Als der Nationalrat im letzten Juni die Steuergerechtigkeits-Initiative der SP beriet, warnten linke Ratsmitglieder vor dem Steuerwettbewerb. Von «Entsolidarisierung» und einer «Gefahr für die Demokratie» war die Rede. Die «Höllenmaschine» müsse gestoppt werden. In der Tat hat der Steuerwettbewerb zu stark unterschiedlicher Besteuerung geführt: Während ein Alleinstehender in Château-d’Œex VD ab einem Einkommen von 250 000 Franken 35,5 Prozent Steuern bezahlt, sind es in Wollerau SZ nur 8,0 Prozent. Vor allem in den Kantonen Zug und Schwyz haben sich Tiefsteuergemeinden gebildet. Die SP zeichnet das Bild, dass sich immer mehr Reiche und Gutverdienende wie Marcel Ospel oder Roger Federer in solche Gemeinden zurückziehen, wodurch dort die Steuersätze weiter sinken. Durchschnittlich Begüterte hingegen, die wegen der teuren Häuser und Wohnungen nicht in solche Orte ziehen können, müssten die Staatslasten in den übrigen Gebieten mehr und mehr alleine tragen.
Die Initiative der SP will darum minimale Steuersätze für Reiche und Gutverdienende vorschreiben. Für jeden Franken, der über einer bestimmten Einkommensgrenze liegt, sollen diese mindestens 22 Prozent abliefern (Staats- und Gemeindesteuer zusammen). Bei alleinstehenden Personen liegt diese Grenze bei 250 000 Franken, bei gemeinsam veranlagten Paaren und Alleinstehenden mit Kindern ein Drittel bis die Hälfte höher. Die Vermögenssteuer soll mindestens fünf Promille betragen – für Alleinstehende ab zwei Millionen Franken, für Paare und Alleinstehende mit Kindern ebenfalls ab einer höheren Summe.
Stimmt das Volk Ende November zu, sind davon nicht nur ausgesprochene Tiefsteuergemeinden wie Wollerau, Freienbach oder Walchwil betroffen. Ganze fünfzehn Kantone müssten ihre Einkommenssteuern erhöhen: Zug, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Uri, St. Gallen und die beiden Appenzell in allen Gemeinden – Aargau, Solothurn, Luzern, Graubünden, Glarus, Thurgau und Schaffhausen zumindest in einzelnen Gemeinden. Bei der Vermögenssteuer wären sogar sechzehn Kantone zu höheren Tarifen in allen oder einzelnen Gemeinden gezwungen.
Für die Initianten ist es dringend, den «ruinösen Steuerwettbewerb» zu stoppen. In Wahrheit kann keine Rede davon sein, dass Kleinverdiener eine immer grössere Steuerlast tragen müssen und dem Staat allmählich das Geld ausgeht. Weil der Steuerwettbewerb den Staat dazu zwingt, mit den finanziellen Mitteln haushälterisch umzugehen, konnten in den letzten zehn Jahren fast alle Kantone die Tarife bei der Einkommenssteuer senken – zum Teil deutlich.
Dabei kamen aber nicht nur Reiche zum Zug: Kleinverdiener haben prozentual meist ebenso stark oder noch deutlich stärker von Tarifsenkungen profitiert als Grossverdiener. In Bellinzona zum Beispiel ging die Steuerbelastung für Alleinstehende mit kleinem Einkommen um etwa 40 Prozent zurück, für Grossverdiener jedoch nur um etwa 14 Prozent. In Basel bezahlen verheiratete Kleinverdiener heute sogar über 80 Prozent weniger Steuern als vor zehn Jahren, während die Reduktion für Grossverdiener mit Eheschein nur etwa 13 Prozent beträgt. Offensichtlich hat es also keine Verlagerung der Steuerlast von Gutverdienenden zu Schlechtverdienenden gegeben.
Die allgemein tieferen Steuersätze hungern den Staat nicht aus – im Gegenteil: Zwischen 1990 und 2008 haben sich die Einnahmen aus der Einkommenssteuer in der Schweiz um etwa 70 Prozent erhöht, was leicht über dem Wachstum des Bruttoinlandprodukts liegt. Die Vermögenssteuern sind gleichzeitig sogar auf das Zweieinhalbfache gestiegen. Vermutlich hat der Zuzug von steuerkräftigen Ausländern dazu beigetragen. Der Steuerwettbewerb wirkt also positiv: Fast jeder bezahlt weniger, und trotzdem hat der Staat mehr Mittel, um seine Aufgaben zu erfüllen.
