Ich habe 1980 als 14-jähriger Schüler zum ersten Mal in einer Zeitung, damals in der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik, etwas veröffentlicht. Aber vielleicht habe ich mich sogar noch früher bewusst für einen Beruf entschieden – ich wurde in die Familie eines bekannten Journalisten geboren. Wenn wir damals als Familie zusammenkamen, hörten wir abends gemeinsam Voice of America und Radio Liberty und versuchten, durch «Jamming» an die wahrheitsgemässen Informationen zu gelangen. Mein Vater sagte mir nur, ich solle es in der Schule nicht erwähnen, dass wir verbotene oder unerwünschte Sender hörten. Nein, wir waren keine Dissidenten! Wir wollten nur wissen, was war – die andere Seite der Medaille, die man uns vorenthalten wollte.

Vielleicht wurde ich damals zu einem überzeugten Westler, der sich an den Idealen der Freiheit und der Wahrheit orientierte, als ich zum ersten Mal von meinem Vater hörte, dass man Fakten und nicht der Propaganda glauben sollte.

 

Erloschener Leuchtturm der Demokratie

Auch heute noch, Jahrzehnte später, bin ich aus Liebe zu meinem Beruf, ich wage es zu sagen, ein absolut prowestlicher Mensch geblieben. Ich nehme diese idealistische «Brille» nicht ab und glaube weiterhin an die Tatsachen und nicht an ihre Wahrnehmung (das Gefühl), wie es jetzt modisch und bequem geworden ist. Nur höre ich nicht mehr Voice of America oder Radio Liberty, nicht weil ich mich geändert habe. Aber es scheint mir, dass sie sich verändert haben – ich höre von ihnen nicht mehr die Wahrheit. Ich höre nicht nur die Fakten. Ich habe den Eindruck, dass sie heute eher wie Breschnews Zeitungen sind, aber das ist nur meine persönliche Meinung.

Warum habe ich beschlossen, diesen Text mit einem Pseudonym zu unterzeichnen? Die Erklärung ist ganz einfach: Ich habe wieder Angst. Ich habe genauso viel Angst wie vor 2012, als der «Georgische Traum» die Partei der «Vereinigten Nationalen Bewegung» des ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili bei den Wahlen besiegte. Saakaschwili wurde im Westen als Leuchtturm der Demokratie gepriesen. Doch das Licht dieses Leuchtturms erlosch sehr schnell, und alle unsere Erwartungen wurden auf den Riffen der grausamen Realität zerschmettert. Saakaschwili hat dem Westen erfolgreich ein demokratisches Bild verkauft. Im Schaufenster sah Georgien sehr attraktiv aus. Aber im Inneren nahmen wir die SIM-Karten aus unseren Mobiltelefonen, wenn wir mit Familienmitgliedern oder Freunden zu Hause sprachen. Denn wir hatten Angst.

Und jetzt, nach den Parlamentswahlen in Georgien, bei denen es, das kann ich getrost sagen, keine Massenverstösse gab, habe ich immer noch das Gefühl, dass sie einen «georgischen Maidan» organisieren, das Bild einer «demokratischen Wahl» verkaufen und dann, zurück an der Macht, wieder mit der Verfolgung von Gegnern beginnen können.

Wir haben uns darauf geeinigt, uns nicht von Emotionen leiten zu lassen – nur von Fakten und nichts ausser Fakten. Also, es war 2011, als Saakaschwili noch nicht ahnte, dass sein Autoritarismus in Gefahr war. Am Vorabend des georgischen Unabhängigkeitstages am 26. Mai hielt die Opposition eine Kundgebung ab. Diese Demonstration wurde buchstäblich in Blut ertränkt. Meine Kollegen ​– vier Fotoreporter – wurden verhaftet und in Gefängnisse gebracht, wo sie brutal misshandelt wurden. Nur weil ihre Fotos von blutigen, geschlagenen, gedemütigten, gefesselten und in Pfützen liegenden Menschen in amerikanischen und europäischen Agenturen und Zeitungen veröffentlicht wurden. Saakaschwili hat ihnen diese nackte, freizügige Wahrheit nicht verziehen. Die Fotojournalisten verbrachten mehrere Monate hinter Gittern, wo sie gezwungen wurden, zu bezeugen, dass sie . . . Agenten Russlands waren. Als die Regierung wechselte, gingen meine Kollegen vor Gericht und wurden freigesprochen, aber stellen Sie sich vor, was sie ertragen mussten, als ihre Frauen in benachbarte Zellen gebracht und mit Vergewaltigung bedroht wurden und ein Fotojournalist in den Wald gebracht wurde und ihm angeboten wurde, sein eigenes Grab zu schaufeln.

