Im Jahr 2020 legte das Bundesamt für Statistik (BfS) unter Bundesrat Alain Berset seine aktualisierten «Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz» vor. Als am wahrscheinlichsten wurde unter dem Code «A-00-2020» ein Szenario vorgestellt, «das auf der Fortsetzung der Entwicklungen der letzten Jahre beruht». Damit könnte die Schweiz auf solider Grundlage weiter geplant werden.

So weit die Hoffnung. Die Realität sieht anders aus. Für die Jahre 2022 und 2023 fehlen in Summe voraussichtlich fast 20 000 Geburten, um das Szenario «A-00-2020» Wirklichkeit werden zu lassen. Selbst im negativsten Szenario, das von einer «niedrigeren Fertilität» ausging, hatten die Experten des BfS nicht mit einem solchen Einbruch gerechnet. Gemäss diesem hätten es nur 16 000 Geburten zu wenig gewesen sein sollen per 2023.

Die Gründe für den Geburtenrückgang liegen nach wie vor im Dunkeln. Die Behörden stellen wilde Mutmassungen an, die einer näheren Prüfung nicht standhalten. Gleichzeitig weigern sie sich nach wie vor beharrlich, einer möglichen Spur zu folgen. Denn der baby gap verläuft nachweislich parallel zum Fortschritt der Impfung gegen Covid-19 («Riskantes Spiel mit Schwangeren», Weltwoche Nr. 33/23).

Aber abseits von den Ursachen steht das Land damit vor massiven Problemen. Denn am anderen Ende der Alterspyramide ist kein solcher Einbruch festzustellen. Ganz im Gegenteil: Die Altersklasse ab 75 Jahren wächst rund sieben Mal so schnell wie die Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren. Inzwischen haben die ersten Babyboomer das Alter von 75 Jahren erreicht.

Viele gehen, wenige rücken nach

Diese Entwicklung kommt nicht überraschend. 2017 machte der liberale Think-Tank Avenir Suisse folgende Feststellung: «Bereits 2016 sind erstmals mehr inländische Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden als nachgerückt.» Das war vor sechs Jahren, und die Lage hat sich inzwischen massiv zugespitzt. Derzeit sind in der Schweiz rund 55 Prozent mehr Menschen im Alter zwischen 55 und 60 Jahren und stehen damit kurz vor der Pensionierung, als es 15- bis 20-Jährige vor dem Eintritt ins Arbeitsleben gibt. Es ist eine simple Primarschulrechnung: Die einen gehen – und viel weniger rücken nach.

Vor diesem Hintergrund wirken Debatten darüber, wie eine Zehn-Millionen-Schweiz aussehen könnte, reichlich gesucht. Die Bevölkerungsgrösse ist das eine, ihre demografische Zusammensetzung das andere. Über Letztere spricht kaum jemand, ganz so, als stünde Quantität vor Qualität. Dabei sind sämtliche relevanten Probleme des Landes abhängig von einer ausgewogenen Alterspyramide: die Finanzierbarkeit der Sozialwerke, der Fachkräftemangel, der Ausbau der Infrastruktur, der Schuldenabbau und vieles mehr.

In der Corona-Zeit setzte der Bundesrat alles daran, Todesfälle durch das Virus zu vermeiden. Er appellierte an die Solidarität und rief dazu auf, die Älteren zu schützen. Die Menschen, die offiziell an Covid-19 verstorben sind, waren im Mittel 86 Jahre alt, zwei Jahre über dem Mittel aller Todesfälle. Dutzende von Milliarden Franken flossen in den Kampf gegen die Corona-Übersterblichkeit.

Selbst im negativsten Szenario hatten die Experten nicht mit einem solchen Einbruch der Fertilität gerechnet.Das mag menschlich gerechtfertigt gewesen sein. Aber gleichzeitig interessierte sich niemand für den Geburtenrückgang, der sich seit zwei Jahren abspielt. Der Kampf ums Leben konzentrierte sich immer auf die Risikogruppe der Älteren. Dabei ist die Rechnung bei den ausbleibenden Kindern sehr viel eindrücklicher: 20 000 fehlende Geburten bei einem Mittel von 84 Jahren bis zum Tod entsprechen 1,68 Millionen Lebensjahren, die der Schweiz seit 2022 verlorengegangen sind. Und die fehlenden Kinder von heute sind die fehlenden Enkel von morgen. Es ist eine Art negativer Zinseszinseffekt der Demografie.

Wer soll das stemmen?

Bisher hat im Wahljahr 2023 keine Partei den Geburteneinbruch und die drastisch zunehmende Altersschere thematisiert. Die demografische Entwicklung der Schweiz scheint kein Wahlkampfschlager zu sein. Während die verschiedensten Lösungsansätze für die Rentenfinanzierung, den Pflegemangel und die Rückzahlung der Corona-Milliarden diskutiert werden, spricht niemand davon, dass es schon bald am Nachwuchs fehlen wird, der all das wirklich stemmen kann.

Die hitzigen Debatten über die Ausgestaltung der Sozialwerke sind damit reines Schattenboxen. Nach welchem Modell die AHV aufgebaut ist, dürfte in naher Zukunft denkbar egal sein, wenn immer weniger Menschen in sie einzahlen und von immer mehr Menschen AHV bezogen wird. Die Rechnung kann nicht aufgehen, ausser man schröpft die verbleibenden Beitragszahler hemmungslos. Oder man öffnet die Grenzen für junge Zuwanderer noch weiter, was politisch kaum mehrheitsfähig ist.