrauf eine Stadt Thun. All die Zuwanderer brauchen ein Dach über dem Kopf, Wasser, Strom und Nahrung. Die Fläche, die sie verwohnen, fällt für die Landwirtschaft weg. Das macht die Schweiz noch abhängiger von Lebensmittelimporten. Die Stromversorgung ist jetzt schon gefährdet. Strassen und öffentliche Verkehrsmittel sind überlastet, Schulen und Spitäler laufen am Anschlag. Und was, wenn nächstes Jahr wieder eine Stadt Genf hinzukommt?

Auf Dauer kann das nicht gutgehen. Es ist auch nicht normal. Abgesehen von Luxemburg hat kein europäisches Land ein vergleichbares Bevölkerungswachstum. Die Schweiz wird zum Sonderfall, ausgerechnet wegen jener Parteien und Kräfte, die aus ihr ein Land wie jedes andere machen wollen.