Die Heiligsprechung des Schriftstellers und ehemaligen Primarlehrers Peter Bichsel zum helvetischen Nationalhelden geschah spätestens mit der launigen Parodie von Mike Müller und Viktor Giacobbo. In einem fiktiven «besinnlichen Ostergespräch» persiflierten sie den hiesigen Dichter und Sänger aller Randfiguren und Verlierer der Gesellschaft: «Das esch nömme mis Oute», imitierte Komiker Müller geistreich den in Olten aufgewachsenen Schriftsteller mit dem typischen Solothurner Dialekt, dem gepressten Atem, dem leicht näselnden Singsang – eine Sprechweise, die längst zu Bichsels Markenzeichen geworden ist. Welcher Schweizer würde den Bichsel-Sound nicht auf Anhieb wiedererkennen?
Das Urteil zu seiner Heimatstadt fiel kurz und bündig aus: Olten sei einmal eine Eisenbahnerstadt gewesen, eine Stadt, in der die Arbeiter nach Feierabend in die Beiz gingen und nicht wie heute ins Fitnessstudio; ein Besuch im Bahnhofbuffet lohne sich mit dem Halbstundentakt der SBB längst nicht mehr. Im Übrigen gebe es hier nur noch Businesslunch und kalifornischen Weisswein, rauchen dürfe man auch nicht mehr. Genau in diesem Ton gab Bichsel jeweils der Schweiz umstandslos akkuraten Bescheid, dass «diä Schwiiz nömme mini Schwiiz» sei, wenn man sich hierzulande wieder einmal im Parteiengezänk verloren hatte. Und man nahm seine Einwürfe ernst.
Warum hat es der Schriftsteller Peter Bichsel, der seit Jahrzehnten in Bellach wohnt und im Städtchen Solothurn seine Arbeitswerkstätte hat, zu einer Art literarischem Gewissen der Schweiz gebracht, zu einer politischen Instanz auch, die in schwierigen Zeiten von Medien, Politikern und Bundesräten befragt wurde? Warum erkennen sich so viele Schweizer in ihm wieder? Warum wurde er, der zusammen mit Adolf Muschg und Jörg Steiner zu den Königsmachern der helvetischen 68er Bewegung gehörte, zu einer Figur mit Vorbildcharakter, quer durch alle Parteien und Generationen? Warum konnte er sich auch lange nach den revolutionären 68er Jahren als ständige Protest-Instanz in den gemütlichen Schweizer Alltag integrieren?
Bichsels Meinung schenkten die Schweizer mehr Gehör als den beiden Dinosauriern Frisch und Dürrenmatt, obwohl sein erzählerisches Werk sehr schmal ist und er sich nicht an deren Welt-Bestsellern messen kann. Bichsel fehlt das kühl Apodiktische, leicht rechthaberisch Moralisierende eines Max Frisch, mit dem dieser viele vor den Kopf stiess. Und wo Friedrich Dürrenmatt es immer gleich mit Zeit und Ewigkeit inklusive aller Mythen und weltgeschichtlicher Verwerfungen aufnahm, hält der Solothurner sich ans Nächstliegende, das von vielen verstanden wird.
Das war seit seinen Anfängen so, dem Geschichtenband «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964) – ein Paukenschlag, der ihn nach einer fulminanten Kritik von Marcel Reich-Ranicki auf Anhieb auch in Deutschland bekannt machte. Das war auch in den späteren Prosageschichten so, etwa in den «Kindergeschichten» (1969) oder den «Geschichten zur falschen Zeit» (1979).
