Weltwoche: Herr Professor Lübbe, wir haben wieder Krieg in Europa, Ost und West driften auseinander. An welche Zeit erinnern Sie die aktuellen Zustände?

Hermann Lübbe: Auf die Frage würde ich am liebsten antworten mit dem Satz: Sie erinnern mich nicht an Früheres, ich nehme sie als singulär wahr. Das haben wir noch nie gehabt. Das hängt zusammen mit meiner bei Historikern erworbenen und dort erlernten Neigung, Unterschiede zwischen den Zeiten zu machen – die, so hat es Ranke ausgedrückt, alle unmittelbar zu Gott seien.

Weltwoche: Was kennzeichnet unsere heutige Zeit, was macht sie aus?

Lübbe: Schon dies, dass die Welt auf der Ebene der fliessenden Informationen so eng zusammenrückt wie nie zuvor. Auch, aber nicht nur, mit einer wachsenden Zahl von Kooperationen, die zu Ergebnissen führen, die weltweit wichtig werden. Das ist neu, das hat es in diesem Ausmass noch nicht gegeben. Es verstärkt sich die Erfahrung unserer Abhängigkeit von sehr weit entfernten anderen und zugleich auch die Erfahrung ihrer wachsenden Mächtigkeit. Das ist ja eine Messgrösse für den Einfluss, den man wirklich ausüben kann und ausübt, dass das, was man anregt, macht, beschliesst, sogleich die Macht hat, sich weltweit bemerkbar zu machen.

Weltwoche: Inwiefern verfolgen Sie das Geschehen um den Krieg in der Ukraine? Was haben Sie für einen Bezug, als jemand, der den schlimmsten Krieg, den Zweiten Weltkrieg . . .

Lübbe: . . . am eigenen Leib erlebt hat.

Weltwoche: Gibt es nichts Neues unter der Sonne?

Lübbe: Dazu muss ich zunächst gestehen, dass das Interesse an den aktuellen Meldungen bei mir mit wachsendem Eintritt in das sehr hohe Alter abgenommen hat, nicht zugenommen. Ich beschäftige mich dann lieber mit Altem und unverändert wichtig Gebliebenem anstatt mit dem Allerneusten. Ausserdem ist die Menge des Allerneusten so gross, dass man wahrscheinlich nicht nur aus Gründen des Alters ohnehin mit dieser Aufgabe, up to date zu sein, überfordert ist. Nicht?

Weltwoche: Was beschäftigt Sie am meisten?

Lübbe: Nach Art der Philosophen würde ich das gerne im Sinne einer allgemeinen Formel charakterisieren. Das ist dann sozusagen nicht geschehenspraktisch Aktuelles, sondern das, was die ganze Situation charakterisiert. Wir leben in einer Welt, in der wir im unverändert wachsenden Masse um den ganzen Globus herum voneinander wissen. Und zugleich handelt es sich um ein Wissen, das lebenspraktisch an Bedeutung gewinnt. Zwar ist es so, dass komplementär dazu auch das Interesse an Individualität, an der eigenen schon ohnehin, aber auch an der Individualität der anderen zunimmt. Damit verbunden ist übrigens auch, und das ist die schöne Seite der Sache, die Neigung zum Respekt vor dem Anderssein des anderen. Auch die Neigung zum Respekt vor der anderen Meinung der anderen. Die nimmt über die reale Abhängigkeit der Menschen in ihrer globalen Dimension zu. Das ist ein erfreulicher Aspekt. Man könnte sagen, die Welt wird, indem sie zusammenwächst, zugleich tendenziell friedlicher.

Weltwoche: Sie beschreiben den Zivilisationsprozess, Freihandel, die wachsenden Verflechtungen, Abhängigkeiten, Rücksichtnahmen. Gleichzeitig beobachten wir den brachialen Einbruch eines Kriegs. Mit gespenstischer Nonchalance wird heute sogar die Möglichkeit eines Atomkriegs erwogen. Erinnert Sie das nicht an das 19. Jahrhundert und das beginnende 20. Jahrhundert, als eine wohlhabende Gesellschaft den Höllensturz in zwei Weltkriege erlebte?

Lübbe: Ich möchte die günstigste, die angenehmste Antwort auf diese Frage geben. Sie lautet: Je unkündbarer das gute Einvernehmen über sehr grosse Räume hinweg ohnehin zunimmt, umso mehr können wir uns die Beschäftigung und sogar die Betonung unserer Gegensätze, ja sogar unserer Feindschaften leisten. Es wird ungefährlicher, seine Unterschiede herauszustreichen. Dem würde übrigens kulturell entsprechen, dass, wie erwähnt, weltweit das Interesse am Anderssein des anderen wächst. Nicht so sehr im Mittelpunkt des Interesses steht das, was uns alle miteinander in der modernen Welt verbindet. Sondern das, was uns voneinander unterscheidet. Jede triviale Ferienreise ist von diesem Interesse am Anderssein mit geprägt und mit motiviert. Und zunächst ist das ja ein Vorgang, der gesamthaft sehr friedlich ist. Man könnte sagen, das Beispiel des Tourismus, eine sehr machtvolle Bewegung, zeigt an, in welche Richtung das läuft. Die Menschen werden sich immer intensiver des Andersseins der anderen inne, die Realität stösst sie darauf. Damit wächst das Interesse am Anderssein der anderen. Und zugleich nimmt die Gefährlichkeit dessen, zu entdecken, dass der andere ein anderer ist, ab. Die Bereitschaft, sich zu arrangieren und zu kooperieren, hingegen nimmt zu. Kurz, ich bin nicht einfach kraft meiner optimistischen Natur, sondern kraft dessen, was ich zu sehen glaube, zuversichtlich.

Weltwoche: Viele sagen, wir erleben eine Zeitenwende. Stimmt das?

Lübbe: Nein, das glaube ich nicht. Das sehe ich nicht.

Weltwoche: Sie haben ein paar Zeitenwenden erlebt, Sie haben 1989 erlebt, 1945 . . .

Lübbe: Das war mit Abstand die bedeutendste Zeitenwende, ja. Die sich natürlich schon vorher ankündigte. Auch für einen damals noch ganz jungen Kopf, gestärkt durch die Gespräche mit guten Lehrern, auch durch die Gespräche mit den eigenen Eltern, durch einen verständigen und in einigen Bereichen sogar fachkundigen Vater. Die Verständigungen, die wir über das Dritte Reich führten, waren schon Verständigungen in der Gewissheit seiner Zukunftsunfähigkeit. Als Soldat erfuhr man dasselbe.

Weltwoche: Man hat schon vor dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands gemerkt: Das alles hat keinen Bestand.

Lübbe: Ja, man merkte, das ist eine zukunftslose Welt. Man war natürlich entsprechend besorgt und auch bestürzt. Was soll aus dem eigenen Land werden? Aber die Wahrnehmung war wohl so. Es gibt zwar relativ wenig Zeugnisse, die diese Überzeugung ausdrücken. Tagebuchliteratur, da findet man so was, aber nicht im offiziellen Schriftsystem.

Weltwoche: Und Sie sagen, diese Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine sowie dem westlichen Militärbündnis Nato ist kein mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergleichbarer Bruch.

Lübbe: Nein, überhaupt gar nicht. Diesen Krieg kann man eher nur deuten aus der engeren, aus der besonderen Geschichte Russlands. Und wenn man dann mehr als ich weiss von den politischen Spannungen, die dieses riesige Land erfüllen, wird man dies auch für weniger überraschend halten.

Weltwoche: Interessant. Ungeachtet dieses Kriegs wächst die Welt zusammen. Seit dem Mauerfall 1990 sind sich der sogenannte Westen auf der einen, China und Russland auf der anderen Seite nähergekommen, bei allen Unterschieden ihrer Gesellschaften und Lebenswirklichkeiten. Davon darf uns auch dieser Krieg nicht ablenken.

Lübbe: So ist es. Das scheint mir die Realität zu sein, das ist der allgemeine Trend. Und es bestätigt die allgemeine These von der zusammenwachsenden Welt, was ja nicht heisst, alles löst sich in schöne Friedlichkeit auf, aber es heisst doch, dass man die reale Abhängigkeit von einem anderen nicht nur wahrnimmt, sondern auch spürt. Das heisst, man nimmt auch wahr, was man selbst riskiert, wenn man diese Koexistenz des anderen als solche und anerkennungsbedürftige nicht mehr wahrnimmt oder gar aufzukündigen versucht. Gibt man sich die Erlaubnis, nach Philosophenart zu sprechen: Die moderne Welt ist geprägt durch die moderne technische Zivilisation. Die Technik schwächt nicht, sondern stärkt über ständig wachsende Räume hinweg die Abhängigkeit voneinander. Deshalb wird diese technische Zivilisation tendenziell immer friedlicher. Der Friedenszwang wächst.

