Elvis Presley: The 50 Greatest Hits. 2 CDs. Sony
Kein besseres Geschenk gab es 1958 für Zehnjährige wie mich als eines der damals neuen Transistorradios, die man mit der Hand ans Ohr hielt, um nachts im Bett heimlich Musik- und Unterhaltungsprogramme zu hören. Störungsfrei kamen bloss zwei Sender im geteilten und noch offiziell von den Weltkriegs-Siegern besetzten Deutschland an: Radio DDR mit den gestelzten Verlautbarungen des Staatssozialismus und American Forces Network, dessen Töne faszinierend wirkten, weil ich sie nicht verstand. Voller Stolz liessen die Eltern mich vorführen, wie ich englische Sätze aus der Zeitansage («At the sound of the last tone, it will be eight hours, Central European Time») oder aus den Nachrichten kopierte. Vorbewusst hatten wir die Bahn des «Reeducation»-Programms gefunden.
Vom Rand der Gesellschaft
Doch schon vor Jahresende war ich vollkommen von der schönen Stimme Elvis Presleys besessen, der am 1. Oktober nach Friedberg bei Frankfurt zur Ableistung seines Militärdiensts gekommen war. Ganze Strophen aus Hits wie «Jailhouse Rock» oder «Don’t» konnte ich singen und dachte dabei an die Väter meiner Freunde mit anderer Hautfarbe, wenn sie uns auf ihren Jeeps Coca-Cola oder Kaugummi in die Schulpause mitbrachten Immer noch per Transistorradio erfuhr ich Mitte August 1977 in Rio de Janeiro von Elvis Presleys Tod, und obwohl wir inzwischen allen Sympathien für Amerika abgeschworen hatten, löste die Nachricht einen dumpfen Schmerz aus. Seine Lieder würden auf «Platten» in der akustischen Gegenwart bleiben. Aber eine Welt ohne Elvis konnten wir uns so wenig vorstellen wie eine Welt, die einen Ozean oder einen Erdteil verloren hatte. Wie war er derart unvordenklich geworden?
1935 im Staat Mississippi geboren und nach 1948 in Memphis, Tennessee, aufgewachsen, verkörperte Elvis eine anziehende Sinnlichkeit des amerikanischen Südens mit seinem fliessenden Akzent, den schon früh tiefschwarz gefärbten Haaren und eisblauen Augen in einem Gesicht von weichen und doch männlichen Zügen. Zum Rand der Gesellschaft gehörte er wie sein vorbestrafter Vater, abhängig von spärlichen Hilfsprogrammen des Staats, beständig in Kontakt mit anderen Ausgeschlossenen und physisch überfordert von einer Arbeit am Fliessband, die er nach Ende der Schulzeit fand.
Mit einem schier unendlichen Gedächtnis für die musikalischen Formen des Südens, aber ohne Noten lesen zu können, glaubte Elvis beharrlich an sein Talent, welches niemand sah, bis er 1956 innerhalb weniger Monate zum Weltstar einer neuen Dimension aufstieg. Anfang Januar aufgezeichnet, brach der Durchschnittssong «Heartbreak Hotel» in der Version seiner Stimme alle Plattenverkaufsrekorde; jedes eilig produzierte weitere Lied überbot das vorige; ein Hollywoodfilm mit dem Titel «Love Me Tender» eroberte die Zuschauernation; und im frühen Herbst schon kämpften die beliebtesten Fernsehshows mit steilen Honorar-Angeboten um seine Präsenz.
Angenehmer Tabubrecher
Elvis hatte den Managertraum nach einem weissen Protagonisten erfüllt, der afroamerikanische Musik, vor allem den Rock and Roll, ohne Authentizitätsverlust in die Öffentlichkeit und zu einer Einheit mit der Balladentradition des Country bringen sollte. Zugleich provozierten die wellenartigen Bewegungen seiner Hüften kreischende Ekstase unter den Teenagerfans aus dem prüden Mittelstand – und laute Empörung bei den Sittenwächtern der Nation.
Doch nie provozierte der plötzlich zur Ikone von Gegenwart und Zukunft gewordene Elvis Presley zurück. Dass die Film- und Fernsehkameras vorerst nur seinen Oberkörper zeigten, akzeptierte er mit einem verlegenen Lächeln, und als Frank Sinatra ihn als «ranzig riechendes Aphrodisiakum» beschimpfte, reagierte er mit der gutgemeinten Bemerkung, «ein so bewundernswerter Mann» habe «das Recht auf freie Meinung».
So erwies sich der Tabubrecher aus der südlichen Unterschicht als «ein richtig angenehmer, guter Junge» («a real decent, fine boy») , wie Showmaster Ed Sullivan ein Jahr nach dem ersten Hit bilanzierte, als eine Figur kollektiver Identifikation, die selbstredend «wie alle anderen» den Wehrdienst ohne Privilegien durchlief und Millionen von Anhängern zu Hause mit Songs der nun schon bewährten Machart versorgte. Auf bewährten Bahnen ging es auch nach der Rückkehr aus Europa für Elvis weiter, mit regelmässigen Studioaufnahmen und vielen durchaus erfolgreichen Filmen wie «G. I. Blues,» «Wild in the Country» oder «Blue Hawaii», entlang der strategischen Konzeption seines Managers Colonel Parker folgend, der die Hälfte aller Tantiemen einstrich und als illegaler Einwanderer aus den Niederlanden einen Vorbehalt gegen die Risiken von Live-Tourneen hatte.