Dabei nahm er nie ein Blatt vor den Mund. 1969 kommentierte er in der Aufsatzsammlung «Des Schweizers Schweiz» das Verhältnis des Schweizers zum Fremden und beklagte die saturierte Selbstsicht und das glorifizierende Sonderfalldenken. Mit seinen scheinbar harmlosen, gradlinigen, in Wahrheit aber präzis konstruierten «Wandtafelsätzen», die oft dem Satzbaumuster «Subjekt - Prädikat - Objekt» gehorchen, ironisierte er die selbstbezogene Mentalität der Schweizer. Aber Peter Bichsel trägt seine Kritik immer mit einer Prise schelmischen Humors vor, die sich selbst von der Ironie nicht ausnimmt. Viele Jahre später kritisierte er in der Aufsatzsammlung «Die Totaldemokraten» (1998) die unablässige helvetische Identitätsbeschwörung und Abgrenzung von den Nachbarn.
Das Geheimnis von Peter Bichsels Erfolg hat viele Facetten. Natürlich wehrt er sich heute gegen die Anekdotisierung seines Lebens. Aber das ist im Grunde ein erträglicher Kollateralschaden der Anerkennung. Er ist ein Sympathieträger, der einerseits Teil des Volkes ist, andererseits der Elite angehört, ohne hochmütig geworden zu sein oder verblendet für die Probleme und Nöte des Durchschnittsbürgers. Wo immer er sich bewegt, bleibt er echt und denkt nicht daran, sich zu verbiegen. Zur stilisierten Anekdote, die gleichzeitig wahr ist, gehört, dass Peter Bichsel stundenlang in den Solothurner Wirtschaften vor einem Glas Rotwein sitzen kann, reglos die Menschen beobachtend, um dann mit einer schnellen Handbewegung das Lasso auszuwerfen und eine oder zwei Geschichten an Land zu ziehen. An dieser Stelle würde er widersprechen: Er sitze vor allem in der Beiz, um alleine zu sein, und Geschichten würden niemals aus dem Bauch heraus entstehen, sondern durch stundenlanges Sitzen in seinem Arbeitszimmer. Hier warte er darauf, nichts tuend, bis er einen Anfang gefunden habe. Und doch gehören diese Beizenlegenden mit zu seiner Akzeptanz.
Dazu kommt sein Temperament: eine Mischung aus Unbestechlichkeit, Mutterwitz, Widerborstigkeit und Schlitzohrigkeit, die ihn zu jemandem macht, den man mag. Wer einmal mit ihm eine lange Bahnfahrt absolviert hat, weiss, wie kurzweilig es wird: Man kommt in den Genuss einer schier unerschöpflichen, geradezu kindlichen Erzählfreude, die er gerne mit einem Glas Rotwein befeuert. Bichsels Vorrat an launigen Anekdoten und schlauen Geschichten ist unbegrenzt. Mit Leichtigkeit bringt er die Dinge auf den Punkt und verfügt über ein intuitives dramaturgisches Talent, um zielgerade auf die ironischen Pointen zuzusteuern und sie im richtigen Moment zu zünden. Hilfreich dabei sind seine unbestechliche Beobachtungsgabe, ein ausgeprägter Sinn für die unberechenbaren Kapriolen des Schicksals und eine Art Bauernschläue, mit der er andere sofort durchschaut. Das alles eröffnet ihm ein schier unerschöpfliches Stoffreservoir.
Zeuge davon kann man in seinen Kolumnen werden, die er für sich selbst «Politschnulzen» nennt. Jahrzehntelang hat er sie für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, zuerst für die Weltwoche, dann im Tages-Anzeiger-Magazin, später in den Luzerner Neusten Nachrichten (LNN) und zuletzt, über lange Jahre, in der Schweizer Illustrierten. Erst 2014 hörte er damit auf, und es ist dem Hause Ringier zu verdanken, dass es den Schriftsteller damit im gleichen Zug bis ins hohe Alter finanziell unterstützte. Er lohnte es in den 400 Kolumnen mit Kommentaren zum gewöhnlichen Leben, in dem sich viele Beladene, Gestrauchelte, am Leben Leidende oder auch nur auf Aufmunterung oder Anregungen Hoffende verstanden fühlten. Bei genauerem Hinsehen sind es Anleitungen, wie das Leben auf anständige Art zu bestehen sei. Und: «Erzählen ist letztlich das Aufbäumen gegen jenes Ende, das uns allen sicher ist» schrieb er in seinem Abschiedstext in der SI.
