Nur ganz wenige Autoren sind im 20. Jahrhundert in den Rang einer säkularen Heiligkeit aufgestiegen: Beckett natürlich, Antonin Artaud, Fernando Pessoa. Der Verzicht auf den Ruhm, eine Existenz im Verborgenen, ein Leben nur für die Kunst zeichnet diese Männer (denn immer sind es Männer) aus vor allen anderen. Unter ihnen der grösste, der edelste vielleicht sogar war Elias Canetti. Er wurde als Nachfahre spaniolischer Juden im fernen Osten des Habsburgerreiches geboren, schon als Kind quer durch Europa verschickt, er lernte unter Qualen die deutsche Sprache und wurde dann der letzte Zeitgenosse, der noch vom literarischen Wien der Zwischenkriegszeit erzählen konnte. Fast nichts schrieb dieser Dichter, veröffentlichte nur das Notwendigste. In den «Nachträgen aus Hampstead» von 1994 heisst es: «Er hat Angst, dass seine Werke einander aufessen könnten, und hält sie darum knapp.»
Seit der Lebensgeschichte, erst recht nach dem Nobelpreis wurde es leicht, Elias Canetti zu rühmen, aber da war er schon kein hermetischer Dichter mehr, sondern auf dem Markt. Nichts hatte er sein schreibendes Leben lang mehr verabscheut als den Markt. Die Inflation steht am Anfang des Erinnerungsbandes «Die Fackel im Ohr», und als er vor seiner Mutter einen Ausbruch vollführt, schreibt er lauter leere weisse Blätter mit immer nur einem Wort voll: «GELD». Karl Kraus lehrte ihn, dass es für den Dichter das einzig Wahre sei, sich vom Geld wie vom Markt fern zu halten. Literatur, Dichtung, der Geist waren nicht zu kaufen.
«Party im Blitz» nennt der Hanser-Verlag Canettis Aufzeichnungen über «die englischen Jahre», die zwischen 1990 und 1994 entstanden, aber erst jetzt erschienen sind. Canettis dreibändige Lebensgeschichte bricht 1937 ab, noch vor der Vertreibung aus Wien. Über die Jahre in England, wo der Autor Anfang 1939 mit seiner Frau Veza ankam und wo er bis Anfang der siebziger Jahre wohnen blieb, ehe er in den letzten Jahren ganz nach Zürich übersiedelte, ist bisher wenig bekannt geworden. Ein wichtiger Grund wird sofort deutlich: England brachte Canetti die bitterste Kränkung seines bisherigen Lebens bei, denn England erkannte ihn nicht. Den Mann, der in Wien und Berlin Umgang mit Robert Musil und Bert Brecht, mit Isaak Babel und George Grosz hatte, kannte in England niemand. Die Deutschen flogen Luftangriffe auf London, Canetti hungerte, lebte von Übersetzungsarbeiten seiner Frau und dem Wohlwollen gut gestellter Gönner, er hungerte, aber vor allem nach Aufmerksamkeit. Statt wie bisher Anerkennung zu finden (Thomas Mann hatte die «Blendung» gelesen und gelobt), musste er erleben, dass ihm Hitler das Publikum für die erste Ausgabe (1935) seines Romans nahm und die Währungsreform (wieder das Geld!) jenes für die zweite. Jede literarische Arbeit wollte er sich versagen, solange Hitler an der Macht war, aber auch diesen Verzicht wusste niemand zu würdigen. So blieb ihm schliesslich nur die Wirkung als exotischer Dichter, als Lehrer, als einer, der nicht schreibt.
Auf der Taschenbuchausgabe der vor sieben Jahren veröffentlichten «Aufzeichnungen 1992–1993» steht: «Mit diesen Aufzeichnungen aus den letzten Jahren seines Lebens ist das Werk von Elias Canetti abgeschlossen.» Auf dem Waschzettel der Titelseite gegenüber heisst es noch ein bisschen kategorischer: «Dies ist das unwiderrufbar letzte Buch von Elias Canetti.» Wer hat da widerrufen?