«Die Philosophie sollte eine stabilisierende Wirkung haben.»

Weltwoche: Selbst die Grausamkeiten, die ausgeübt werden, werden immer subtiler. Man hat die fürchterlichsten Waffen, die aber nicht mehr ausgefahren werden.

Lübbe: So ist es.

Weltwoche: Sie haben sich in Ihrem Leben viel mit dem «öffentlichen Bewusstsein» auseinandergesetzt.

Lübbe: O ja!

Weltwoche: Im Westen, in Europa und Amerika, bildet sich ein öffentliches Bewusstsein, mit Bezug auf diesen Krieg. Ob es ein öffentliches Bewusstsein oder nur ein veröffentlichtes sei, bleibe einmal dahingestellt. Dieses Bewusstsein formuliert die exakte Gegenthese zu dem, was Sie eben dargelegt haben. Es heisst: Wir erleben eine Zeitenwende. Russland ist der neue Weltfeind des Westens, Demokratie gegen Autokratie, Putin eine Art neuer Hitler. Es ist, als ob sich der Westen in einen neuen kalten Krieg hineinreden möchte.

Lübbe: Ja. Sie haben das sehr plastisch, so wie ich es als Gegenteil wahrnehme, beschrieben.

Weltwoche: Dann entspringt die Rhetorik dieser neuen angeblichen Weltkonfrontation zwischen dem demokratischen Westen und dem diktatorischen Osten einem «falschen Bewusstsein», um Adorno zu zitieren?

Lübbe: So ist es.

Weltwoche: Glauben Sie tatsächlich, dass sich im pluralistischen Westen ein falsches Bewusstsein bildet? Ein irrtümlicher Rückfall in die geistige Bunkerstellung des Kalten Krieges?

Lübbe: Da bin ich möglicherweise zu optimistisch, aber von diesem Optimismus lebe ich partiell, jedenfalls auch intellektuell. Das, was Sie als «falsches Bewusstsein» beschreiben, als Möglichkeit eines Rückfalls, ist nicht der Haupttrend.

Weltwoche: Es wird, etwa in den Medien oder in der Politik, geradezu eingefordert, dieses Bewusstsein zu haben. Wir beobachten einen regelrechten Meinungszwang.

Lübbe: Dann schreibt es der eine dem anderen nach.

Weltwoche: Wer abweicht, wird der Sympathie mit dem Feind verdächtigt – «Putin-Versteher», «Russland-Versteher», eine Art geistiger Landesverrat. Was sagt der Philosoph zur Ächtung des Verstehens?

Lübbe: Das ist zunächst ein sprachliches Phänomen; dass es auftritt, ist von Interesse. Das kann man mit Interesse zur Kenntnis nehmen. Aber in Wirklichkeit sollte es einen zum äussersten Tadel provozieren.

Weltwoche: Moralismus.

Lübbe: Genau, wenn Sie etwas analysieren, ohne sogleich mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, dann sind Sie ein «xy»-Versteher. Es ist unglaublich. Der Unverstand wird zum zivilisatorischen Ideal erhoben.

Weltwoche: Selbst der Höhlenmensch versuchte zu verstehen . . .

Lübbe: Man soll jemanden aus dem Kreis derer, die man überhaupt einer Analyse und einer Antwort würdig sieht, ausschliessen. Das ist eine Zumutung.

Weltwoche: Totalitär?

Lübbe: Das sind totalitäre Reste, ewig sich neu erzeugende totalitäre Elemente, die wir auch im kulturellen Leben sich entfalten sehen.

Weltwoche: Sie haben sich in Ihrem Buch «Politischer Moralismus» mit dem Thema auseinandergesetzt. Was wir draussen wahrnehmen, ist eine Art Schub des Moralismus. Man sagt: Wir sind die Guten, das sind die Bösen. Eine gefährliche Stimmung?

Lübbe: Ja, und sie ist gestrig.

«Immer wenigstens einmal am Tag Kraft, Bewegung, in Schweiss geraten.»

Weltwoche: Also nichts Neues.

Lübbe: Dies gab es immer, eine falsche Beschreibung der Lage.

Weltwoche: Woher kommt dieser Moralismus, diese Neigung, den eigenen Standpunkt moralisch absolut zu setzen, sich damit selbst ins Recht und damit sogar über das Recht?

Lübbe: Das hat mit einer bestimmten intellektuellen Befindlichkeit zu tun. Es gibt auch in der Politik die Tendenz, die Wirklichkeit, in der man sich befindet, in ihrem gefährlichsten Aspekt zu beschreiben. Als Intellektueller wird man eo ipso interessanter, wenn man sich in diesem Sinne und nicht gegenteilig äussert.

Weltwoche: Der Alarmist hat mehr Aufmerksamkeit.

Lübbe: Sicher. Er kann nach altbekannten publizistischen Gesetzen einen bedeutenden Vorzug einstreichen. Einen Aufmerksamkeitsgewinn.

Weltwoche: Und wie sehen Sie diese Feindbilder? Können Gesellschaften auch in einen Rausch von Feindbildern geraten?

Lübbe: Im Krieg gibt es nun mal Feindschaft. Im Übrigen neige ich aber dazu, Ihre Frage so zu beantworten: Wer die ganze Welt in Feindbildern beschreibt, hat den zur eigenen intellektuellen Rolle sehr schön passenden Gewinn, dass die Welt interessanter wird. Sie wäre ungleich interessanter, wenn es denn so wäre.

Weltwoche: Intensiver.

Lübbe: So ist es, intensiver auch. Intensiver ist sogar noch genauer als interessanter. Nicht zuletzt die intellektuelle Befindlichkeit gewinnt an Erregtheit, an Lust zu formulieren.

Weltwoche: Leben wir wieder in einer Zeit, in der die Feindbilder Überhand gewinnen?

Lübbe: Nein. Darin leben wir nicht, wohl aber in einer Zeit, in der die Beschäftigung mit einer inhaltlich so charakterisierten Tendenz an Interesse gewinnt. Dank Feindbildern existiert man in einer Welt, die ungleich weniger durch Langeweile gefährdet ist. Man muss sich mehr Sorgen machen. Das kann ja auch produktive Reaktionen hervorrufen. Ich glaube jedoch nicht, dass es in der Realität objektiv gefährlicher wird. Je höher das Zivilisationsniveau in der modernen Welt wird, desto geringer wird unsere Fähigkeit, auch unsere Möglichkeit, uns in Freund-Feind-Verhältnisse neu hineinzudenken. Einzelne Politiker mögen das propagieren, aber dass sie damit nachhaltigen Erfolg haben, wird selbst in autokratischen Systemen unwahrscheinlicher.

Weltwoche: Man könnte Ihren Gedanken weiterspinnen und sagen: Je ausgeprägter der Zivilisationsprozess, diese Verflechtung ist, desto leichtfertiger leistet sich der Mensch Feindbilder, weil er weiss, dass er letzten Endes sicher ist. Man wird vielleicht etwas leichtsinniger, auch mit der Sprache. Das ist für den Aufmerksamkeitsgewinn gut, aber man macht es letztlich nur, weil man sich sicher ist, dass die Welt nicht einstürzt.

Lübbe: Ja, besser hätte ich es nicht sagen können. Das halte ich für richtig. Natürlich, die Intellektuellen-Rolle ist eine Rolle für sich.

Weltwoche: Intellektuelle leben von der Zuspitzung, sie sind die Drama-Zuständigen des Zeitgeists.

Lübbe: Der Intellektuelle neigt natürlich dazu, alles, was zu dieser Rolle gehört, herauszustreichen; er favorisiert die entsprechende Wahrnehmung und hat die Tendenz, sie dann auch noch zu verstärken.

Weltwoche: Sie sind ein Mann, der in einem Jahrhundert der Extreme gelebt hat. Der Massenmorde. Sie haben sich als Philosoph mit den Furien der Geschichte auseinandergesetzt, mit der Auflösung, dem Untergang, der Zerstörungsenergie ganzer Zivilisationen, der Vernichtungskraft von Ideologien. Warum haben die Leichenberge, die am Wegrand Ihres Lebens aufgetürmt wurden, Ihr Urvertrauen in den Fortschritt nicht erschüttert? Woher kommt dieser Optimismus?

