Der junge Politiker Marko Djuric hat in seinem Leben schon vieles erreicht. Er leitet als jüngster Berater das aussenpolitische Team im Präsidialamt, war Botschafter Serbiens in den USA und Mitglied der Delegation, die über Serbiens Mitgliedschaft in der Europäischen Union verhandelt hat. Djuric wirkte auch als Direktor des Büros für Kosovo und Metochien, wo er sich mit ausserordentlich anspruchsvollen staats- und sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert sah. Unter seiner Leitung wurden rund 2500 Häuser für serbische Bürger im Kosovo neu gebaut oder wiederaufgebaut sowie 45 zerstörte orthodoxe Kirchen, Klöster und Kultstätten ganz oder teilweise rekonstruiert. 2019 hat Aussenminister Marko Djuric den Berlin-Marathon absolviert. Er ist verheiratet und Vater von drei Töchtern.

Weltwoche: Herr Aussenminister, lassen Sie uns zuerst über den schmerzhaften Ukraine-Krieg sprechen. Wie geht Serbien mit der Situation in der Ukraine um? Was ist die grösste Herausforderung in diesem Moment?

Marko Djuric: Der Krieg in der Ukraine hat tiefgreifende Auswirkungen auf den Balkan, nicht nur auf Serbien. Wir haben in Serbien in den letzten zehn Jahren versucht, den Schwerpunkt unserer Politik zu verlagern, das wirtschaftliche Wachstum, die Entwicklung unserer Infrastruktur sowie den Wiederaufbau der Beziehungen mit dem übrigen Europa zu betonen. Zehntausende von ukrainischen Flüchtlingen sind nach Serbien gekommen. Unser Hauptaugenmerk liegt derzeit darauf, trotz des schrecklichen Kriegs die Stabilität in unserer Region zu erhalten und ein positives Wirtschaftswachstum zu erzielen.

Weltwoche: In meinem Gespräch mit Serbiens Präsidenten Aleksandar Vucic zeichnete er bezüglich der Ausweitung des Krieges ein sehr düsteres Bild. Teilen Sie diese Einschätzung, oder gibt es Lichtblicke?

Djuric: Alle Staats- und Regierungschefs der Welt sollten den Ernst der Lage und die möglichen Auswirkungen des Konflikts verstehen. Dies ist ein Konflikt zwischen Grossmächten. Er betrifft die gesamte Menschheit auf die eine oder andere Weise, sei es wirtschaftlich, politisch oder militärisch, manchmal sogar kulturell.

Weltwoche: Wir hören unsere Politiker sagen, Russland dürfe diesen militärischen Konflikt niemals gewinnen. Wie gross ist die Gefahr einer nuklearen Eskalation im Ukraine-Krieg?

Djuric: Zunächst ist festzuhalten, dass Serbien in diesem Konflikt voll auf der Seite des internationalen Rechts und der Uno-Charta steht. Was bedeutet, dass wir jegliche Angriffshandlungen gegen souveräne und anerkannte Staaten verurteilen und die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine über ihr gesamtes Territorium voll unterstützen. Wir alle sollten versuchen, eine Art Waffenstillstand, einen Kompromiss zu finden. Voraussetzung dafür ist, dass das Töten und die Gräueltaten aufhören. Wir haben im ehemaligen Jugoslawien so viel gelitten und wissen, dass Waffengewalt keine politischen Konflikte lösen kann.

Weltwoche: Wie kann man der Ukraine Frieden bringen? Wie würde Ihr Vorschlag bei einem EU-Treffen lauten?

Djuric: Serbien bleibt bei der Ansicht, dass Krieg als Konfliktlösung nach internationalem Recht ein Verbrechen darstellt und jede Form der Aggression inakzeptabel ist.

Weltwoche: Sie waren Botschafter Serbiens in den Vereinigten Staaten. Welche Rolle spielen die USA in dieser ganzen schwierigen Situation?

