An Weihnachten gibt es in der Schweiz weder WK noch Rekrutenschulen. Auf hohe Feiertage der orthodoxen, muslimischen, jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Soldaten kann die Armee nicht dieselbe Rücksicht nehmen. Hier geraten Integration und Gleichberechtigung an ihre Grenzen. Doch inzwischen ist in manchen Rekrutenschulen jeder zehnte Soldat muslimischen Glaubens – Tendenz steigend. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis muslimische Rekruten ebenso zahlreich sind wie reformierte. Wenn sie am höchsten islamischen Feiertag (türkisch Bayram, arabisch Eid al-Adha) Dienst tun müssen und darum in Uniform ein gemeinsames Gebet verrichten, stimmen sowohl der gemässigte Peter Rothenbühler als auch der linke Peter Bodenmann in der Substanz mit Andreas Glarners Kritik überein (Weltwoche Nr. 27/23) – wenn auch nicht mit Glarners provokantem Stil und seinen absurden Vergleichen mit Kinderehen und Steinigungen.

Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis muslimische Rekruten ebenso zahlreich sind wie reformierte.

Natürlich hat die Armee grundsätzlich laizistisch zu sein. Wenn man aber erwartet, dass muslimische Schweizer auch an ihren höchsten religiösen Feiertagen Dienst tun, erscheint ein kurzes Gebet als angebrachte Geste des Respekts. Auch wer – mit Glarner und dem Schreibenden – ein Malaise darüber empfindet, dass ein derart hoher Anteil unserer Jungen einer fremden Religion angehört, die ihren Frauen etwa die Heirat mit Andersgläubigen untersagt, müsste daran interessiert sein, dass wir solche und andere Gesten der Integration zulassen. Diese Jungen sind hier aufgewachsen und werden in unserem Land bleiben. Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass ihre Ausgrenzung nicht im Interesse unseres Landes sein kann. Vielmehr müsste ihre Integration uns allen ein Anliegen sein, auch wenn wir eine verfehlte Zuwanderungs- und Asylpolitik kritisieren, die innert weniger Jahrzehnte zu einem derart hohen Anteil von Menschen aus fremden Kulturen an unserer Bevölkerung geführt hat.

Die meisten schweizerischen Muslime stammen aus der Türkei und den ehemals osmanischen Gebieten des Balkans. Das Verhältnis zwischen den Erben der Osmanen und dem Westen ist, nach einem halben Jahrtausend der Konfrontation, ein schwieriges; aber aus globaler Warte gibt es mehr Verbindendes als Trennendes. Die Herausforderungen im Inland finden ihr Pendant auf der zwischenstaatlichen Ebene. Die Türkei ist eine stolze, eigenwillige und schwierige Partnerin, die nicht einfach nach der Pfeife der EU und ihrer Nato-Partner tanzt. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte entsprechen nicht unseren Vorstellungen, im Ukraine-Krieg blieb sie neutral, und der Nato-Nordosterweiterung verweigerte sie bisher ihre Zustimmung. Und doch ist sie eine strategische Partnerin, auf die der Westen nicht wirklich verzichten kann.

Die häufigen Querschläge Erdogans in den letzten Jahren waren auch eine Reaktion auf mehrfache Zurückweisung und Missachtung seitens der westlichen Partner. Mit Erfolg profilierte er sich in der muslimischen Welt und als wichtiger Partner Russlands und Chinas und zeigte so dem Westen, dass sein Brückenstaat auch andere Optionen hat. Nach seinem überraschend deutlichen Wahlerfolg und angesichts der gravierenden Währungs- und Wirtschaftskrise seines Landes hat er nun bedeutende Schritte auf seine westlichen Partner zu gemacht.

Seine neue Regierung ist die am wenigsten nationalistische seit seiner Regierungsübernahme vor 21 Jahren. Sein aussenpolitisches Team, inklusive Verteidigungsminister und Geheimdienstchef, besteht aus gemässigten und kompetenten Technokraten. Das Veto gegen Schwedens Nato-Beitritt zieht er zurück – offenbar ohne grosse Gegenleistungen. Mit dem griechischen Ministerpräsidenten einigte er sich während eines bei uns kaum beachteten Treffens (das doppelt so lange dauerte wie geplant) auf bedeutende Versöhnungsschritte. Angestrebt wird die Lösung der bilateralen Konflikte, unter anderem über die Meeresgrenzen, welche die beiden Staaten noch vor zwei Jahren an den Rand eines Krieges brachten. Wie de Gaulle feststellte, haben Staaten keine Freunde, bloss Interessen. Für die USA, die EU und die Türkei überwiegen diejenigen an gegenseitigem Einvernehmen deutlich das Trennende. So wäre zu hoffen, dass Erdogans Gesten und Schritte seitens der westlichen Partner erwidert werden. Dies wäre auch für die Integration der schweizerischen Muslime positiv.

Herodot ist ein der Redaktion bekannter Weltreisender, seit Jahrzehnten wissenschaftlich und politisch tätig, u. a. für die Uno.