Tuning in — Akustik der Emotionen: Internationales Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum Genf. Bis 24. August 2025

Unter dem riesigen Stuhl mit dem gebrochenen vierten Bein wird für einmal nicht gegen den «Genozid in Gaza» demonstriert, sondern der israelischen Geiseln gedacht. Der Weg führt vom Völkerbundpalast an der verbunkerten russischen Botschaft vorbei. Ihr gegenüber das städtische Musée de l’Ariana für Preziosen aus Keramik und Glas, in dessen Park Tränen nachgebildete Laternen an den Genozid der Armenier erinnern. Das Hauptquartier des IKRK taucht wie ein Palast aus der Belle Epoque auf. Zum Eingang des unterirdischen Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseums muss der Besucher zwischen zwei hohen Betonmauern hindurch – der von aussen kaum wahrnehmbare Bau ist ein architektonisches Bijou. 1985 legten Nancy Reagan und Raissa Gorbatschow mit der Gattin des damaligen Bundespräsidenten Kurt Furgler den Grundstein. Doch längst geht es nicht mehr um den Zeitvertreib der First Ladys auf Staatsbesuch. Das Museum will «die Werte und die Aktualität der humanitären Hilfe hinterfragen».

Die Ausstellung «Tuning in – Akustik der Emotionen» stellt intelligente und rhetorische Fragen: «Wer spricht, wer hat das Recht, gehört zu werden? Welche Rolle spielt die Musik in der humanitären Arbeit?» Die Inszenierung bekennt sich zur «dekolonialen, feministischen, inklusiven» Perspektive. Der Auftrag war nüchterner: Im Archiv des IKRK befinden sich Tonbänder, Schallplatten, Kassetten. Diese einzigartigen Dokumente werden jetzt erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Besucher hört humanitäre Lieder, «Musik aus dem Gefängnis» und Aufnahmen von humanitären Einsätzen. Piero Mottola schuf ein «partizipatives Gesamtkunstwerk» mit Freiwilligen. Zu sehen gibt es Skulpturen, Zeichnungen, Filme. Alle Dokumente verweisen auf eine Geschichte, nicht jede kann erzählt werden. Die Kunst und der Ton verleihen ihnen eine zusätzliche Dimension: Die «Akustik der Emotionen» ist ein Echo des Grauens.

 

Velo aus Hiroshima

Wie man Archive präsentieren kann, deutet die Dauerausstellung an. Aus den Karteikarten von zwei Millionen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs – sie sind ein Weltkulturerbe der Unesco – werden vier Schicksale nachgezeichnet. Die Dokumente sind in Bänden zusammengefasst, in denen man schmökern darf. Sie zeigen, wie der Suchdienst des IKRK arbeitet.

Letzten Monat bekam das Museum ein Velo aus den Ruinen von Hiroshima. Der Besitzer stiftete es mit dem Auftrag, dass es die Erinnerung wachhalten und den Kampf gegen die Atombombe weiterführen möge. Nach dem Tod der letzten Überlebenden müssen die Künstler übernehmen. Diese Ausrichtung und die Tatsache, dass Opfer die Ikonen der Gegenwart schlechthin sind, haben dem Museum den Ruf eingetragen, über Genf hinaus eines der besten zu sein. Er ist berechtigt. Seine Ausstellungen lösen Emotionen und Denkanstösse aus.

Doch der Anspruch an die Kunst in den Diensten des Guten ist keineswegs unproblematisch. Und bei der Anbiederung an den Zeitgeist ist Vorsicht geboten. Aus der «dekolonialen» Perspektive zum Beispiel müsste Steve Reichs Komposition «Different Trains» in der Dauerausstellung konsequenterweise gecancelt werden: Es ist eine Appropriation des Leidens. Von diesem Vorwurf kann man auch «Akustik der Emotionen» nicht vorbehaltlos freisprechen.