«Hund meiner Zeit»
Das Werk von Canetti mag abgeschlossen sein, schliesslich ist der Autor 1994 gestorben, aber längst ist nicht alles veröffentlicht. Der Nachlass ist zum grossen Teil noch auf Jahrzehnte gesperrt, aber offenbar ist dem Verlag so viel an seinem Autor gelegen, dass er sogar veröffentlicht, was jener ausdrücklich «in dieser Form nicht zu veröffentlichen» fand. Dieses Tagebuch-Urteil ist berechtigt: «Party im Blitz» ist kunterbunt zusammengestoppelt, ein Durcheinander aus Porträts und Beschreibungen, voller Wiederholungen und Anglizismen, sprachlich mit erstaunlich wenig Sorgfalt fabriziert und als vorläufig unwiderruflich letzter Text die reine Selbstentlarvung. Canetti muss offenbar noch vor seinem Lebensende seine schwärende Wunde zeigen und bei dieser Gelegenheit endlich Rache üben.
Mit einem so drastisch wie nie zuvor formulierten Hass greift Canetti britische Freunde und Förderer an, Leute, «die mich nicht kannten und nicht die geringste Lust hatten, mich kennen zu lernen». Die Strafe folgt sogleich: Frauen wie die «überaus blonde» Fotografin Lee Miller haben etwas «Aufgerissenes», die Historikerin Veronica Wedgwood, die die «Blendung» übersetzte und an einen Verlag vermittelte, ist «unschön» und nicht liebenswürdig. Diese Frauen gelten ebenso wenig wie die Männer, die ihn in ihre Häuser, auf ihre Schlösser, auf Reisen einladen. Einmal in Fahrt, zerfleischt der «Hund meiner Zeit» auch noch T. S. Eliot, diesen «Wüstling des Nichts». Am Ende bleibt nur der Sinologe Arthur Waley, denn der hat, noch auf Deutsch, die «Blendung» gelesen.
«Man stelle sich vor, was es bedeutet, in einem grossen Lande, das für mich das Land von Shakespeare und von Dickens war, einen einzigen Leser zu haben.» Ja, es ist die schlimmste denkbare Kränkung, aber wurde sie nicht auch Hunderten weiterer Emigranten zugemutet? Canetti zelebriert hier einen unvergleichlichen Hochmut, der sich nachträglich durch den Nobelpreis rechtfertigen wird. Die Geschichte, das Schicksal oder wer immer wusste es nämlich besser als die Zeitgenossen.
Showdown in Hampstead
Warum also hat der Verlag dieses kleinliche Manuskript im Einverständnis mit Canettis Tochter Johanna veröffentlicht? Die Wege des Herrn sind wunderbar, die der Literaturgeschichte manchmal noch verschlungener. In seinem Erinnerungsbuch «Iris and Her Friends» träumt John Bayley von einer Autofahrt auf einem Privatweg. Seine Frau heisst im Traum nicht mehr Iris, sondern Priscilla. Sie schimpft mit ihm, weil er diesen Weg nimmt, steigt dann aus, als hinter dem Auto ein Fremder auftaucht, es ist «Dr. Elias Canetti, der berühmte Autor, Träger des Nobelpreises». Priscilla versteht sich sofort bestens mit ihm.
Bayley schrieb dieses Buch, nachdem er seine Frau Iris Murdoch an «Dr. Alzheimer» verloren hatte. Schon im vorigen Buch hatte er Canetti – ohne ihn beim Namen zu nennen – als Iris’ Liebhaber enthüllt. Das «Gottmonster aus Hampstead» genoss eine Verehrung, die sich mehr auf Gerüchte als auf ein Werk gründete. «The Dichter was a Dichter in the German sense of the word», schrieb Bayley da mit milder, britischer Ironie, «kein richtiger Dichter, sondern ein meisterhafter Geist der Literatur.»
Dieser hereingeschneite Dichter verfolgt Bayley bis in die Gegenwart. «Bevor ich Iris heiratete», erläutert er, «lebte ich in der Angst, dass Canetti sie wie Pluto in seine dunkle Unterwelt davontragen könnte.» Iris Murdoch hat dem dunklen Gott ihren dritten Roman, «Die Flucht vor dem Zauberer» (1956), gewidmet. Der Zauberer, den Annette begehrt und dem sie zu entrinnen versucht, heisst hier Mischa Fox. Einmal rettet er sie aus dem Wasser, als sie zu ertrinken droht: «Er beugte sich über sie mit dem Gesicht eines Dämons.»
