Wenn die Sonne um die Mittagszeit die sandige Oberfläche der Sahara glühend heiss werden lässt, scheint jedes tierische Leben verschwunden. Wer gut beobachtet, sieht plötzlich Ameisen mit bis zu einem Meter pro Sekunde über die Dünen flitzen. Und immer wieder rennen sie auf einen Pflanzenhalm, verharren dort einige Sekunden, um alsbald den Backofensprint wiederaufzunehmen.

Nach etwa dreissig Minuten ist der Spuk vorbei. Die einen Zentimeter grossen Tiere haben sich in dieser Zeit vielleicht 200 Meter vom Eingang des unterirdischen Nestes entfernt und kehren jetzt dank Orientierung am Polarisationsmuster des Himmelslichts schnurstracks zum winzigen Nesteingang zurück.

Am Zoologischen Institut der Universität Zürich studierte um 1987 Rüdiger Wehner in der tunesischen Sahara die wegen ihres glänzenden Kleids «Silberameise» genannte Wüstenameise der Gattung Cataglyphis. Sie lebt von jenen Insekten und Spinnentieren, die nach der nächtlichen Futtersuche der aufkommenden Hitze des Wüstentages nicht rasch genug entfliehen konnten und tot auf dem Sand liegenblieben.

Die Ameisen stürmen aus ihrem Nest, um die Kadaver als Futter nach Hause zu schaffen. Temperaturmessungen über dem Wüstenboden haben ergeben, dass die Ameisen ihr Nest für den Sprint genau dann verlassen, wenn kurz nach Mittag die Temperatur vier Millimeter über dem Boden auf 46 Grad Celsius geklettert ist. Die vier Millimeter sind deshalb wichtig, weil die extralangen Beine der Ameise ihren Körper auf dieser Höhe halten. Und da die Temperatur direkt am Boden ohne weiteres 10 Grad heisser sein kann, ist die Langbeinigkeit bereits ein erster Überlebenstrick.

Hat sich die Sahara auf die 46 Grad erwärmt, sprinten Hundertschaften der Silberameise wie auf Kommando aus dem Nest und rennen um ihr Leben. Denn innert Sekunden hat der Ameisenkörper die Temperatur der heissen Luft angenommen. Steigt so die Körpertemperatur schliesslich auf 54 Grad, ist selbst der Hitzeweltmeister unter den Landtieren am Anschlag.

Das Zeitfenster für den Temperaturanstieg von 46 auf 54 Grad beträgt nur etwa eine halbe Stunde. Dann hat die Silberameise entweder eine Beute ins Nest zurückgeschleppt, ist mit leerem Greifkiefer heimgekehrt, oder sie teilt das Schicksal der Hitzeleichen, derentwegen sie ihren Wüstenspurt unternommen hat.

Das horrende Lauftempo verschafft der Silberameise wohl etwas kühlenden Fahrtwind. Trotzdem muss sie öfter Hitzepause machen. Um von der heissen Sandfläche wegzukommen, klettert sie auf irgendeine Erhöhung und verharrt dort einige Sekunden bewegungslos in den kühleren Luftschichten. Die Hitzepausen beanspruchen bis zu 80 Prozent der wertvollen Suchzeit. Der Körper hat ausserdem einen physiologischen Hitzeschutz. Während des Wüstensprints hat die Silberameise «Hitzeschockgene» eingeschaltet, die spezielle Eiweisse produzieren und vor übermässigem Hitzestress schützen.

46 Grad knapp über Boden

Warum aber beginnt die Silberameise ihren Beutezug erst bei 46 Grad und hetzt sich fast zu Tode, anstatt bereits früher auf die Jagd zu gehen? Ihr Feind ist eine Wüsteneidechse. Diese hat ihren Unterschlupf in der Nähe des Ameisennestes. Setzt man Silberameisen frei, bevor es vier Millimeter über dem Boden 46 Grad warm geworden ist, werden sie innert Minuten von der Eidechse konsumiert.

Aber just ab diesen 46 Grad wird es der Eidechse zu heiss, und sie muss sich in ihren Bau verziehen. In feiner ökologischer Abstimmung hat also die Silberameise gelernt, jenes schmale Temperaturband zu nutzen, in dem hitzemässig nur noch sie, nicht aber ihr Feind mithalten kann.

Herbert Cerutti ist Autor und Tierexperte.