Djuric: Ich glaube, dass es ein Anliegen der Grossmächte ist, sich zu engagieren und zu versuchen, die Kämpfe zu beenden. Und es muss einen politischen Willen und einen Dialog geben. Ich meine, es wäre äusserst wichtig, im Rahmen der weltweiten Bemühungen um eine Lösung dieses Konflikts die Vereinten Nationen als Plattform für diesen Dialog zu nutzen.

Weltwoche: Wie gross ist der Druck auf Serbien, in diesem Konflikt Partei zu ergreifen?

Djuric: Wir sind der festen Überzeugung, dass Serbien eine ausgewogene Aussenpolitik betreiben muss und dass es dadurch zur regionalen Stabilität beitragen kann. Allerdings sind wir nicht neutral, wenn es um Werte wie die territoriale Integrität der Ukraine geht. Doch wir haben die besondere Situation, dass sowohl die Ukraine als auch die Russische Föderation unsere Ansicht über unsere territoriale Integrität unterstützen, speziell im Fall der Provinz Kosovo.

Weltwoche: In der westlichen Welt gibt es die Theorie, dass ausschliesslich der russische Präsident an allem schuld ist. Das ist natürlich ein Hindernis für jede Art von Dialog. Verstehen Sie diese «westliche» Sicht?

Djuric: Die tiefen ideologischen Gegensätze zwischen den beiden Seiten sind in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer deutlicher zutage getreten. Dabei hätte man erwartet, dass sich Russland und Europa dauerhaft annähern würden. Wir sollten uns immer fragen, ob wir genug getan haben, um diese Kluft zu überbrücken. Serbien ist ein Land, das sehr oft von beiden Seiten kritisiert wird. Manchmal von Russland, weil wir für Uno-Resolutionen stimmen, welche die Invasion in der Ukraine verurteilen. Manchmal auch deswegen, weil wir gegenüber Russland einen differenzierteren Ansatz verfolgen als einige der Länder in der Region. Denn Serbien hat eine lange, zermürbende Geschichte als Westen im Osten oder als Osten im Westen. Das tut der Tatsache keinen Abbruch, dass eine unserer wichtigsten Prioritäten der Beitritt zur Europäischen Union ist.

Weltwoche: Was ist das derzeit grösste Missverständnis über Serbien?

Djuric: Es gibt so viele Missverständnisse. Ich weiss fast nicht, wo ich anfangen soll. Unser Land hat sich in den letzten Jahrzehnten völlig gewandelt. Selbst die Skyline von Belgrad ist völlig verändert. Das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung der Infrastrukturen sind beträchtlich. Belgrad hat den Zuschlag für die Ausrichtung der Expo 2027 erhalten, was eine grosse Sache ist. Serbien ist das erste europäische Land, das Computerprogrammierung als Pflichtfach in den Grundschulen eingeführt hat. Wir möchten als gleichberechtigtes Mitglied der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der europäischen, akzeptiert werden. Auch wenn wir kein grosser Staat sind.

Weltwoche: Versuchen die Grossstaaten, uns in eine neue Art von kaltem Krieg hineinzureden, oder ist das nur eine Halluzination?

Djuric: Es ist nicht wirklich neu, dass Grossmächte versuchen, ihre Weltanschauungen und ihre Aussenpolitik durchzusetzen. Neu ist, dass all dies in Verbindung mit den neuen Technologien eine viel stärkere Einmischung in die innenpolitischen Debatten aus verschiedenen ideologischen Richtungen bedeutet. Wir haben aber dem Interesse jener zu dienen, die wir zu vertreten haben. Serbien hat sich geweigert, irgendeine Art von Zensur für irgendwelche Medien einzuführen. Jeder ist frei, zu sagen, was er will. Das sagen wir auch in Washington, Brüssel, Moskau und Peking.

Weltwoche: Sind China oder Russland Feinde des Westens?