 

Sachliche Beziehungen zu Russland

Und noch eine Tatsache. Bei den jüngsten Parlamentswahlen belegte die «Koalition der Veränderung» den zweiten Platz (die grösste von vier Oppositionsparteien, die die Fünf-Prozent-Hürde überschritten). Den ersten Listenplatz dieser Oppositionskoalition besetzt eine Frau, die nur dafür bekannt ist, mit einer EU-Flagge zu Oppositionskundgebungen zu gehen und dabei einmal sehr glücklich fotografiert worden zu sein. Sie wurde berühmt, nachdem dieses Foto veröffentlicht worden war. Ist das alles? Nein. Das Wichtigste ist, dass sie im Rathaus von Tiflis gearbeitet hat und immer noch arbeitet, niemand hat sie entlassen und niemand hat sie dazu gezwungen, für die Regierungspartei zu stimmen. Ich habe sehr, sehr viele Bekannte, die an Kundgebungen der Opposition teilnehmen und für die Opposition stimmen und gleichzeitig im Staatsdienst arbeiten.

«Es gab einmal eine Zeit, zu Zeiten der UdSSR, da hiess es: ‹Wir können die kaukasische Schweiz werden.›»

Sie haben keine Angst. Sie sind frei. Die Angst gehört der Vergangenheit an, aber die Vergangenheit kommt manchmal zurück. Davor habe ich Angst. Freiheit ist das, worauf es ankommt, nicht wahr? Verwirklicht, sinnvoll. Die eigene. Die aber durch das Recht auf die Freiheit eines anderen begrenzt werden muss. Das ist axiomatisch. Das Gesetz gilt für alle.

Kehren wir zu den Fakten zurück. Kurz nachdem Saakaschwilis vom Westen gelobte Partei Dutzende von strategischen georgischen Wirtschaftsunternehmen Russland übergeben und 20 Prozent seines Territoriums infolge des Krieges mit Russland 2008 verloren hatte, unterzeichnete Georgien unter dem «Georgischen Traum» ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU, nahm eine Klausel in die Verfassung auf, die ein uneingeschränktes Bekenntnis zur EU und zur Nato festschreibt, und erhielt den Status eines EU-Kandidaten. Die Regierung bekennt sich weiterhin zu einem prowestlichen Kurs. Warum wird sie als «prorussisch» bezeichnet?

Ich bin ein Kritiker staatlicher Macht, wie jeder intelligente und gebildete Mensch. Aber lassen Sie die Kritik fundiert und bestätigt sein. Erst dann ist sie legitim. Die georgische Regierung als prorussisch zu bezeichnen, scheint mir eine übliche, gewöhnliche Stigmatisierung zu sein. Ich sehe keine Hinweise auf eine Abkehr von der prowestlichen Orientierung. Sind sachliche Beziehungen zu Russland, dessen Panzer nur ein paar Dutzend Kilometer von Tiflis entfernt stehen, eine schlechte Sache? Schliesslich wird niemand in Georgien die diplomatischen Beziehungen zu Russland wiederherstellen. Und alle westlichen Länder unterhalten auch nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine wirtschaftliche Beziehungen zu Russland. Auch glühende Kritiker meines Landes. Georgien versucht nur zu überleben, das ist alles.

