Herr Koch, seit Monaten stehen OECD, IWF oder G-20 in den Schlagzeilen. Profitieren internationale Organisationen von der globalen Wirtschaftskrise?

Die Krise ist für sie in der Tat eine Triebfeder. Staaten setzen vermehrt internationale Organisationen ein, um Probleme zu lösen.

Weshalb ist das so?

Krisenzeiten sorgen für Unsicherheit und machen in den einzelnen Staaten den Ruf nach allgemeinen Verhaltens- und Handlungsregeln stark. Das ist für internationale Organisationen eine ganz grosse Chance, sich in den Vordergrund zu drängen und neue Themenfelder zu besetzen.

Lässt sich beobachten, dass in Krisenzeiten die Bürokratie internationaler Organisationen an Einfluss gewinnt?

Dazu sind mir keine empirischen Forschungen bekannt. Aber wenn Bürokratien einen bestimmten Bestand erreicht haben, sind sie interessiert, ihre Grösse zu sichern. Ich würde vermuten, dass es im Anschluss an Krisen eine höhere Einstellungsmoral seitens internationaler Organisationen und ihrer Mitgliedstaaten gibt, um zur Bearbeitung von Problemen das nötige Personal zur Verfügung zu stellen.

Die OECD gehört zu den Organisationen, die sich in den vergangenen Monaten besonders stark profilieren konnten. Deutschland oder Frankreich scheinen die OECD zu benutzen, um in der Schweiz eine andere Steuerpolitik durchzusetzen.

Zu diesem speziellen Fall kann ich mich nicht äussern, weil es dazu noch keine Forschung gibt. Generell macht es aber den Eindruck, als würden einzelne Länder an den Pranger gestellt und als ob gewisse Staaten versuchen würden, bestimmte Massnahmen über die OECD als Transmissionsriemen durchzusetzen, hinter denen sie sich dann verschanzen. Sie können ja immer sagen, es sei die internationale Organisation, die das einfordere, und nicht Deutschland oder Frankreich. Auf diese Weise kann ein möglicher bilateraler Konflikt in einen Konflikt zwischen einer internationalen Organisation und einem Staat transformiert werden.

Also ist die OECD ein Hebel, um ein Problem auf eine höhere Ebene zu verlagern?

Ich würde sie mit einem Schutzschild vergleichen, hinter dem sich Staaten verstecken können, insbesondere wenn sie in internationalen Organisationen über ein starkes Stimmengewicht verfügen und damit ihre Interessen durchsetzen können.

Lässt sich beobachten, dass Staaten mit einem hohen Stimmengewicht internationale Organisationen dazu benutzen, um ihre Partikularinteressen durchzusetzen?

Dazu gibt es in der Geschichte sehr viele Beispiele. So wurden die Vereinten Nationen während des Kalten Krieges zu einem Instrument der USA gegenüber der Sowjetunion und anderen kommunistischen Staaten. Ähnliches lässt sich für die WTO feststellen, die bis zur Millenniumsrunde 1999 insbesondere von den Industriestaaten genutzt wurde, um Vereinbarungen über Zollniveaus und den Abbau von Kontingenten zu treffen. Dabei wurden die Interessen der sogenannten Entwicklungsländer ignoriert oder diese wurden mit minimalen Vergünstigungen abgespeist, ohne beispielsweise den Handel mit Agrarprodukten zu liberalisieren.

Welche Vorteile bringen eigentlich internationale Organisationen in die Politik ein?

Sie schaffen Erwartungssicherheit für ihre Mitglieder und darüber hinaus für andere Akteure wie nationale und multinationale Unternehmen.

Das heisst?

Staaten bekommen durch internationale Organisationen Regelvorgaben, an denen sie sich orientieren können.

Besteht nicht die Gefahr, dass demokratische Prozesse ausgehöhlt werden, wenn internationale Organisationen verbindliche Regeln erlassen?

Im Prinzip werden Regeln durch die einzelnen Mitgliedstaaten festgelegt. Und doch: Die Bürokratie internationaler Organisationen hat durchaus die Möglichkeit, auf die Entwicklung von Regelungen einzuwirken.

Wie das?