Lübbe: Das ist ein Grundvertrauen in die Lernfähigkeit des Menschen, ein Vertrauen in eine Fähigkeit, nicht noch ein zweites Mal anzuzetteln, was in den Folgen des ersten Mals ja unvergesslich gegenwärtig ist. Kurz, schulmeisterlich gesagt: Wir haben gelernt, wie es geht und wie es nicht geht.

Weltwoche: Das Böse ist das überschiessende Gute. Die USA scheinen gelegentlich gefährdet, sich selber mit der Menschheit zu verwechseln. Man glaubt, für das Gute zu stehen, und alles, was sich in den Weg stellt, ist in dieser Sicht notwendig böse. Wie gross ist die Gefahr, dass die USA, die anders als die Deutschen, die Franzosen, die Russen oder andere frühere Grossmächte noch nie das Trauma einer totalen Niederlage erlebten und daraus auch nicht lernen konnten; wie gross ist die Gefahr, dass bei den sendungsbewussten Amerikanern das Gute ins Böse überschiesst – zum Beispiel jetzt, im Krieg gegen Russland?

Lübbe: Das ist eine sehr harte Frage, und ich zögere, sie ebenso sicher zu beantworten, wie sie von Ihnen gestellt worden ist.

Weltwoche: Es ist ja einfacher, eine Frage zu stellen, als sie zu beantworten.

Lübbe: Ja. Nichtsdestoweniger würde ich, in der Zuversicht, zu der ich nicht gefühlsmässig neige, sondern für die ich Gründe zu sehen glaube, sagen, auch die amerikanische Zivilisation neigt doch im Vergleich zur europäischen eher zum Realismus.

«Die Orientierung aufs Praktische war ein wichtiges Element der Erziehung durch meinen Vater.»

Weltwoche: Die Amerikaner sind immuner gegen die Verführungskraft, gegen das Schlangenöl der Ideologie?

Lübbe: Im Augenblick sieht es eher nicht danach aus, aber historisch war es jedenfalls für lange Zeit so. Das hängt mit der amerikanischen Geschichte zusammen, die nicht die Geschichte des Absolutismus und Zentralismus war, sondern eine Geschichte der Selbstbehauptungszwänge von zugewanderten Kleingruppen.

Weltwoche: Eine Stammesgemeinschaft der Minderheiten.

Lübbe: Richtig. Das war der ungemeine Vorzug der amerikanischen Gesellschaft, der zumindest in der Vergangenheit einen besseren Umgang mit Illusionen ermöglicht hat als bei uns. Ob das noch trägt, wird man sehen.

Weltwoche: Die amerikanische Gesellschaft ist extrem pluralistisch, fast wie die Schweiz, deshalb ist die Gefahr einer Radikalisierung geringer.

Lübbe: Die USA sind jedenfalls keine intellektuell verschworene Gemeinschaft.

Weltwoche: Das ist für Sie die Rückversicherung.

Lübbe: Die Fähigkeit einer nicht intellektuell verschworenen Gemeinschaft ist die Bedingung einer höheren, einer besseren Friedensfähigkeit in der modernen Welt. Gegen ideologische Polarisierung und damit verbundene Radikalisierungen, die auch dann gefährlich werden können, wenn sie sehr kontrovers bleiben, schützt das allerdings nicht notwendigerweise.

Weltwoche: Werfen wir einen Blick auf Russland. Russland ist ein kompliziertes Land und vielleicht auch ein Land mit vielen Komplexen und einem Anerkennungsdefizit. Das ist mir aufgefallen, als ich in Russland war. Viele Russen haben mir gesagt: «Wir sind doch Europäer. Wir haben euch gerettet vor Napoleon und vor Hitler. Aber ihr erkennt uns nicht an, ihr verachtet uns. Ihr schaut auf uns herab.»

Lübbe: Ja, das verstehe ich. Darauf bin auch ich oft gestossen bei Russlandbesuchen.

Weltwoche: Wie gefährlich ist Russland? Man kennt ja diese brodelnden Ressentiments, auch aus der deutschen Geschichte, der Kaiser mit seinen Uniformen, dem «Platz an der Sonne». Wie gefährlich sind die russischen Minderwertigkeitskomplexe?

Lübbe: Ich bin kein Russlandkenner, aber ich hatte immer wieder Anlass und Gelegenheit, Russland zu besuchen und mit russischen Intellektuellen ins Gespräch zu kommen. Nichts, was ich dabei erlebte, konnte meine Zuversicht in die Lern- und Friedensfähigkeit auch der russischen Gesellschaft erschüttern.

Weltwoche: Begründete Zuversicht, auch gegenüber Russland. Welche Erfahrungen und Wahrnehmungen liegen dieser Einschätzung zugrunde?

Lübbe: Das hat viele Gründe. Ich bin, wie gesagt, relativ oft in Russland gewesen, auch zur Sowjetzeit, und bin immer gerne dort gewesen. Ich habe mich dort immer trotz meiner Gegnerschaft zur herrschenden Ideologie als willkommenen Gast erfahren können. Da war man eben nicht der Feind, mit dem nicht geredet wird. Und ich bin aus Russland des Öfteren zurückgekehrt mit der Gewissheit, dieses Land sei wie das eigene: So sehr gesichert durch die gelebten und erlittenen Erfahrungen des Totalitarismus mit all seinen Schrecken, dass die Gefahr eines Rückfalls nun nicht mehr besteht. Deutschland und Russland, so meine Hoffnung, haben eine Geschichte hinter sich, die ihre Zukunftsfähigkeit garantiert.

Weltwoche: Wenn Sie in der Zeitung oder im Fernsehen ein Bild von Präsident Putin sehen, dann bekommen Sie kein Hitler-Gefühl?

Lübbe: Nein. Putin ist ein Autokrat, aber die Möglichkeiten eines Hitler hat er nicht. Man darf trotz allem Vertrauen in die absehbare russische Entwicklung haben.

Weltwoche: Die Sehnsucht nach dem ganz anderen, nach der sozialistischen Utopie haben die Russen hinter sich. Das ist erledigt, ausprobiert und vorbei.

Lübbe: Diese optimistisch klingende Meinung ist zwar in meinem Falle geprägt durch Erfahrungen, Entwicklungen im eigenen Land. Aber generell würde ich sagen, gehört diese Meinung in die Ansicht der modernen Zivilisation, die in weiter wachsendem Masse auch Russland prägt. Dass diese Welt eben in ihren Lebensvorzügen nur geerntet und genossen, in Anspruch genommen werden kann, indem man Ruhe hält.

Weltwoche: Dann wäre, wenn ich Sie richtig verstehe, die bei uns weit verbreitete Meinung über den Ukraine-Krieg als eine Art Showdown zwischen dem freien Westen und dem diktatorischen Osten falsch, ein grosses Missverständnis.

Lübbe: Richtig. Der Ukraine-Krieg ist eine ordinäre politische Katastrophe. Aber diese Katastrophe beruht auf einem verständlichen Missverständnis.

Weltwoche: Und wie würden Sie dieses verständliche Missverständnis charakterisieren?

Lübbe: Ach, wie gut lebten wir doch, wenn es den anderen nicht gäbe.

«Diese Neigung zu den Sternen in Deutschland hängt entscheidend mit der Geografie zusammen.»

Weltwoche: Sie meinen: Anstatt den Krieg zu beenden, politisch, pragmatisch, steigert man sich in den Krieg hinein, in die Sehnsucht, den anderen, hier also Russland, verkörpert durch Putin, loszuwerden. Und beschwört die Katastrophe erst recht herauf?

Lübbe: Richtig, aber vor allem gilt das umgekehrt. Den Krieg hat schliesslich Russland begonnen. Wer kann ausschliessen, dass die Dinge sich nicht so entwickeln, wie der sogenannte Optimist annimmt? Eine Katastrophe, die über die ukrainische noch weit hinausgeht, bleibt denkbar. Das übrigens zu wissen und lebendig zu halten, gehört zu den Voraussetzungen dafür, die Katastrophe zu vermeiden, ihr Auftreten unwahrscheinlicher zu machen.

Weltwoche: Glauben Sie, dass Putin die alte Sowjetunion wieder errichten will?

Lübbe: Nein.

Weltwoche: In diesem Krieg geht es aus meiner Sicht um klassische Einflusssphärenpolitik. Die Russen wollen keine Nato-Basen vor ihrer Haustüre, und die Nato hat die Ukraine faktisch zu einem Mitglied gemacht.

Lübbe: Ja. Keine Grossmacht duldet ohne weiteres einen potenziellen Gegner in unmittelbarer Nähe, was einen notwendigerweise schwächt. Da hatte Russland mit der Osterweiterung der Nato ohnehin schon viel zu schlucken.