Um den Steuerwettbewerb nicht ausarten zu lassen, führte man 2008 den neuen Finanzausgleich ein: Die finanzstarken Kantone leisten Ausgleichszahlungen an diejenigen Kantone, die aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Bevölkerungszusammensetzung oder aus anderen Gründen finanzschwach sind. Dieser Ressourcenausgleich bemisst sich wohlverstanden am Einkommen und am Vermögen der Einwohner (und am Gewinn der angesiedelten Unternehmen) – und nicht an den erzielten Steuereinnahmen. Ziehen also reiche und gutverdienende Personen in einen bereits finanzstarken Kanton, steigen automatisch dessen Beiträge an den Finanzausgleich. So bezahlt der reiche und steuergünstige Kanton Zug für das kommende Jahr pro Einwohner stattliche 2230 Franken in den Finanzausgleich (Grafik 1). Der Kanton Schwyz, wo sich ebenfalls viele Steueroasen befinden, liefert immerhin 579 Franken ab. Der Finanzausgleich greift dabei, im Gegensatz zur Steuergerechtigkeits-Initiative, nicht in die Steuerautonomie von Kantonen und Gemeinden ein.
Stefan Hostettler von der SP schreibt auf Anfrage der Weltwoche, mit dem Finanzausgleich habe das ursprüngliche Versprechen, damit die grossen Steuerbelastungsunterschiede zwischen den Kantonen zu glätten, nicht eingelöst werden können. Offensichtlich ist für die SP eine unterschiedliche Steuerbelastung zwischen den Kantonen per se schlecht, selbst wenn diese keineswegs zu Problemen führt.
Die Annahme der SP-Initiative würde dagegen mit Sicherheit neue Probleme schaffen. Das gravierendste Problem ist, dass mittelfristig wohl nicht nur Gutverdienende und Reiche mehr Steuern bezahlen müssten, sondern auch weite Kreise des Mittelstandes. Denn einerseits hätte die Schweiz im Steuerwettbewerb mit anderen Staaten schlechtere Karten: Vermögende würden vermehrt das Ausland als Wohnsitz wählen, womit der Schweiz Steuereinnahmen entgingen. Andererseits würde sich wohl die Budgetdisziplin der Kantone und Gemeinden verringern, wenn der Steuerwettbewerb teilweise wegfällt – was dazu führt, dass der Staat mehr Geld braucht.
Es gibt aber auch ein ganz handfestes Problem mit den Tarifkurven. Zahlreiche Kantone müssten diese neu konzipieren, wenn Mindestsätze ab gewissen Beträgen gelten. Dabei sind laut Konferenz der Kantonsregierungen drei Varianten der Anpassung denkbar (Beispielkurven für Alleinverdiener, Grafik 2): Falls ein Sprung des Steuersatzes bei 250 000 Franken Einkommen vermieden werden soll, müssen die darunterliegenden Steuersätze ebenfalls erhöht werden, entweder durch eine parallele Verschiebung (Variante 1) oder durch eine Anpassung der Steuerprogression (Variante 2). Bei Variante 1 müssen damit alle mehr bezahlen, bei Variante 2 zumindest weite Kreise des Mittelstandes. Ein Tarifsprung bei 250 000 Franken (Variante 3) ist ebenfalls unbefriedigend: Die Steuerpflichtigen müssten ab diesem Betrag abrupt mehr Steuern bezahlen, was zu Bemühungen führen würde, das steuerbare Einkommen unter diese Grenze zu drücken. Das erachten selbst die Initianten als schlechte Lösung: «Die Kantone sollten ihre Steuertarife als gleitende Kurven gestalten und vernünftigerweise keine abrupten Sprünge in der Grenzsteuerbelastung vorsehen», schreibt die SP.
Ohne Sprünge sind aber höhere Steuern für den Mittelstand unvermeidlich, wie selbst die SP zugibt: «Je tiefer das allgemeine steuerliche Niveau in einem Kanton heute ist, desto mehr ziehen sich die Steuererhöhungen Richtung mittlere Einkommen.»
Neben höheren Steuern für den Mittelstand würde die Initiative auch weitere Eingriffe in die Steuerhoheit der Kantone und Gemeinden nach sich ziehen: Der Grund liegt darin, dass sich die in der Initiative vorgesehenen Mindestsätze am steuerbaren Einkommen orientieren. Dieses ist jedoch durch Abzüge beeinflussbar. Mit Sicherheit würde darum ein Wettbewerb um Steuerabzüge losgehen: Jeder Kanton und jede Gemeinde würde versuchen, mit möglichst grosszügigen Abzugsmöglichkeiten Reiche und Gutverdienende anzulocken, wenn dies über die Steuersätze nicht mehr möglich ist. Da ein solcher Abzugswettbewerb das Ziel der Initiative unterläuft, müsste der Bund nach der Einführung von Mindestsätzen auch die Abzüge vereinheitlichen. Die Steuerautonomie von Kantonen und Gemeinden wäre so gut wie tot.
Was sagt die SP dazu? Stefan Hostettler versteigt sich auf Anfrage zur Behauptung, die Initiative greife nicht in die Steuerhoheit der Kantone und Gemeinden ein. Er schreibt aber auch: «Wenn es Bund und Kantone als sinnvoll erachten, dass zur Eindämmung eines exzessiven Steuerwettbewerbs auch die Abzüge harmonisiert oder zumindest angeglichen werden, so ist dagegen nichts einzuwenden.» Das solle aber den Kantonen überlassen werden. Die SP wäscht die Hände in Unschuld.