Es fällt Männern nicht immer leicht, den Überblick zu behalten, welches Verhalten akzeptiert und welches von modernen Frauen als unangebracht empfunden wird. Eine harmlose Geste, wie das Helfen in den Mantel, kann schon als bevormundend oder abwertend interpretiert werden – und sie sich in ihrer Gleichberechtigung in Frage gestellt fühlen. Ist der Gentleman in einer Zeit, die viel Wert auf Unabhängigkeit und Gleichberechtigung legt, überholt, ja, gar tot?

Diese Frage stellte ich auf meinem Instagram-Account, und Männer berichteten resigniert, dass sie schon oft in «ein Hornissennest gestochen» oder verächtliche Blicke geerntet hätten, sobald sie ihre Gentleman-Qualitäten zeigten, sei es durch Anbieten eines Sitzes im Tram oder durch Türaufhalten. Es würde schnell als Beleidigung aufgefasst oder schlichtweg nicht wertgeschätzt. Der Gentleman sei nicht tot – er habe nur keine Lust mehr. Diese Entwicklung halte ich für bedauerlich (es gibt gewiss auch manche, die sie als Ausrede nutzen. Sie waren nicht perfekte Gentlemen, und dann kam MeToo, und sie «mussten» ihre Qualitäten ablegen; sie waren nie vorhanden).

Der Comedian Dave Chappelle witzelte mal: «Ritterlichkeit ist tot, und Frauen haben sie umgebracht.» Feministinnen würden chivalry nicht mehr benötigen oder sogar ablehnen. Chivalry, englisch für Ritterlichkeit, ist ein Konzept aus dem Mittelalter, das das Verhalten von Rittern beschreibt: Ehre, Höflichkeit, Mut und Respekt gegenüber anderen, insbesondere Frauen und Schwächeren. Heute wird chivalry mit Gentleman-Tugenden gleichgesetzt, und die galten früher als selbstverständlich. Komplimente zum Erscheinungsbild gehörten ebenso dazu wie das Übernehmen von Führung in schwierigen Situationen, etwa sich in einer grossen Menschenmenge zurechtzufinden.

Ich teile nicht die Logik jener Frauen, die ein Kompliment zum Dekolleté als sexuelle Belästigung empfinden.

Vielleicht sollten Männer heute einen anderen Ansatz wählen: Um sicherzustellen, dass das Türaufhalten nicht als respektlos wahrgenommen wird, könnte man die Tür beim Eintritt ins Lokal sofort hinter sich zufallen lassen, ihr am Tisch gleich den Stuhl wegziehen, sich selbst daraufsetzen und erst mal ein Bier bestellen. Als Zeichen des Respekts vor ihrer Autonomie. Oder die Treppen vor ihr hochsteigen; falls er nämlich stolpert, ist es einfacher für sie, ihn aufzufangen. Heutzutage ist es besser, sie ist beleidigt, weil er sie nicht aufgefangen hat, als wenn er sie auffängt, sie es aber gar nicht wollte.

 

Tatsächlich tun Teile der Gesellschaft heute so, als gäbe es keine Unterschiede mehr zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit, auch keine physischen Unterschiede. Als wären Interaktionen zwischen Mann und Frau nur noch neutrale Transaktionen ohne spielerische Dynamik, ohne geschlechtsbezogene Rituale, ohne natürliche Instinkte. Die Unterschiede sind aber da und haben ihre Berechtigung. Ich teile nicht die Logik jener Frauen, die bereits ein Kompliment zum Dekolleté als sexuelle Belästigung empfinden. Oder durch Gentleman-Gesten das Gefühl haben, man würde auf sie herabsehen – weil starke, unabhängige Frauen ja dieses «bevormundende» Verhalten nicht brauchen. Oder die der Meinung sind, dass Gleichberechtigung erst dann erreicht ist, wenn wir in Restaurants nicht mehr eingeladen werden.

 

Formgefühl als Bevormundung zu interpretieren, erfordert ja wirklich eine Menge bizarrer Fantasie. Der Gentleman drückt weder Überlegenheit oder Herabwürdigung aus. Er verkörpert charmante Höflichkeit – nicht nur gegenüber Frauen, sondern auch gegenüber anderen, wenn die Situation es erfordert. Das widerspiegelt Sensibilität und dass er sich Gedanken über das Wohlbefinden seines Gegenübers macht. Wie kann das nicht einfach schön sein? Gentleman-Gesten sind keine Verpflichtung. Und natürlich können wir emanzipierten Frauen unsere Jacken selbst anziehen und die Restaurantrechnung selbst begleichen. Aber viele von uns schätzen diese kleinen Aufmerksamkeiten, weil sie auch ein Ausdruck der Wertschätzung gegenüber der Weiblichkeit sind.

Der Gentleman ist nicht tot, er hält sich nur zurück. Und auch wenn es heute etwas Mut erfordert, auch wenn man sich vielleicht mal dem empörten Blick einer Hornisse aussetzt – er möge sich doch bitte wieder zeigen. Ich spreche im Namen sehr vieler Frauen, wenn ich sage: Wir brauchen ihn.

 

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