Weltwoche: Der Zweite Weltkrieg war ein Weltbürgerkrieg der Ideologien, ein fanatisches Aufbäumen eines diktatorischen, nationalsozialistischen Deutschland gegen die liberalen Demokratien des Westens, so, wie die Sowjetunion sich systemisch gegen den Westen stellte. Solche Energien sind im Ukraine-Krieg nicht zu beobachten.

Lübbe: Ja, so sehe ich das auch. Putin versucht zwar, Unterstützung für den Ukraine-Krieg zu mobilisieren, indem er grundsätzliche Feindschaft und einen grundsätzlichen Gegensatz des Westens gegen Russland behauptet, aber ich glaube nicht, dass er damit Erfolg hat.

Weltwoche: Das Missverständnis besteht demnach auch darin, dass wir einen klassischen geopolitisch motivierten Territorial- und Interessensphären-Krieg, wie es im 19. Jahrhundert viele gab, durch die Brille des 20. Jahrhunderts mit seinen ideologischen Kriegen betrachten.

Lübbe: Exakt.

Weltwoche: Reden wir über Europa und den Westen. Es ist wieder sehr oft und sehr laut die Rede von den «westlichen Werten», die wir angeblich verteidigen müssen. Was halten Sie davon? Welche Gedanken haben Sie, wenn Sie Politiker, Intellektuelle und Medien über «westliche Werte» reden hören?

Lübbe: Die Frage ist anspruchsvoll, und ich formuliere zuerst einmal eine Antwort, die eine Verlegenheit sichtbar macht. Ich selber gebrauche das Wort «Wert» so gut wie nie. Das ist kein aktiver Bestandteil meines Wortschatzes.

Weltwoche: Warum nicht?

Lübbe: Ich bleibe etwas äusserlich, wenn ich sage, dass ich als deutscher Sprachgenosse das Wort «Wert» hauptsächlich als dem ökonomischen Bereich zugehörig verwende.

Weltwoche: Nicht dem moralischen oder politischen.

Lübbe: Für den politischen Zusammenhang gebrauche ich das Wort «Wert» so gut wie nie. Und weiss zugleich, wie unentbehrlich es natürlich im ökonomischen Zusammenhang ist.

Weltwoche: Ist es gefährlich, wenn Politiker und Gesellschaften den Begriff der Werte immer häufiger, immer lauter und immer schriller und, ja, auch drohender verwenden?

Lübbe: Die Frage, ob es gefährlich ist, wage ich spontan nicht entschieden zu beantworten. Ich neige eher zu einem Ja. Und diese Neigung beruht darauf, dass ich meine, dieser Begriff gehört in diesen Zusammenhang gar nicht hinein. Auch als ein Professor der politischen Theorie habe ich das Wort von den Werten, die wir zu verteidigen hätten, kaum je gebraucht oder wenn, dann in viel pragmatischeren Zusammenhängen. Ich hätte vielleicht vom Wert einer Vorschrift oder einer Institution gesprochen, aber nicht von Werten als einer Art Superbegriff für das Allerhöchste und Allerwichtigste.

Weltwoche: Wer von Werten redet, neigt dazu, seine Werte für höher, die Werte der anderen für minderwertig zu erachten. Frömmler, Gutmenschen reden von Gott, aber sie meinen sich selbst. Wer von Werten redet, will andere herabsetzen, will einschüchtern, will sich als höherwertig präsentieren. Die Rede von Werten in der Politik ist so gesehen eine Art von Betrug.

Lübbe: Ich stimme dem zu, und daraus erklärt sich, warum ich sehr bescheidenen Gebrauch von diesem Wort mache.

Weltwoche: Sehen Sie so etwas wie «europäische Werte»? Politiker in der EU reden oft davon.

Lübbe: Was ist damit gemeint? Ich habe für diese Redensweise, die europäischen Werte, gar keine aktuelle Verwendung. Käme mir nicht in den Sinn.

Weltwoche: Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Freiheit: keine europäischen Werte?

Lübbe: Ja, gewiss. Aber das ist doch nicht allein europäisch. Und soll das bedeuten, dass die Europäer einen Exklusivanspruch darauf hätten?

Weltwoche: Sie haben lebenslang an Universitäten gearbeitet. Sie haben sich auch als Bildungspolitiker in den sechziger Jahren hervorgetan, als Mitglied der SPD, Sie waren Universitätsgründer nach dem Krieg . . .

Lübbe: . . . faktisch mit hohen Vollmachten. Weil ich ministeriell angebunden war an den Ministerpräsidenten, der sich um diese Dinge nicht kümmern konnte. Meine Selbständigkeit war sehr gross.

Weltwoche: Wir beobachten an heutigen Universitäten ein neues interessantes Phänomen von Denkgeboten und Sprechverboten. Zum Beispiel darf man an gewissen Hochschulen nicht mehr sagen, es gebe zwei biologische Geschlechter. Das gilt als inkorrekt. Verstösse können einen um Brot und Beruf bringen. Wie interpretieren Sie diese «Cancel Culture», diesen neuen Jakobinismus, ist das die zivilisierte Form dessen, was wir früher Scheiterhaufen genannt haben?

Lübbe: Das löst mein Misstrauen aus, so empfindlich, ja überempfindlich zu sein.

Weltwoche: An den Universitäten breitet sich jetzt eine Monokultur aus, so ein Einheitsdenken. Woher kommt das? Was ist da los?

Lübbe: Das ereignet sich ja nicht nur an Universitäten. Wir leben in einer öffentlichen, auch medialen Kultur, in der die Zugehörigkeit zu einer sich an höchsten Werten orientierenden Sonder- oder eben Höchstklasse Anerkennungsvorteile verspricht.

Weltwoche: Die Verengung nimmt zu. Als Sie noch ordentlicher Professor in Zürich waren, fanden sich in den Geisteswissenschaften mehrere bürgerliche Hochschullehrer. Inzwischen ist die linke Richtung dominant.

Lübbe: Das wäre zugleich ein Nachteil für die öffentliche Debatte. Die wird entdifferenziert. Sie wird primitiver.

Weltwoche: Halten Sie das für eine gefährliche Entwicklung?

Lübbe: Schadensträchtig ist es zumindest, ja. Und je nachdem, wie gross die Schadenswirkung tatsächlich ist, dann auch gefährlich. Aber zunächst einmal ist es nachteilig und schädlich. Es macht eine missverständnisvolle Kenntnisnahme der Realität, in der man lebt, wahrscheinlicher.

Weltwoche: Die Cancel Culture kommt von links, sie ist eine Form von Sozialismus, denn der Sozialismus glaubt, die Gesetze der Geschichte zu kennen, sich für die Verkörperung des Gerechten und Guten zu halten, ergo kann, darf es keine andere Meinung mehr geben.

Lübbe: Ich stimme zu. Die Cancel Culture ist primär links und nicht rechts.

Weltwoche: Wo ist der Reiz dieser linken Ideologie, dass der Mensch, vor allem der intellektuelle Mensch, immer wieder in dieses linke Denken, in diesen Sozialismus hereinrutscht? Was ist die Verführungskraft des Sozialismus?

Lübbe: Sich der Mühe der Verschaffung von Anerkennung durch wirklichkeitsoffene Diskussionen zu entziehen und sich selbst zu privilegieren. Sozialismus ist insoweit ein Selbstprivilegierungsvorgang.

Weltwoche: Eine Form von Bequemlichkeit.

Lübbe: So ist es, ja. Bequemlichkeit. Was man meint, hält man für unwidersprechlich und entzieht sich damit jeder Diskussion, die herausfordernd sein könnte.

Weltwoche: Es gibt vermutlich in jedem Menschen die tiefe Sehnsucht, Gewissheit zu haben, dass man das Gute tut. Dass man gerechtfertigt ist. Früher hatte man das in der Religion. Man hat gesagt: «Gott liebt dich.» Bei den Katholiken hiess es, wenn einer regelmässig in die Kirche geht, beichtet und die Rituale mitmacht, ein gutes Leben führt, kommt er in den Himmel. Der Protestant wiederum sagt, nicht so wichtig, ob ich an Gott glaube. Hauptsache, Gott glaubt an mich. Die Rechtfertigungskraft der Religion hat nachgelassen, und der Sozialismus ist als weltliche Religion in diese Lücke gesprungen: Er verheisst Rechtfertigung, und erst noch im Diesseits. Was halten Sie von dieser These?

Lübbe: Ich neige dazu, sie plausibel zu finden.