Ein gutes Jahrzehnt nach dem unvergessenen Auftakt der Sensationen war Elvis Presley am Ende einer unglücklichen Ehe 1968 Vater geworden und international unter den Hörern seiner Generation weiter beliebt, ohne mit den fortlaufenden Produktionen noch irgendwelche bemerkenswerten Erfolge zu landen. Niedergeschlagen traf er die einzige eigene Karriere-Entscheidung seines Lebens. Endlich wurde wieder eine Fernsehsendung mit von ihm ausgesuchten Liedern vor Live-Publikum aufgenommen, was die Kraft und Präsenz der Stimme wiedererweckte. Mit wahrer Rührung schrieben die Kritiker von der «emotionalen Grösse und historischen Resonanz» dieses Comebacks, weil es bewies, dass die neue kulturelle Form nicht verschwunden war. «Zu erleben, wie ein Mann zu sich selbst zurückfindet, das hat etwas Magisches.»
Als «König» der Popkultur, wie er nun hiess, hielt der wiedererstandene Elvis Konzertreisen durch die grossen amerikanischen Städte und mit regelmässigen Shows im «International Hotel» von Las Vegas Hof für seine Hörer. Stets begierig nach Sandwiches mit Erdnussbutter, Bananen und Bacon hatte er erheblich an Gewicht zugelegt, was der Thronmantel seiner schillernden Capes nie wirklich kaschierte; er schwitzte heftig auf der Bühne, verfehlte ab und an einen Ton, hatte aber auch einen gewinnenden Hauch von Selbstironie gefunden. Noch beim letzten Auftritt am 26. Juni 1977 in Indianapolis forderten die Zuhörer frenetisch ein da capo des am Ende vorgetragenen Songs «Are You Lonesome Tonight». Der Antwortsatz aus der Regie ist historisch geworden: «Ladies and gentlemen, Elvis has left the building.»
Als Elvis Presley eineinhalb Monate später auf dem Anwesen Graceland in Memphis starb, das er am Beginn seines Weltruhms für die Eltern gekauft hatte, ging nicht nur für meine Freunde und mich die Welt zu Ende, in der wir erwachsen geworden waren. Wie sollten wir leben, ohne sie mit Elvis zu teilen? Sein Todestag ist der 16. August 1977, und die Frage nach der exakten Todesursache hat nie eine definitive Antwort gefunden. Fest steht, dass die Abhängigkeit von Psychopharmaka, die er als «decent boy» im Gegensatz zu psychodelischen Drogen für harmlos hielt, den Körper von Elvis Presley ausgelaugt und zerstört hatte.
Leonard Bernstein, der grosse Komponist und Dirigent klassischer Musik, ehrte den Toten als «grösste kulturelle Kraft des 20. Jahrhunderts». Jimmy Carter, damaliger Präsident der Vereinigten Staaten, nannte Elvis Presley ein weltweites «Symbol» für die «Vitalität, die rebellische Energie und die Freundlichkeit des Landes», in dem er geboren war.
Und tatsächlich lassen uns diese drei Begriffe verstehen, wie Elvis, der Amerikaner – ganz ohne nationales Projekt – Popkultur als Lebensform erschaffen hatte. Dank der zarten Vitalität einer Stimme, die unabhängig von Inhalten und ohne Künstlichkeit mit den Schwingungen des eigenen Körpers die Körper seiner Hörer berührte und in Erregung setzte. Dank der Energie eines historischen Moments der Aufhebung und Entgrenzung von sozialen Spannungen, den diese Stimme bis heute vergegenwärtigt. Und dank einer elementaren Zuwendung, deren körperliche Substanz sie ist.
Doch sollen wir die Stimme von Elvis Presley, die neue Kultur, die sie eröffnete, und das Jahrhundert, zu dem sie gehört, wirklich «amerikanisch» nennen, wie sein Präsident im August 1977 unterstellte? Ist diese Kultur nicht gerade ein Welterbe? Amerikanisch wurde das 20. Jahrhundert im Dezember 1917 mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, den sie als neue Militärmacht zugunsten von Demokratie als sozialer Bewegung und politischer Form entschieden. Die Sequenz wiederholte sich Ende 1941 nach der amerikanischen Kriegserklärung gegen die faschistischen «Achsenmächte» und fand in der Implosion des Staatssozialismus ab 1989 ihr Ende.
Zuwendung statt Rivalität
Allerdings ist die Dominanz von Demokratie als sozialem und politischem Rahmen bis heute prekär geblieben. Derselbe Vorbehalt gilt gerade nicht für die Popkultur, wie sie als Kultur aus elementarer Sinnlichkeit, als Kultur mit Komponenten aller gesellschaftlichen Gruppen und als Kultur der freundlichen Zuwendung Mitte des 20. Jahrhunderts inmitten der Rivalitäten und Kämpfe des amerikanischen Südens entstanden ist. Sie mag das eine global gewordene und mithin entscheidende Erbe des 20. Jahrhunderts als eines amerikanischen sein, weil sich ihr gegenüber selbst nichtdemokratische politische Formen kaum zu isolieren vermögen – und weil sie keine anderen Kulturen ausschliesst.