Genau mit diesen «Prosastückchen», die häufig in paradoxen Versuchsanlagen für jeden verständliche lakonische Wahrheiten destillieren, hat er sich auf einzigartige Weise in die Schweizer Literaturgeschichte – oder soll man besser sagen: in die kollektive schweizerische Identität – eingeschrieben, ganz in der Tradition der von ihm bewunderten Kurzprosa von Robert Walser und der «Kalendergeschichten» von Johann Peter Hebel. Peter Bichsels Kolumnen kennen kaum ein Verfalldatum; viele bündelte er zu Erzählbänden, die heute bei Suhrkamp greifbar sind.
Es ist typisch für ihn, dass er in seiner widersprüchlichen Art auch auf seine theologische Seite zurückkommt. In den Kolumnen «Über Gott und die Welt» (2009) bricht dieser versteckte, schillernd-widersprüchliche Aspekt seiner Persönlichkeit durch: sein theologisches Interesse, das sich mit Fragen der Ethik und Moral verbindet. Als Kind war er wie sein Vater in der Organisation Blaues Kreuz aktiv, einer den evangelischen Freikirchen nahestehenden Organisation, die sich für «Evangelium und Abstinenz» einsetzte. Und beinahe wäre er als Jugendlicher gleichzeitig katholisch geworden. Seine Sonntage jedenfalls waren reich befrachtet: Um neun besuchte er den katholischen Gottesdienst, um zehn hielt er bei den Reformierten Sonntagsschule. Seine katholischen Schulkameraden mussten für den Religionsunterricht kleine Aufsätze schreiben. Da sie wenig Lust hatten, sprang Bichsel in die Bresche und übernahm gegen ein kleines Entgelt diese Aufgabe. Sein Rekord lag bei sechzehn verschiedenen Aufsätzen zum selben Thema in einer Nacht.
In den «Frankfurter Poetikvorlesungen» (1982) entdeckt man einen letzten, entscheidenden Faktor des Geheimnisses einer über Jahrzehnte dauernden Präsenz in wechselnden gesellschaftlichen und politischen Schweizer Verhältnissen: Es ist eine Form von literarischer Bescheidenheit. Literatur, schreibt Bichsel, sei darauf angewiesen, Unbedeutendes tun zu dürfen. Das ist der Schlüsselsatz für sein gesamtes literarisches Werk. Die Schwierigkeiten der Schriftsteller mit ihren Kritikern, meint Bichsel, rührten von deren ständigem Drang, im Werk etwas Bedeutendes sehen und erklären zu wollen. Damit schlügen sie dem Schriftsteller, der sich dem Erzählen des Lebens verschrieben habe und aus dem Unscheinbaren das Bedeutende extrahiere, die Hintertüre zu. Ein Schriftsteller sei jemand, der in «Geschichten» denke, nicht in abstrakten wissenschaftlichen Theorien. Man könne das Leben «nur erzählend bestehen». Die Ausbildung eines «erzählerischen Bewusstseins» anstelle des bloss «historischen» sei unverzichtbar. Und er spricht vom Urbedürfnis des Kindes, beim Einschlafen immer wieder die Stimme der Mutter hören zu wollen, die ihm die immer gleichen Geschichten über das Leben erzähle. Das sei der Kern der Literatur.
In Zeiten der überschwappenden Informationsflut wird das Erzählen von Geschichten für Peter Bichsel beinahe zu so etwas wie einem dringend notwendigen Widerstand und einem aufklärerischen Akt für das «Andere», das den Menschen auch noch bestimmt.
Anlässlich des 85. Geburtstages erscheinen im Kampa-Verlag Gespräche von Sieglinde Geisel mit Peter Bichsel: «Was wäre, wenn?»