Weltwoche: Sie haben vor vielen Jahren einmal geschrieben, es sei der Königsberger Philosoph Immanuel Kant gewesen, der diese Selbsttäuschung des Menschen aufgedeckt habe. Die Selbsttäuschung, die subjektiven Einbildungen und Hervorbringungen unseres Hirns für die Wirklichkeit zu halten. Kant warnte vor diesem «falschen Schein der Objektivität des Subjektiven», so lautete damals Ihre Formulierung.

Lübbe: Genau das. Das habe ich vor vielen Jahrzehnten mal gesagt.

«Die Cancel Culture ist primär links und nicht rechts.»

Weltwoche: Der Mensch verwechselt seine Hirngespinste mit der Wirklichkeit. Warum haben Sie eigentlich – als politischer Philosoph – nie das Bedürfnis verspürt, als Ideologe, als Prophet, als Messias, als Lieferant von Rechtfertigung aufzutreten? Offenbar hatten Sie auch nie Bedarf, sich selber durch eine Ideologie zu rechtfertigen.

Lübbe: Es ist wohl die mich als Person prägende Herkunft aus einfachen, bäuerlichkeitsnahen Lebensverhältnissen, wo man grosse Sicherheit hatte in der Unterscheidung von dem, was angeht und was nicht angeht. Die Bindung an die konkrete Lebenspraxis, an die bäuerliche Welt, in der ich mich aufgehalten hatte, der ich entstammte, erdete mich gewissermassen. Meine Eltern waren keine Bauern mehr, aber die Grosseltern väterlicherseits waren es.

Weltwoche: Sie haben sich an Universitäten lebenslang kritisch mit dem Sozialismus, auch mit der politischen Theorie der Linken auseinandergesetzt. Einer Ihrer grossen Gegenspieler hiess Jürgen Habermas. Was war, was ist Ihr wichtigstes Argument, um einen Linken, der von sich und seiner moralischen Überlegenheit überzeugt ist, auf seinen Grundlagenirrtum – die falsche Objektivität des Subjektiven – aufmerksam zu machen?

Lübbe: Es ist die Abneigung, auf dieser Ebene mit einem Bekenntnis der eigenen Optionen und Theorien hervor- und entgegenzutreten. Ich habe immer versucht, die Diskussion auf ganz reale Beispiele, auf Konfliktexempel in der Welt, in der wir tagtäglich leben, zu konzentrieren.

Weltwoche: Praxis statt Theorie.

Lübbe: Ja. Das hat zugleich natürlich etwas Antiintellektuelles. Es verbindet sich damit zugleich ein Mangel an Vertrauen darauf, dass man die Diskussion, was machen wir denn jetzt, in einen politischen Zusammenhang heben kann, indem man noch einen Beizug von weiteren Intellektuellen organisiert. Tauglicher finde ich es, Betroffene, die auch für die Kosten zuständig bleiben, beizuziehen.

Weltwoche: Man sagt ja gerade den Deutschen einen gewissen Hang zur Abstraktion, zur Theorie nach. Haben Sie jemals herausgefunden, woher das kommt?

Lübbe: Ich beobachte an den Deutschen tatsächlich auch einen Mangel, sich zu begnügen mit einer pragmatischen Charakteristik der Situation, in der man sich befindet. Es ist ein Mangel an Common Sense, der mich beschäftigt. Woher der letztlich kommt, darüber habe ich zu wenig nachgedacht.

Weltwoche: Immanuel Kant, der grosse deutsche Philosoph, blickt in den Sternenhimmel, um Halt zu finden. Die Engländer oder die Schweizer schauen auf den Boden.

Lübbe: Kant ist typisch deutsch, und was die Deutschen vielleicht noch lernen müssen, ist, Kant als einen typisch deutschen Philosophen wahrzunehmen.

Weltwoche: Kants philosophischer Kollege und Nachfolger Hegel, der in den Nachschlagewerken als der eigentlich typisch deutsche Philosoph missverstanden wird, versuchte, Kant vom Himmel auf den Boden zu holen. Das Abstrakte mit dem Konkreten zu verbinden.

Lübbe: Genau so war es. Hegel ist pragmatischer als Kant. Zu Ihrer Frage: Der Hang zur abstrakten Denksynthese, der den Deutschen nachgesagt wird, der allerdings den weitaus grösseren, sehr praktisch veranlagten Teil der werktätigen Bevölkerung und aus der akademisch gebildeten Bevölkerung die Naturwissenschaftler und Ingenieure ausblendet, könnte daran liegen, dass in Deutschland intellektuelle Formationen, Professoren, Zeitungsschreiber, Intellektuelle traditionsgemäss ihren Einfluss über das billige Mass hinaus steigern konnten. In anderen Ländern, etwa den angelsächsischen, sind diese Berufe durch ein skeptisches öffentliches Bewusstsein gleichsam kontrollierter.

Weltwoche: Ja, sie sind anderswo kontrollierter.

Lübbe: Könnte diese Tendenz zum überkandidelten Intellektualismus, zur Theorienbildung, zum kantschen Griff nach den Sternen nicht auch spezifisch geografische Gründe haben?

Weltwoche: Inwiefern?

Lübbe: Ich glaube, diese Neigung zu den Sternen in Deutschland hängt entscheidend mit der Geografie zusammen. England ist eine Insel, die Grenzen sind gesichert. Die Schweiz ist hinter den sieben Bergen, die Grenzen sind ebenfalls gesichert. In der deutschen Erfahrung seit über tausend Jahren ist das, was Deutschland ist, was es sein könnte, wo es anfängt, wo es aufhört, wo die Grenzen sind, innen und aussen, wo wir sind und wo die anderen – dies alles ist flüssig, hingestreut auf eine gewaltige Fläche. Mit anderen Worten: Anders als die Angelsachsen, die Amerikaner oder die Schweizer konnten die Deutschen nicht auf dem Boden Halt finden, weil das Territoriale nie gefestigt, nie gesichert schien – also suchte man in den Sternen, in den Abstraktionen Halt. Der Begriff der Moral zum Beispiel orientiert sich in der angelsächsischen klassischen Philosophie am Hergebrachten, an der Tradition. Deutschlands Philosophen hofften, die Moral aus hochabstrakten Apriori-Argumentationen gleichsam aus dem Himmel ihres Denkens zu gewinnen. ›››

Weltwoche: Haben Sie selber das schon mal irgendwo aufgeschrieben?

Lübbe: Nein. Es hat aber eine Plausibilität, prima facie, und ich werde vertieft darüber nachdenken.

Weltwoche: Bevor wir auf die Schweiz kommen: Wie sehen Sie Deutschland? Sie haben Deutschland erlebt, als Zeitgenosse, die Höhen und Tiefen, Sie haben Deutschland studiert, seine Denker. Was ist Ihr vorläufiges Fazit?

Lübbe: Das ist eine grosse Frage, und ich neige dazu, sie trivial zu beantworten. Ich nehme an, dass die Entwicklung der modernen Gesellschaft in Europa und über Europa hinaus eine derart bestimmende und herausfordernde und durch Herausforderungen eben bestimmende Macht entfaltet, dass das, was den Deutschen an Pragmatismus fehlt, ihnen sozusagen lebenspraktisch abverlangt wird.

Weltwoche: Die Deutschen müssen, um in der Wirklichkeit erfolgreich zu sein, den ihnen zugeschriebenen Intellektualismus gleichsam ablegen.

Lübbe: Ja. Deutschland muss bestehen in einer kommunikativ grossräumig zusammenhängend gewordenen Welt, in der die Staaten mehr denn je voneinander abhängig sind. Deutschland steht unter intellektuellem Anpassungszwang an diese Entwicklung.

«Ich habe für diese Redensweise, die europäischen Werte, gar keine aktuelle Verwendung.»

Weltwoche: Glauben Sie noch an Deutschland?

Lübbe: Ja, da habe ich keinen Zweifel. Die Macht der Verhältnisse ist so gross, dass Deutschland trotz der prekären Elemente seiner intellektuellen Geschichte, von denen wir gesprochen haben, sich erfolgreich entwickeln wird.

Weltwoche: Sie halten auch die in den Medien immer beschworene Gefahr eines Rückfalls Deutschlands in frühere Extremismen für gebannt?

Lübbe: Das ist eine Frage von einer Ordnung und von einem Gewicht, dass man nicht leichthin antworten kann. Aber ich neige doch dazu, der Vermutung zuzustimmen, die Ihre Frage trägt.

Weltwoche: Was macht für Sie Deutschland aus?