Georgien hat sich den internationalen Sanktionen gegen Russland angeschlossen und hält sich strikt an diese. Georgien ist auch Unterzeichner des Appells von Den Haag, auf dessen Grundlage der Internationale Gerichtshof die Verhaftung des russischen Präsidenten Wladimir Putin angeordnet hat. Würde Georgien jedoch bilaterale Sanktionen gegen Russland verhängen, würde seine Wirtschaft um bis zu 18 Prozent einbrechen, derweil Russlands Ökonomie höchstens um 0,03 Prozent geschädigt würde. Nun stufen der IWF und die Weltbank Georgien höher ein und erhöhen das geschätzte Wirtschaftswachstum im Jahr 2024 von ursprünglich 5 auf 7 bis 7,5 ​​​​​​​Prozent. Dies sind die Fakten.

Georgien erwartet einen Neustart der Beziehungen zum Westen. Washington und Brüssel haben die Beziehungen eingefroren, nachdem Georgien das Gesetz «über die Transparenz ausländischer Einflussnahme» verabschiedet hatte, das als «ähnlich wie das russische Gesetz» bezeichnet wird. Ich frage mich, ob alle, die das sagen, dieses Gesetz gelesen haben? Ich bin sicher, sie haben es nicht. Haben Nichtregierungsorganisationen ein Problem, Erklärungen zu veröffentlichen? Oder protestieren sie gerade deshalb, weil sie keine Transparenz wollen?

 

Die greifbare «rote Linie»

Die Politik ist zynisch. Georgien braucht den Westen, das ist die Wegmarke. Das ist der Massstab für Reformen, Transformation und Demokratie, aber nur für echte, nicht für gefälschte. Aber der Westen braucht auch Georgien, die junge kaukasische Demokratie, die in über dreissig Jahren der postsowjetischen Unabhängigkeit so viele militärische Konflikte und wirtschaftliche Probleme überstanden hat. Er braucht ihr Potenzial, ihre Geografie, aber vor allem ihre Menschen, die bereit sind, Partner zu sein. Partner, nicht blinde Befehlsempfänger.

Georgien hat diese Partnerschaft bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Erinnern wir uns zumindest an die Nato-Operation in Afghanistan, bei der Georgien, das nicht Mitglied des Bündnisses ist, mit einem sehr bedeutenden Kontingent vertreten war und 32 Soldaten und Offiziere verlor. Sie haben ihr Leben nicht dafür geopfert, dass der Westen ihrem Heimatland unverdientermassen und zu oft die gelbe oder gar die rote Karte zeigt.

Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Lehren und Belehren. Georgien will lernen, aber es hat es nicht verdient, wie ein nachlässiger Schüler behandelt zu werden, der ständig den Unterricht schwänzt. Eine Generation von Georgiern betrachtet heute Englisch, Französisch, Deutsch oder Spanisch als Zweitsprache, aber nicht Russisch. Sie denken anders. Sie leben nicht so, wie wir gelebt haben, die wir Jeans nur in unseren Träumen gesehen haben. Das sollte uns zu denken geben und uns klar machen, dass keine prorussische Partei in Georgien gewinnen wird. Aber regelmässige, oft unverdiente Ermahnungen und Bestrafungen durch den Westen können zu Frustration führen. Darüber wird sich Russland freuen!

Es ist sonnig in Tiflis, die Temperaturen steigen tagsüber auf bis zu 15 Grad, aber es ist unmöglich, sich zu entspannen. Wieder die Erwartung einer Revolution. Wieder ist es unruhig, wieder Misstrauen, wieder Polarisierung. Ich sehe angespannte Gesichter. Ich höre schwierige Gespräche. Ich weiss, dass dieses Land gut leben kann und sollte. Es gab einmal eine Zeit, zu Zeiten der UdSSR, da hiess es: «Wir können die kaukasische Schweiz werden.» Die UdSSR gibt es nicht mehr. Aber wir sind noch nicht die Schweiz.

Das Wichtigste für uns ist, dass wir nicht zu einer unglücklichen Ukraine werden, die heute in Blut badet. Diese «Grenzlinie». Diese greifbare «rote Linie». Es ist leicht, sie zu überschreiten, aber schwer, über sie wieder zurückzukehren. Ich will keine SIM-Karten mehr aus meinem Telefon nehmen. Und ich will keine Angst mehr haben, Artikel mit meinem richtigen Vor- und Nachnamen zu unterschreiben.

 

Alexander Wirsaladse ist ein georgischer Journalist. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt.