Es ist jetzt fast zehn Jahre her, dass der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP den Satz sagte: «Statt Inder an die Computer müssen unsere Kinder an die Computer.» Über Nacht wurde daraus die Parole: «Kinder statt Inder».
Seitdem sind weder Inder in nennenswerter Zahl in die Bundesrepublik gekommen, noch konnte der Geburtenrückgang gestoppt werden. Zugenommen hat nur die Zahl der alleinerziehenden Mütter, die in den Talkshows darüber Klage führen, dass sie von Staat und Gesellschaft nicht ausreichend versorgt werden.
Und während in Deutschland die «soziale Kälte» regiert, die junge Ehepaare dazu zwingt, sich zwischen Kind, Urlaub und Plasma-Bildschirm entscheiden zu müssen, weil sie sich alles zugleich nicht leisten können, während in Deutschland alle halbe Jahre ein neuer «Armutsbericht» vorgelegt wird, aus dem hervorgeht, dass die Armut im Verhältnis der Ausgaben zunimmt, die an Bedürftige geleistet werden, wächst die indische Bevölkerung stetig, obwohl es kein Kindergeld, kein Elterngeld und auch sonst keine materiellen Anreize gibt, Kinder in die Welt zu setzen. Parallel dazu steigt die Zahl derjenigen, die ihren Kindern eine ordentliche Ausbildung geben möchten, obwohl es kein Bafög und auch sonst keine Förderprogramme gibt. In einer «Kleinstadt» wie Pune (fünf Millionen Einwohner) lernen 500 000 Studenten, die sich auf mehr als 250 Colleges verteilen. Jeder zweite finanziert sein Studium mit einem Job, und sei es nur, dass er Nachhilfe gibt oder selbst unterrichtet. Computer Science und Business Administration sind die Top-Fächer, aber auch Geisteswissenschaften stehen hoch im Kurs, obwohl das Land Programmierer dringender braucht als Philosophen.
Neeti Badwe hat an der Universität von Pune die Abteilung «German Studies» aufgebaut. Sie kennt sich in der deutschen Literatur so gut aus wie in der indischen Küche, die «kritische Theorie» ist ihr so vertraut wie das literarische «Frolleinwunder» der neunziger Jahre, von Judith Hermann über Julia Franck bis Zoë Jenny.
Neeti Badwe erklärt uns, wie das indische Bildungssystem funktioniert, am Ende hat sie selbst eine Frage: «Sagen Sie bitte, was ist eigentlich Freizeitgestaltung?»
Wir schauen uns etwas ratlos an, vier Medienmenschen, die den Begriff «Freizeit» ihrerseits nur aus dem Fremdwörterbuch kennen, und versuchen, Neeti Badwe zu erklären, was «Freizeitgestaltung» in der Praxis bedeutet, nämlich harte Arbeit: im Baumarkt einkaufen, im Stau auf der Autobahn sitzen und am Wochenende Flohmärkte besuchen. Und weil viele Menschen mit ihrer Freizeit nichts anzufangen wüssten, gebe es inzwischen auch das Studienfach «Freizeitpädagogik» und den Beruf des «Freizeitberaters», von «Freizeitkleidung» mal ganz abgesehen.
Neeti Badwe staunt. «Wenn Sie sich mit der Freizeit so schwertun, warum arbeiten Sie dann nicht etwas länger?»
Um unsere Ratlosigkeit zu überspielen, setzen wir noch eins drauf. «Wir haben noch was Besseres: Planungssicherheit!» Neeti Badwe will wissen, wie man das Wort buchstabiert. «Planungssicherheit! Das muss ich unbedingt meinen Kollegen erzählen.»
Die werden nicht schlecht staunen, wenn sie erfahren, dass man in Deutschland in der Lage ist, den Bedarf an Windeln für das Jahr 2020 auszurechnen, aber nicht in der Lage, den Studenten klarzumachen, dass Bildung nicht umsonst zu haben ist.
Der Wohlstand, in dem wir leben, und die Lächerlichkeit der Probleme, die wir diskutieren, werden einem erst bewusst, wenn man ein Land wie Indien besucht – wo die Armut buchstäblich zum Himmel stinkt, wo es so gut wie keine geregelte Müllabfuhr gibt, wo Hochhäuser für die Gutverdienenden von Tagelöhnern gebaut werden, die nebenan in Slums leben. Wo die Menschen aber wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen Arbeit, Leistung und Wohlstand gibt, dass Bildung der Schlüssel zum Vorankommen ist, dass Eltern Verzicht investieren müssen, damit deren Kinder es mal besser haben. Wo die Freiheit nicht zugunsten von Gleichheit geopfert wird. Wo es keine Freizeitpädagogen und keine Planungssicherheit gibt, dafür aber den Willen zum Aufbruch und den Mut zum Risiko.
Kinder statt Inder? Das war mal. Inder statt Kinder.