Lübbe: Ich strecke die Antwort etwas und beginne zunächst mit meinem ungebrochenen Vertrauen in die Fähigkeit der Deutschen, die Bedingungen ihrer wohlhäbigen Existenz in der modernen Welt und unter dem Druck der enger gewordenen Nachbarschaft mit anderen zu sichern und zu tun und zu lassen, was von ihnen erwartet wird. Diese Kennerschaft ist ungebrochen, die ist gestiegen, ist fest und vertrauenswürdig, so würde ich sagen. Man muss sich um die Deutschen in der Zukunft – eine sonst normale Entwicklung der europäischen und weltpolitischen Realitäten immer vorausgesetzt – keine Sorgen machen.

Weltwoche: Ein bedeutender liberaler deutscher Politiker hat mir einmal gesagt, er sei noch aufgewachsen im Stolz auf die deutsche Flagge, auf die deutsche Militärtradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber sei dieses Kapitel für ihn erledigt. Er könne kein Deutschland-Patriot mehr sein. Gesetzt, er steht mit seiner Empfindung nicht allein, ist dieser Mangel an positiv besetztem Patriotismus heute für Deutschland ein Nachteil oder ein Vorteil?

Lübbe: Ein Nachteil, wenn dieser Mangel so wie beschrieben tatsächlich bestünde. Was ist stattdessen der Fall? Es besteht heute ein breites Vertrauen auf die über Jahrzehnte hin sicher und stabil gebliebene, ungefährdet gebliebene Realität des jetzigen Deutschland, einschliesslich der dramatischen Geschichte über seine Wiedervereinigung hinaus, in der Konsequenz des Untergangs der totalitären Realitäten, die wir in der Welt des 20. Jahrhunderts hatten. Also Deutschland ist politisch stabil geworden durch die nationale Erfahrung, die Deutschland gemacht hat. Deutschland hat dieses fürchterliche Stück Geschichte hinter sich. Die Vertrauenswürdigkeit ist massiv durch die historischen Realitäten belegt, auch präsent in der Anerkennung, die Deutschland von Seiten der aufmerksam zuschauenden Briten und sonstigen Nachbarn gefunden hat. Daraus folgere ich, dass die Deutschen sich nun auch nicht zu sehr um sich selber kümmern sollten, sondern sich weiterhin normalisieren durch Orientierung an den Realitäten, den nationalen, lokalen und weltpolitischen Realitäten des Tages. Die Beschäftigung mit sich selbst, sofern man sich selbst ein Problem ist, sollte aus der deutschen Geschichte nicht gänzlich verschwinden. Aber es ist nicht das, was in besonderer Weise aktuell wäre.

Weltwoche: Im starken Kontrast zu Ihren Einschätzungen stehen Versuche der Medien, heutige Parteien, namentlich eine AfD, mit Begriffen der Vergangenheit zu katalogisieren, herabzusetzen. Das Stichwort lautet: «Nazikeule». Diese bleibt allgegenwärtig. Wie sehen Sie das?

Lübbe: So nennt man es wohl, wenn, um einer Kritik, die ja durchaus diskutabel sein kann, Nachdruck zu verleihen, Heutiges pauschal in eine so nicht bestehende Nähe zum Nationalsozialismus gerückt wird. Damit macht man sich selbst interessant, die ihrer Sache noch nicht sicher genug gewordenen Deutschen momentan erschreckend.

Weltwoche: Man könnte sagen, nach dem Krieg ist die Europäische Union zu einer Art Vaterlandsersatz für Westdeutschland geworden, der Osten geriet ja unter die Kontrolle der Sowjetunion. Wie beurteilen Sie die EU, nach dem Abgang der Briten, im Lichte auch des Aufstiegs EU-kritischer Parteien und Politiker: Hat diese EU eine Zukunft?

Lübbe: Sie hat in wohlbestimmter Hinsicht keine Zukunft, nämlich wenn man an die Hoffnung oder Prognose denkt, die europäischen Staaten würden zu einer staatsanalogen Einheit zusammenrücken.

Weltwoche: Vereinigte Staaten von Europa. Das wird’s nicht geben.

Lübbe: Das wird es nicht geben. Das habe ich auch geschrieben.

Weltwoche: Genau. Den europäischen Superstaat wird es nicht geben.

Lübbe: Ja, das meine ich. Was die Staatsbildung anbelangt, ist die Grossbildung von Staaten definitiv abgeschlossen. Die Neigung ist, eher ins Kleine zu gehen und sich im Kleinen zu behaupten. Das ist spezifisch modern.

Weltwoche: Die Zukunft der EU liegt in der Kleinräumigkeit? In der Verschweizerung?

Lübbe: Richtig, nur das Wort «Verschweizerung» würde ich dafür nicht verwenden.

Weltwoche: In der Beweglichkeit. In der Flexibilität des institutionellen Raumes.

Lübbe: Exakt. Das ist meine Meinung.

Weltwoche: Sobald die EU versucht, ein Superstaat zu werden, wird sie zerbrechen.

Lübbe: Ja.

«Putin ist ein Autokrat, aber die Möglichkeiten eines Hitler hat er nicht.»

Weltwoche: Dann können wir jetzt auf die Schweiz kommen. Sie haben in der Schweiz gelebt, hier gearbeitet. Was ist die Schweiz für Sie?

Lübbe: Ich bin natürlich kein Schweiz-Kenner. Ich gebe Ihnen ein paar subjektive Äusserungen des gewesenen Schweiz-Einwohners. Das sind ja immerhin Jahrzehnte gewesen. Eine lange Zeit.

Weltwoche: Als teilnehmender Beobachter.

Lübbe: Teilnehmender Beobachter. Man hat mich allerdings auch eingeladen, was nach lokalen Verfassungsrechten möglich war, in Ausschüsse für dies oder jenes. Ich habe nie die Schweizer Staatsbürgerschaft erworben, aber ich habe da gerne mitgemacht. Allein, um auf diese Weise den dort gegebenen Möglichkeiten, mit Ureidgenossenen über Sachprobleme zu sprechen, über die entschieden werden musste in der Form der Formulierung einer Empfehlung. Mehr Kompetenzen hatte ich in dem Ausschuss natürlich gar nicht. Ich bin nicht Schweizer Bürger, aber habe doch einen nachhaltigen Eindruck gewonnen von der Lokalpolitik und natürlich auch von dem Verfassungssystem, davon, wie es funktioniert. Dann bin ich mit grossem Respekt ausgeschieden. Eines meiner Kinder ist längst Schweizer geworden.

Weltwoche: Die Schweiz müsste Ihrer Neigung zum Praktischen entgegengekommen sein. In der Schweiz bricht sich das Ideologische, das Extreme in den Institutionen, ein System der politischen Erdung und Intensitätsreduktion – einzigartig auf der Welt.

Lübbe: Ja, genau so.

Weltwoche: Worin unterscheiden sich Schweizer und Deutsche?

Lübbe: In der Schweiz erlebe ich eine geringere Geneigtheit zur Aufgeregtheit in der Konfrontation mit ungewöhnlichen Thesen. Das ist das Spiegelbild der grösseren Gelassenheit wegen der wahrgenommenen Ungefährdetheit der eigenen Existenz.

Weltwoche: Die Verführungskraft der «Werte» ist geringer.

Lübbe: Ja.

Weltwoche: Während sie in Deutschland ausgeprägter ist.

Lübbe: So ist es oder war es.

Weltwoche: Ausserdem ist die Bereitschaft grösser, dem Staat als Garanten der «Werte», der «Wertegemeinschaft» zu vertrauen.

Lübbe: Richtig.

Weltwoche: Und zu überschätzen. Der Deutsche erwartet vom Staat mehr als der Schweizer.

Lübbe: Ja, ja, so ungefähr könnte man in kritischer Absicht sagen.

Weltwoche: Sie gelten als «Rechts-Hegelianer», man ordnet Sie wohl richtig ein, wenn man Sie als liberalkonservativen Denker sozialdemokratischer Prägung beschreibt. Was raten Sie einem jungen Konservativen heute? Worauf kommt es an?

Lübbe: Zunächst allgemein: Die Menge dessen, was konserviert werden kann, nimmt ab. Gleichzeitig wird die Konservierung des einzig konservierungsfähig an die Zukunft zu Transferierenden wichtiger. Der Konservativismus ist in der modernen Welt weniger breit präsent und zugleich wichtiger, unentbehrlicher.

Weltwoche: Worauf muss er sich konzentrieren? Was muss er konservieren?

Lübbe: Man würde zu eng argumentieren, wenn man sagte, er muss die in unseren Verfassungen festgehaltenen Menschenrechte bewahren. Man muss auch darüber hinaus einen Sinn entwickeln unter dem Druck der Fülle dessen, was in der Tat verändert werden muss oder auch verbessert werden könnte, sich zu orientieren an dem Grundsatz der maximalen Konservierung dessen, was keiner Veränderung bedarf. Das immer wieder herauszufinden, ist die Aufgabe des Konservativismus.

