Wenn es bei uns in Deutschland eine Gipfelkonferenz der Wokeness gibt, eine Veranstaltung, wo, nach ihrer Selbsteinschätzung, sensible und fortschrittliche Menschen sich selbst weitgehend ungestört feiern, dann ist es die Re:publica. Diese alljährliche, staatlich geförderte Konferenz befasst sich, meist in Berlin, mit der digitalen Gesellschaft, Netzpolitik, den sozialen Medien und dergleichen. Die erste Konferenz trug 2007 den Titel «Leben im Netz», in späteren Jahren wurde das Motto origineller. Konferenzen zum Thema «Shit Happens» oder «Into the Wild» machen ja schon ein bisschen neugierig. In diesem Jahr hiess der Titel «Who Cares» – also: «Was soll’s».

Zu der Re:publica kommen inzwischen Tausende, darunter Regierungsvertreter, sogar der Bundespräsident war schon da. Das Ganze wirkt wie eine Art Gesamtparteitag des deutschen Staates der Zukunft mit all seinen halbstaatlichen, netzaffinen Vorfeldorganisationen und dem angeschlossenen bunten Blogger- und Influencer-Volk. Nur die Bundeswehr war unerwünscht, als sie 2018 in uniformierter Gestalt aufkreuzte und unter den Internetkids Nachwuchs anwerben wollte. Dies, so hiess es von Veranstalterseite, wirke auf die Teilnehmer «irritierend». Irritation ist ja so ziemlich das Schlimmste, was man in diesem Sektor der Gesellschaft jemandem antun kann.

 

«Lesen Sie den Kram nicht!»

Eine Kritikerin nannte die Re:publica ein «digitales Wohlfühlfestival für Leute, denen irgendwer das Ticket bezahlt». Das war bei mir nie der Fall, folglich war ich nie da, was ich inzwischen bereue. Denn in diesem Jahr haben Videos zweier Rednerauftritte im weniger sensiblen Teil des Netzes für Fassungslosigkeit gesorgt.

Tilo Jung, geboren 1985, legte ein Bekenntnis zu den journalistischen Prinzipien des heutigen Russland ab.

Die in Deutschland prominente Autorin Carolin Emcke sagte auf dem Podium: «Ich würde wirklich dazu aufrufen, dass niemand, der eingeladen wird, in einer Rahmung, die ‹Pro und Kontra› heisst, teilnimmt. Es muss aufhören. Wir müssen aufhören, diese Rahmung zu bedienen. Es wird uns ständig vorgemacht, es gebe zu allen Fragen gleichermassen wertige, gleichermassen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist einfach Bullshit. Wir müssen es abschaffen, ja? Es führt zu dem, was dann anschliessend als Spaltung der Gesellschaft thematisiert wird […] Lesen Sie den Kram nicht, lassen Sie sich nicht einladen. Man muss es abschaffen.»

Diese Absage an Debatte und Dialog, mehr noch, generell an die Idee, Widerspruch könnte legitim sein, mehr noch, eine Absage an die offene Gesellschaft insgesamt, wurde mit grossem Beifall und Jubel willkommen geheissen.

Die Moderatorin sagte, von innen her leuchtend: «You made my day.» Noch ein bisschen weiter ging Tilo Jung, ein bekannter Podcaster: «Es ist nicht die Aufgabe von Journalismus, über die Themen die Leute zu informieren, über die die Leute informiert werden wollen. Also wenn jetzt angeblich tatsächlich Migration in einer Umfrage die grösste Sorge ist, ist es aber nicht unsere Aufgabe, das abzubilden. Journalistinnen und Journalisten sollen die Leute darüber informieren, was sie wissen sollen, und nicht, was sie wissen wollen ​​​​​​​[…] Journalisten informieren, worüber die Bevölkerung informiert werden soll.»

Das ist eine Absage an so ziemlich alles, was Journalisten noch vor ein paar Jahren über ihren Beruf beigebracht wurde. Eine Absage daran, kein Erzieher des Publikums sein zu wollen oder sogar ein Werkzeug der Regierung, sondern eher ein Dienstleister. Eine Absage daran, dass über Fakten auch dann berichtet werden muss, wenn sie nicht zum eigenen Weltbild passen. Im Grunde legte dieser Mann, geboren 1985, womöglich ohne es zu wissen, ein Bekenntnis zu den journalistischen Prinzipien der DDR und des heutigen Russland ab.

 

Abschaffung freier Wahlen?

Ich fand das gut. Ich hatte das noch nie so klar gehört, so offen, ehrlich und unverbrämt. Ich dachte an den Moment eines venezianischen Maskenballs, wenn die Masken fallen und man einander ins Gesicht schaut. So seid ihr also! Das ist es, was ihr wirklich wollt und aussprecht, wenn ihr unter euch seid.

Zugleich sind diese Zitate auch das Eingeständnis, in die Defensive geraten zu sein. Es gibt keine Chance für eine Gesellschaft ohne Pro und Kontra, wie die woke Linke sie sich vorstellt, auf demokratischem Weg in Deutschland eine Mehrheit zu gewinnen. Alle Umfragen zeigen es. Um zum Beispiel die ungesteuerte Massenmigration noch lange so weiterlaufen zu lassen, bräuchte man die Abschaffung freier Wahlen und eine gleichgeschaltete Justiz. Das aber, daran glaube ich fest, lässt sich in Deutschland kein drittes Mal machen. Auch wenn ihr es noch so gern hättet, wie man jetzt weiss.

 

Harald Martenstein zählt zu den bekanntesten Kolumnisten Deutschlands. Kürzlich erschien von ihm: «Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff». C. Bertelsmann. 224 S., Fr. 27.90

Die 3 Top-Kommentare zu "Endlich ehrlich"
  • altera pars

    Den festen Glauben des Herrn Martenstein teile ich so nicht. Wir haben noch etwa ein Jahr, bis wir der AfD eine absolute Mehrheit verschaffen und die politischen Verhältnisse im Land wieder in Ordnung bringen könnten. Bis dahin werden wir die weitgehende Untergrabung der Rede- und Versammlungsfreiheit, die Kriminalisierung der Opposition und die Vorbereitung, möglicherweise gar den Ausbruch, des dritten Weltkrieges erleben. Nur vorgezogene Neuwahlen könnten uns, so Gott will, noch helfen.

  • per aspera ad astra

    Podcaster und Influencer sind m.E. auf dem absteigenden Ast auf dem auch die Gesinnungsjournalisten des Mainstreams sitzen und sich durch immer abstrusere und unglaubwürdig bis verlogene Berichte selber absägen. Einfaches Mittel: Entfolgen, nichts mehr kaufen - weder Publikationen noch beworbene Produkte und im letzteren Fall das dem Hersteller mitteilen. Merke: Triff sie dort wo es ihnen am meisten weh tut: Am Geld

  • Wahlfälscher

    Bullshit ist diese Art des Denkens und des Handelns solcher Vereinigungen, die meinen das Leben neu erfinden zu müssen, mit Methoden, die aus einer Geistes-Welt des Wahnsinns entspringen! Es ist fast nicht mehr zu ertragen, dass solche Leute noch gehört werden, geschweige denn ihren Sekten-Müll unkritisch verbreiten können!