Djuric: Es steht mir nicht zu, eine derartige Feststellung zu treffen. Aber ich kann sehen, dass sie nicht die Feinde Serbiens sind. Und wir bemühen uns, globale Probleme durch Dialog statt durch Konflikte zu lösen. Wir glauben nicht an Mechanismen wie Sanktionen. Unser früheres kommunistisches Regime war grausam gegenüber allen Gemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien, einschliesslich der serbischen Gemeinschaft, aber auch gegenüber anderen. Es wurde mit Sanktionen belegt, doch sie haben nichts bewirkt, sondern im Gegenteil das Regime gestärkt.

Weltwoche: Warum will Serbien immer noch Mitglied der Europäischen Union werden, obwohl diese Mitgliedstaaten wie Ungarn oder Polen nicht – um es gelinde zu sagen – mit dem nötigen Respekt behandelt?

Djuric: Wir in Serbien sind gern Teil eines grösseren Projekts. Wenn Sie sich unsere Geschichte ansehen, haben wir zweimal versucht, die Südslawen zu vereinigen, aber wir sind gescheitert. Jetzt möchten wir, hoffentlich erfolgreicher, am europäischen Projekt teilnehmen. Wir kommen nicht an den europäischen Tisch, um nach Geld zu fragen. Wir kommen tatsächlich mit einer sehr gesunden Wirtschaft, auch wenn wir nicht so reich sind wie einige der westlichen Länder. Aber wir haben die Grösse unseres Bruttoinlandprodukts in weniger als einem Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Einerseits glauben wir, dass wir mit sieben Millionen zusätzlichen Händepaaren zu einem stärkeren Europa beitragen können. Andererseits sind wir überzeugt, dass wir unsere eigenen nationalen Interessen besser schützen können, wenn wir einen Sitz am europäischen Tisch haben. Doch ich sehe in den nächsten zwei oder drei Jahren keine unmittelbare Möglichkeit für uns, der Europäischen Union beizutreten – nicht weil wir nicht wollen, sondern weil es an der politischen Bereitschaft mangelt.

Weltwoche: Ein grosses Thema, was die EU-Mitgliedschaft angeht, ist natürlich das Kosovo. Serbien dürfte kaum aufgenommen werden, ohne den unabhängigen Staat Kosovo anzuerkennen.

Djuric: Zunächst einmal setzt sich Serbien voll und ganz für die Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität im Kosovo ein. Es hat in den letzten zweieinhalb Jahren eine Reihe von einseitigen, unkoordinierten Aktionen der dortigen Regierung gegeben, die darauf abzielen, die Situation vor Ort einseitig zu verändern. Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat Pristina mehr oder weniger versucht, die Kontrolle über die Gebiete mit einer serbischen Bevölkerungsmehrheit im Norden des Kosovo zu erlangen, vor allem mit gewaltsamen Mitteln. Es werden Gemeinden von albanischen Bürgermeistern geleitet, in denen 97 bis 99 Prozent Serben leben. Die Regierung des Kosovo hat mit Gewalt illegitime Massnahmen ergriffen, um diese Gebiete zu verwalten. Wir sehen die Albaner auf dem Balkan nicht als unsere Feinde an, denn wir teilen die Region, in der wir leben, und haben kulturell viele gemeinsame Traditionen. Wir können nur dann eine wohlhabende und stabile Region schaffen, wenn wir zusammenarbeiten. Ein gutes Beispiel ist bilaterale Zusammenarbeit zwischen Serbien und Albanien, wo die Präsidenten unterrichten werden. Präsident Vucic und Premierminister Rama ist es gelungen, eine solche Beziehung aufzubauen, die es uns ermöglicht hat, einen einheitlichen Arbeitsmarkt zwischen Serbien, Albanien und Nordmazedonien zu schaffen. In den vergangenen Jahren haben mehr als 200 000 serbische Touristen die albanische Küste besucht. Und Tausende von albanischen Arbeitern sind nach Zentralserbien gekommen, um die neuen Stadtteile von Belgrad zu bauen.

 

Weltwoche: Herr Aussenminister, vielen Dank für dieses Gespräch.

Das Video-Interview mit Marko Djuric finden Sie auf weltwoche.ch