Weltwoche: Der Konservative kann sich nicht wie der Linke auf eine Ideologie verlassen. Er muss immer wieder anhand der Realität sich ein Urteil bilden darüber, was festzuhalten ist, was sich bewährt hat und was nicht.

Lübbe: Dem Konservativen wird dabei die grössere intellektuelle Mobilität abverlangt. Er hat es schwerer.

«Diesen Krieg kann man eher nur deuten aus der engeren, aus der besonderen Geschichte Russlands.»

Weltwoche: Und was ist das Geheimnis, Herr Professor Lübbe, der Urteilskraft? Ein Urstoff der Philosophie, Immanuel Kant, «Kritik der Urteilskraft», Hegel, die ganze Philosophie, die Philosophiegeschichte ist ja von der Frage geprägt: Was kann ich wissen, was soll ich tun? Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen? Was ist das Geheimnis der Urteilskraft? Was ist das Wichtigste, um die eigene Urteilskraft zu verbessern?

Lübbe: Die Urteilskraft nimmt zu mit der Menge der Erfahrungen, die man auch in der modernen Welt, mit der Praxis der Selbstorganisation des eigenen politischen, öffentlichen und privaten Lebens macht. Die Menge des immer Gültigen, Unveränderlichen nimmt in der modernen Welt relativ ab, aber die Wichtigkeit und Bedeutung des zu Bewahrenden nimmt zu.

Weltwoche: Wo haben Sie mehr Urteilskraft gelernt? Mehr in Büchern der Philosophie, weniger im Leben?

Lübbe: Es ist genau umgekehrt. Durch die Teilnahme am privaten Leben einer grossen Familie, in der es eine Fülle von sozialen Organisationsproblemen und Entscheidungen gab. Darüber hinaus das gemeinschaftliche, nachbarschaftliche, lokale, regionale und nationale Leben. Diese praktischen Entscheidungen haben mich in erster Linie beschäftigt. Die Orientierung aufs Konkrete, Praktische war auch ein wichtiges Element der Erziehung durch meinen Vater. Er war Beamter eines Landkreises, zuständig für das ganze Bauwesen, einschliesslich des sehr schwierigen Bauwesens, das mit Wasser und Überschwemmungen und Deichen und dergleichen zusammenhing. Er nahm mich immer mit und erläuterte anhand der ganz konkreten Fälle die fälligen Vermessungen und die Anordnungen, die er nun treffen musste.

Weltwoche: Warum haben Sie Philosophie studiert? Mit welcher Frage sind Sie an die Philosophie aus dem praktischen Leben herangetreten?

Lübbe: Ich wollte mich beschäftigen mit den Orientierungen derjenigen, die in der Politik des 20. Jahrhunderts so unermessliches Unheil angerichtet haben. Also, was war da eigentlich los? Wieso hat der Totalitarismus, der so oder so die Welt endgültig in Ordnung bringen wollte, diese Welt so hinterlassen, mit Dutzenden von Millionen von Toten? Das war die entscheidende Frage. Nicht weil sie noch aktuell gewesen wäre, weil man Angst gehabt hätte, so was könnte sich im eigenen Land wiederholen. So war das ja nicht. Wir leben ja in ganz anderen politischen Verhältnissen jetzt. Aber die Geschichte des europäischen Totalitarismus, der europäischen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Deutschland und dann auch mit der Sowjetunion und etlichen anderen Ländern ist ja ein schlechthin ewiges Rätsel. Wie kann man sich einen solchen Unfug mit den praktischen, mit den blutigen praktischen Konsequenzen einfallen lassen?

Weltwoche: Und was ist Ihre Antwort aus der lebenslangen Beschäftigung? Wie ist dieser Unfug zu erklären? Und warum konnte die Tatsache dieses Unfugs mit all seinen fürchterlichen Folgen Ihr Urvertrauen in die Welt und in die Lernfähigkeit der Menschen nicht erschüttern?

Lübbe: Ich kann eine bittere Antwort darauf geben: Es ist gefährlich, den Denkern zu viel zuzutrauen.

Weltwoche: Sie haben sich mit dem Denken beschäftigt, um dem falschen Denken entgegenzutreten.

Lübbe: So ist es. Man kann auch sagen, um die Denker unter Kontrolle zu halten. Das heisst ja nicht, dass ich denen in ihre Bücher hineinschreiben will. Aber die Welt der Denker ist doch zunächst einmal eine Welt der Intellektuellen, die von derjenigen relativ weit entfernt ist, auch entfernt sein muss, aus der produktive Entscheidungen erwachsen. Das deutsche Unglück und nicht nur das deutsche Unglück, das Unglück Europas einschliesslich all dessen, was aus dem ja wiederum auf deutschem Boden erwachsenen, theoretisch erwachsenen internationalen Sozialismus hervorgegangen ist: Das sind ja alles Denkprodukte, und nicht durch Erfahrung geleitete. Es sind nicht Erfahrungsfrüchte. Es sind Seminarprodukte.

Weltwoche: Denkprodukte. Sie haben auch Theologie studiert. Liegt nicht gerade die Genialität darin, dass es auch eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der totalitären Verirrung des Menschen liefert? Die christliche Antwort: Das kommt eben daher, dass sich der Mensch an die Stelle Gottes setzt, sich die höchste Macht anmasst, sich selber für Gott hält oder für das Mass aller Dinge in einer Welt, die Gott beseitigt hat. Das Christentum ist eine Religion der Freiheit, der Machtbrechung: Die höchste Macht ist nicht von dieser Welt. Und wehe, der Mensch setzt sich auf den höchsten Thron.

Lübbe: Das ist die Quintessenz der Theologie.

Weltwoche: In Ihrem Leben ist die Philosophie trotzdem wichtiger als die Theologie.

Lübbe: Ja, das ist nichts weiter als eine Konsequenz meines Berufslebens. Ich muss allerdings sagen, dass es auch noch einen anderen Zusammenhang gibt. Mein Vater stammte aus dem katholischen Bereich, und das war ein ziemlich harter Katholizismus. Und meine Mutter war lutherisch geprägt, und zwar in einem strengen lutherischen Elternhaus. Die Grossmutter übrigens, die Frau dieses ernsten Lutheraners, meines Grossvaters, war wiederum reformiert. Also die musste sich dann irgendwie behalten, behaupten und Stille halten, nicht?

Weltwoche: Mit 95 Jahren schaut man ja auch ein bisschen in die Ewigkeit hinaus. Man ist mit der letzten Grenze konfrontiert, mit dem Tod. Bevor wir uns aber mit dem Tod beschäftigen: Was ist das Geheimnis eines langen und, wie es scheint, glücklichen Lebens?

Lübbe: In der Tat ist mein gesundheitlicher Zustand überdurchschnittlich gut. Ich habe auch keinen Hausarzt.

Weltwoche: Sie haben auch kein Hörgerät.

Lübbe: Auch kein Hörgerät. Nur eine schwache Brille. Worauf beruht denn das? Ich habe mein Leben lang, von Kindheit an bis ins hohe Alter, regelmässig Sport betrieben oder mich jedenfalls regelmässig körperlich bewegt. Immer wenigstens einmal am Tag Kraft, Bewegung, in Schweiss geraten. Die Reaktion des leiblichen Wohlbefindens auf die Betätigung des Leibes ist so überraschend, dass ich eigentlich keinen Zweifel habe, dass die unverdrossene und lustgeprägte Teilhabe am bewegten Leben mein Leben glücklich verlängert hat.

Weltwoche: Wenig Alkohol?

Lübbe: Ich bin kein Alkoholfeind. Wenn man gegessen hat oder sich in einer Weise bewegt hat, dass sich grosser Durst einstellt, ist Bier ein unüberbietbar wohltuendes Getränk.

Weltwoche: Wein?

Lübbe: Wein trinke ich heute seltener als früher. Die Menge, die ich getrunken habe, hat ständig abgenommen. Das ist nicht gesteuert durch ärztliche Regeln, sondern durch Orientierung an den Wohlbefindlichkeits- oder Missbefindlichkeitsfolgen.

«Die Menschen werden sich immer intensiver des Andersseins der anderen inne.»

Weltwoche: Reden wir zum Schluss über die Frage des Todes. Wie stehen Sie dem Tod gegenüber am Abend eines intensiven, interessanten und bis jetzt glücklichen Lebens?

Lübbe: Nach statistischem Durchschnitt habe ich noch achtzehn Monate zu leben. Es kann aber auch, das weiss man nicht, länger sein.