In den «Aufzeichnungen 1992–1993» wird auch Canettis Freund Franz Baermann Steiner vernichtend beurteilt: «Er war klein und so schmächtig, dass man ihn beinahe übersah. Besonders hässlich war sein Gesicht (...). Weniger einnehmend als er konnte kein Mensch in Erscheinung treten. (...) Er starb, als eine Frau sich ihm anverlobte. Es war die englische Dichterin Iris Murdoch, die ihn in Oxford kannte und geistig von ihm bezwungen war.» Danach hat Canetti sie bezwungen. «Sie lag reglos und unveränderlich, ich merkte kaum, dass ich in sie einging, ich spürte nicht, dass sie etwas merkte.» Daraus wird dann die schlimmste Form von kiss and tell- Geschichte, die es in der literarischen so genannten Beletage seit längerem gegeben hat, geschrieben allerdings nicht von der Verliererin, einer enttäuschten Frau, sondern im Triumph des Sieges und des Nobelpreises.
Warum macht Canetti das? Weil er eifersüchtig ist und neidisch. Canetti konnte nicht wissen, dass wenige Jahre nach seinem Tod Iris Murdoch durch ihr Alzheimer-Siechtum und den nachfolgenden Sentimentalfilm weit bekannter sein würde als er. Aber schon zu ihren Lebzeiten weiss er sich vor Eifersucht nicht zu fassen. Nicht nur wagte sie es, ein philosophisches Buch zu veröffentlichen, «ihr Name in Riesenbuchstaben auf dem Umschlag», sie hat «etwas ganz anderes zu verteidigen: das sind ihre vierundzwanzig Romane». In diesen letzten Aufzeichnungen wird Gerichtstag über Iris Murdoch gehalten, diesen «sozusagen illegitimen Dichter» (sic!).
Canetti schenkte ihr, als sie seine Geliebte wurde, die englische Ausgabe der «Blendung» mit der Inschrift «Für Iris mit grossen Hoffnungen». Die Hoffnungen hat sie nicht erfüllt, sie wurde selbständig, sie floh vor ihm und heiratete schliesslich den Literaturwissenschaftler John Bayley. Sie war keine gehorsame Schülerin mehr wie Canettis aus Wien mitgebrachte Nebenfrau Friedl Benedikt. «Ich hatte mir im Sprechen mit Friedl eine strenge Art angewöhnt», schreibt Canetti der bereits 1952 Verstorbenen hinterher und ist sich nach Jahrzehnten noch «sicher, dass sie mir für die Kargheit meines Lobes, die ewige Unzufriedenheit und den Tadel zutiefst dankbar war». Friedl Benedikt – muss man es sagen? – war natürlich eine «echte» Dichterin.
Was genau hat der Richter Canetti Iris Murdoch vorzuwerfen? Er verübelt ihr, dass sie ihren Freunden zuhört, ihnen Geschichten ablauscht und sie dann in ihren Büchern niederschreibt. Eine «Hausfrau» schimpft er sie deshalb, «die einkaufen geht», ein «Oxford-Ragout», «eine Art Gesamt-Parasit aus Oxford», ein «ordinärer, landläufiger Erfolg». Den hatte sie, wurde eifrig gedruckt und rezensiert, zuletzt zur Dame des British Em-pire erhoben, während der asketische, der allein der Kunst und dem Hass lebende Canetti bis in die siebziger Jahre warten musste, bis «Die gerettete Zunge» auch ihn populär machte. Iris Murdoch tat nichts anderes als er, sie hörte geduldig zu, stellte sich als Beichtiger zur Verfügung, liess die Leute reden. Sie hat alles von Canetti gelernt, ohne sich ihm ganz zu unterwerfen. Elias Canetti war der letzte Name, den Iris Murdoch erkannte, ehe sie in ihre Krankheit davontrieb.
Elias Canetti: Party im Blitz. Die englischen Jahre. Hanser. 248 S., Fr. 31.20