Ihren Ursprung und ihre Kraft strahlt die Stimme von Elvis Presley in unserer Zeit so intensiv aus wie sonst nur noch die lebenden Bilder von Muhammad Ali aus Louisville in Kentucky, mit dem der Sport zu einem Teil der neuen Kultur wurde. Elvis und Ali, «der König» und «der Grösste», begegneten sich 1973 in Las Vegas und waren voneinander begeistert.
Elvis - eine unerreichte Jahrhundert Stimme 💜
Wer Elvis hörte, trauert :'-) immer noch, denn diese geniale Stimme konnte seither niemand mehr erreichen. Elvis ist heute noch unerreichbar. An Weihnachten war sein Blue Christmas wieder d e r Song!
Elvis hat uns ein bedeutendes soziokulturelles Erbe vermacht. ABER er war leider schlecht „gecoacht“. Wie Marilyn Monroe und Amy Winehouse wurde er von dem ihm aufgezwungenen Geschäftsmodell viel zu früh aufgezehrt. Müssen derartige Menschenopfer wirklich sein?!
R.I.P.
Jetzt lasst ihn ruhen. Wir haben andere Probleme zu lösen. Gopf!
Elvis was not just one of the "sexiest man death or alive",
er war ein wirklicher Künstler und aussergewöhnlicher Sänger, der sein ganzes Potential und Genie oft erst nach seinen öffentlichen Show-Auftritten zeigte:
https://www.youtube.com/watch?v=tOVy0dFQ_1U
Herr Gumbrecht, sehr empathisch und emotional geschrieben, elektrisierend, lebendig, bewegt und leicht melancholisch hinter der Brillianz, wie dieser berührende Künstler selbst, danke, Elvis lebt weiter!
Eine Stimme wie Samt und Seide. Elvis lebt!
Wer Elvis hörte, trauert :'-) immer noch, denn diese geniale Stimme konnte seither niemand mehr erreichen. Elvis ist heute noch unerreichbar. An Weihnachten war sein Blue Christmas wieder d e r Song!
Elvis - eine unerreichte Jahrhundert Stimme 💜
in elvis the pelvis' karriere spielte rassismus absolut keine rolle, war nicht erwaehnenswert. aber low class faszination war elvis' magnetismus - oder gift. der nachfolger dieses zeitgeistes ist heutzutage rassismus. mit vehemenz haben unsere eltern gegen elvis geweibelt, erfolglos bis im 68 ! und jetzt wo "drill rap" und "eminem vulgaritaeten" meine grosskinder umnebeln, tun wir immer noch dasselbe. elvis' low class ist heute endemic rassismus. plus ca change plus c'est la meme chose.
Elvis hat sicher die Musikgeschichte verändert. Aus meiner Sicht allerdings zum Schlechteren. In seiner Hinterlassenschaft dominieren weniger neuartige Stücke, dafür aber seine dominante Art der Interpretation. Als Gegenstück würde ich Chuck Berry oder Buddy Holly dem gegenüber stellen
Elvis hat uns ein bedeutendes soziokulturelles Erbe vermacht. ABER er war leider schlecht „gecoacht“. Wie Marilyn Monroe und Amy Winehouse wurde er von dem ihm aufgezwungenen Geschäftsmodell viel zu früh aufgezehrt. Müssen derartige Menschenopfer wirklich sein?!
Michael Jackson nicht vergessen.....
Elvis war gut und bleibt gut.
Hüftschwung des Jahrhunderts ist definitiv Shakira 😌
Der Hüftschwung des Jahrhunderts sowie der Vergleich mit Muhammad Ali reflektiert wunderbar die Weltlage. Der Aufstieg der USA wurde von zwei Weltkriegen und dem Untergang der Sowjetunion besiegelt, alles "Zufälle" wenn man so will. Und trotzdem, wie bei Presley und Ali, hat der Erfolg auch bei der Grossmacht USA nicht zur Gnade der Bescheidenheit sondern zu Narzissmus geführt. Eine sehr menschliche Geschichte zu Ostern. Nur der Tod kann zur Wiedergeburt führen, ob als Einzelner oder als Staat.
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R.I.P. Jetzt lasst ihn ruhen. Wir haben andere Probleme zu lösen. Gopf!
Elvis was not just one of the "sexiest man death or alive", er war ein wirklicher Künstler und aussergewöhnlicher Sänger, der sein ganzes Potential und Genie oft erst nach seinen öffentlichen Show-Auftritten zeigte: https://www.youtube.com/watch?v=tOVy0dFQ_1U
Herr Gumbrecht, sehr empathisch und emotional geschrieben, elektrisierend, lebendig, bewegt und leicht melancholisch hinter der Brillianz, wie dieser berührende Künstler selbst, danke, Elvis lebt weiter!