Weltwoche: Verdrängen Sie den nahenden Tod?

Lübbe: Nein. Ohne Tod ist Leben undenkbar, kann kein Leben stattfinden. Leben ist an Tod gebunden. Mich prägte die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen mit dem Tod umgingen. Das heisst, die Fälle sind sehr selten, wo in der Beschäftigung mit dem eigenen Tod irgendwelche Schwierigkeiten auftauchen. Man ist so alt, so nahe beim Tod, und es macht auch keine Schwierigkeiten, gehört zum normalen Ablauf. Dazu gehört die Selbstverständlichkeit, mit der die Stätten des verwahrten Todes, die Friedhöfe, ja keine Schreckenskammern sind, sondern da geht man hin und erinnert sich an die alten und guten Bekannten.

Weltwoche: Über dem Abgrund schaukelt die Wiege. Und der platte Menschenverstand sagt uns, dass das Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist? Erschreckt Sie das nicht?

Lübbe: Ganz und gar nicht. Wie möchte man es sonst beschreiben? Hat es irgendetwas Erschreckendes? Lebensalltagspraktisch hat man den Tod zu vermeiden, sich schlussendlich aber damit abzufinden. Iss weniger, geh mehr. Bringe dich vor allem nicht selber um. Solche Regeln sind Bestandteil der gemeinen Kultur. Nicht?

Weltwoche: Warum erschreckt Sie das nicht? Viele Philosophen haben mit dem Tod gerungen, mit dem Nichts, zum Beispiel Martin Heidegger, den Sie noch persönlich gekannt haben.

Lübbe: Hier habe ich einen Verdacht. Der Tod ist ein so grosses und so ernstes und so wichtiges Thema, dass man versteht, dass jemand über das Sein zum Tode auch ein ganzes welterfolgreiches Buch schreibt.

Weltwoche: Maximierung der Aufmerksamkeit.

Lübbe: Richtig. Aber mehr ist es auch nicht.

Weltwoche: Was ist der Sinn des Lebens?

Lübbe: Gelernt zu haben. Lernen zu können. Sich in ein Verhältnis der Dankbarkeit zu dem Faktum zu versetzen, dass man ist, statt nicht zu sein.

Weltwoche: Wer ist für Sie der bedeutendste Denker?

Lübbe: Die Antwort auf diese Frage scheue ich. Ich schätze diese Frage nicht. Ich anerkenne natürlich, dass man sie stellen kann. Und meine Antwort würde dann lauten, dass ich einen herausragenden Denker vor anderen gar nicht zu benennen vermöchte. Ich kenne eine ganze Reihe. Aber eine Offenbarung hat mir kein philosophischer Text bereitet, und so viele habe ich in meinem Leben lesen müssen. Keine Offenbarung, aber Helligkeit. Manchmal auch durch Verärgerung über die Verdunkelung.

Weltwoche: Was lesen Sie?

Lübbe: Ich lese im Augenblick absolut Kontingentes, manches zum zweiten Mal, weil ich im Rückblick auf mein langes Leben fast alles vergessen habe. Ich lese im Augenblick eine Geschichte Ostfrieslands.

Weltwoche: Was ist das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte?

Lübbe: Hier bin ich zunächst einmal geneigt, zu sagen, diese Frage ist nicht klug, aber sie ist interessant.

Weltwoche: Für Hegel war es die Französische Revolution, für Sie muss es die Neuerfindung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein.

Lübbe: Ich kam im Spätjahr 1945 aus der sowjetischen Gefangenschaft nach Hause zurück und musste studieren. Die Frage: «Was mache ich denn jetzt?», war ganz trivial. So tief hatte das Nazireich die deutsche kulturelle Wirklichkeit nicht zerstört. Die Deutschen konnten wissen, was geht und was nicht geht. Das Nazireich ging eben nicht. Und dann wusste man auch, was denn stattdessen geht.

Weltwoche: Man muss sich wieder zurechtfinden.

Lübbe: Es gab bei mir keine Selbstfindungsprobleme nach einem Jahr sowjetischer Gefangenschaft, halb verhungert, aber nicht schikaniert. Ich habe übrigens gute Erinnerungen an die sowjetische Gefangenschaft.

Weltwoche: Sibirien?

Lübbe: Nein, irgendwo hinter Moskau am Ural.

Weltwoche: Mit dem schwedischen Schriftsteller Henning Mankell: Vernunft ist die Unterwerfung unter das Gesetz des Überlebens.

Lübbe: Ja, sehr hart formuliert. Das Überleben aber ist eine Spur zu wenig. Ich unterwerfe mich natürlich auch anderen Erfordernissen des Lebens, eines guten Lebens, eines glücklichen Lebens oder eines Lebens mit anderen Menschen, innerhalb einer Kultur. Es ist ja nicht nur das eigene Überleben. Das eigene Überleben ist gar nicht definierbar, gar nicht vorstellbar, ohne dass es alles andere auch noch gäbe, nicht?

Weltwoche: Sie sind ein Optimist des Lebens, dieses rätselhaften Ur-Geschenks, das sich bewährt in den Trümmern des Kriegs, im Abgrund des Schrecklichen. Es geht immer irgendwie weiter. Die Apokalypse wird überschätzt.

Lübbe: So ist es. Dazu muss ich allerdings sagen, dass die geringen personalen und auch nationalen Schwierigkeiten, Katastrophen des Lebens zu verarbeiten, von Voraussetzungen, von Kräften abhängig sind, die nicht zur eigenen Disposition stehen.

Weltwoche: Ein Geschenk.

Lübbe: So ist es.

Weltwoche: Ist die Bibel ein philosophisch unterschätztes Buch?

Lübbe: Ja, man muss sie freilich selektiv lesen, wenn man sie als eine Philosophie lesen will. Aber ich lese gern darin, insbesondere im Alten Testament.

Weltwoche: Die Bibel ist auch ein Buch des Optimismus.

Lübbe: Das muss man so sagen. Ich riskiere den Satz: Ohne Optimismus kann man gar nicht leben. Ich meine, zu den Voraussetzungen dafür, dass ich in Bezug auf die Ausstattung des Menschen mit Fähigkeiten zur Bewältigung seiner Existenz optimistisch denke, gehört natürlich auch die Fülle der Begegnungen mit Kollegen, mit Freunden, mit Nachbarn, mit Familienangehörigen. Der Regelfall ist, dass Menschen leben können.

Weltwoche: Ihre Philosophie ist im Grunde der nicht-theologische Versuch, den Menschen mit sich zu versöhnen.

Lübbe: Ich bin kein Kritiker.

Weltwoche: Sie sind einer, der die Menschen «behaust» hat: Passt auf, lasst euch da nicht etwas einreden von «Entfremdung», «Untergang des Abendlandes», vom «sozialistischen Paradies auf Erden». Man muss dieses ganze Gestell, diesen Gerümpel, der einem den Blick aufs Leben verstellt, den muss man wegräumen. Philosophie als Versuch, die Verirrungen des Denkens zu beseitigen und die Leute, die Menschen wieder dem Leben auszusetzen. Das ist Ihre Philosophie.

Lübbe: Damit bin ich voll einverstanden. Philosophie sollte eine stabilisierende Wirkung haben.

Weltwoche: Herr Professor Lübbe, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Die 3 Top-Kommentare zu "«Die Welt wird friedlicher»"
  • tillas

    Die Welt wird nicht friedlicher....der Mann hatte seine guten Zeiten.....Was noch alles im Umbruch ist, das sollte Sorgen bereiten. Das ganze Finanzsystem wird ein anderes werden. Der Mensch wird digitalisiert, die Demokratie untergraben, mit vorherrschender Diktatur. Ein Reset....Aber ihn wird das nicht mehr gross betreffen.

  • Käsesemmel

    Herzlichen Dank für dieses klug und vor allem kenntnisreich geführte, äußerst interessante Gespräch mit einem hochgebildeten Menschen. Wieder mal eine echte Sternstunde in der aus dem Journalismus der täglichen und immer vulgäreren Hysterien herausragenden Weltwoche.

  • Horribel

    Bei allem Respekt: da hat, scheint mir, einer, biographisch bedingt, den Anschluss an die Gegenwart verloren: eingestandenermassen aus barem Mangel an Informationen ("Dazu muss ich zunächst gestehen..."). Dann: Defizienz der Analyse. Es fehlt mir eine Einsicht in die Möglichkeiten des digital gestützten Totalitarismus. Und was den Zustand der Demokratie in D betrifft, da erschauert man vor der Naivität des Interviewten...