Zum Beispiel durch die Vorgabe einer bestimmten Agenda, durch die Aufbereitung des Zahlenmaterials oder durch gezielte Informationen, die dann an den Sitzungen den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden und deren Basis zur Entscheidungsfindung liefern.

Treten am Ende Regierungen einen Teil ihrer Souveränität an internationale Organisationen ab?

Man kann das nur mit einem «Jein» beantworten. Es gibt Fälle, in denen Staaten in nationalen Politikformulierungen massiv durch internationale Organisationen beeinflusst werden. Das ist zum Beispiel bei den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds der Fall. Diese Programme koppeln die Vergabe von Krediten an konkrete wirtschaftspolitische Massnahmen für Empfängerländer, wie zum Beispiel Deregulierung, Privatisierung, Haushaltsdisziplin.

Eine Einmischung, die von Joseph Stiglitz allerdings stark kritisiert wird.

Er meint, dass diese Strukturanpassungsprogramme mehr Schaden verursachen als Nutzen stiften. Andererseits steht es jedem Staat frei, einer internationalen Organisation beizutreten oder sie wieder zu verlassen.

Für Letzteres gibt es kaum Beispiele.

Nordkorea wäre eines. Das Land ist aus der Internationalen Atomenergiebehörde ausgetreten, um seine Energieanlagen den internationalen Kontrolleuren zu entziehen. Langfristig ist es für Staaten nicht möglich, den Zielen einer Organisation zu widersprechen und trotzdem Mitglied zu bleiben.

Funktionieren internationale Organisationen als geheime Regierungen, die sich der demokratischen Kontrolle entzieht?

Mitgliedstaaten können sich nicht der Verantwortung entziehen und im Zweifelsfall behaupten, die Lösung für ein bestimmtes Problem werde von einer internationalen Organisation entschieden, auch wenn sie dies bisweilen gerne tun. Aber internationale Organisationen haben versteckt die Möglichkeit, auf Entscheide von Regierungen einzuwirken und einen Verhaltensrahmen vorzugeben.

Liegt in der Delegation von Politikfeldern an internationale Organisationen eine Gefahr für die Demokratie?

Es besteht durchaus die Gefahr, dass der staatliche Entscheidungshorizont eingeschränkt wird, Staaten also nicht vollständig frei entscheiden. Staaten geben Handlungsmöglichkeiten auf, wenn internationale Organisationen bestimmte Massnahmen und Entscheidungen vorbereiten, welche die Staaten dann nur noch abnicken können. Aber die internationalen Organisationen bedeuten gleichzeitig auch Hilfe für Staaten, die auf Informationen angewiesen sind. Es ist also ein zweischneidiges Schwert.

Sie beschreiben in Ihrem Buch die Tendenz internationaler Organisationen, sich zu verselbständigen. Wie muss man sich diesen Prozess vorstellen?

In der WTO, der Welthandelsorganisation, wurden zum Beispiel Schlichtungsinstanzen geschaffen, die im Falle eines Handelsstreits zwischen Staaten aktiv werden. Diese Instanzen haben ein grosses Potenzial und sind quasi selbständig. Deren Experten werden zwar von Staaten freigestellt, aber die Experten sind nur ihrem Sachverstand verpflichtet.

Wie schaffen es die internationalen Organisationen, sich so viel Unabhängigkeit gegenüber den Staaten zu erhalten?

Indem sie Themenfelder suchen oder innerhalb der Organisation eine Suborganisation bilden, die von den Staaten losgelöst ist. Das bereits erwähnte Streitbeilegungsverfahren in der WTO ist ein gutes Beispiel dafür. Internationale Organisationen können auch versuchen, sich neue Kompetenzen anzueignen. Die Flüchtlingsorganisation der Uno, die UNHCR, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um sich der Flüchtlingsproblematik in Europa anzunehmen, hätte eigentlich nach drei Jahren wieder aufgelöst werden sollen. Aber sie existiert immer noch, weil man den Flüchtlingsbegriff ausgedehnt hat und sich anderen Flüchtlingsproblematiken zuwendet, in jüngster Zeit auch zum Beispiel den Binnenflüchtlingen.