Als ich diese Zeilen schreibe, beginnen in Berlin die Filmfestspiele. Das Kino weist den Fluchtweg aus der Pandemie. Während sich die deutsche Politik im Wirrwarr ihrer Anordnungen längst verloren hat, kann die Berlinale, ich bin sicher, den ersehnten Durchbruch zurück zum vollen Leben bringen. Die Kultur ist stärker als die Politik. Das Kino knackt den Corona-Kerker.

Die letzten beiden Jahre haben uns zu Sklaven des Staates, zu Gefangenen der Politik gemacht. Viele fanden das notwendig, immer mehr sind der Ansicht, jetzt ist es genug. Alle aber sind froh ausser einigen Gesundheitsexperten und -politikern, die dank der Pandemie zu modernen Schamanen aufstiegen, dass es nun zu Ende geht. Wir leiden kollektiv an einer Überdosis Politik.

Mit am schwersten erwischt hat es die Wirte, unsere wahren Sozialarbeiter, aber auch die Künstler und die damit eng verbundenen Veranstalter der Kultur. Den Künstlern und Impresarios drehten die Regierungen den Lebensatem ab, sie mussten künstlich beatmet, endgültig fremdfinanziert und am Leben erhalten werden. Es fühlt sich an wie nach einer Bombardierung. Den Trümmern entsteigen tastend und wankend die Überlebenden. Wer traut sich als Erster auf die Bühne?

Jetzt schlägt die grosse Zeit der Kultur. Davon bin ich überzeugt. Die Kultur ist die Rettung, die Antwort, das grosse Angebot der Versöhnung nach der fiebrigen Gereiztheit, die sich im Gefolge der Covid-Diktatur wie ein Krebsgeschwür verbreitet hat. Unsere Gesellschaften durchziehen Schützengräben, das Napalm der Aggressionen frisst am Gewebe unserer Zivilisation. So viele Gräben und Gegensätze waren selten, vielleicht nie. Entspannung ist gefragt. Die Lösung liegt in der Kultur.

Politik ist institutionalisierter Streit. Wo Politik ist, zerfallen die Menschen in Gruppen, Lager, Gleichgesinnte, Gegner, Freunde, Feinde. Covid brachte den Vorstoss der Politik in unsere Familien, in unser Zuhause, in unsere Körper, in die Atemwege. In die intimsten Beziehungen pflügte sie sich hinein. Wir gingen mit der Regierung ins Bett und wachten am Morgen mit der Regierung wieder auf. Ohne die Erlaubnis der Behörden durften wir nicht mehr raus. Unser Leben gehörte dem Staat.

Wir brauchen, dringend, eine Booster-Impfung der Kultur.

Davon haben die Leute die Nase voll. Davon habe ich die Nase voll. Ich stelle fest: Noch nie war mein Interesse an, nein: mein Hunger auf Film, Literatur, Musik, Kunst und Kino grösser. Ich sehne mich nach Büchern, Filmen und Stoffen, die mich mit Politik verschonen, von Politik befreien. Ich will eintauchen in den unerschöpflichen Reichtum unserer Kultur, in die Schatztruhe der Menschheit, die uns helfen, stärken und inspirieren kann, den Wahnsinn der letzten beiden Jahre hinter uns zu lassen.

Vor Weihnachten war ich in Regensburg. Durch Zufall stolperte ich in eine Anti-Corona-Demonstration. Einer der Protestierenden, Altachtundsechziger, erzählte mir, er habe früher Konzerte organisiert. Sein eindrücklichstes Erlebnis sei der Auftritt des Gitarristen Jimi Hendrix gewesen. Hinter einem Polizeikordon demonstrierte die Gegenseite, die Antifa. Ich fragte einen Teilnehmer, ob er Jimi Hendrix kenne. Er bejahte und strahlte: «Einer meiner Lieblingskünstler.»

Jimi Hendrix ist die Lösung, und die Kultur ist unsere Rettung. Wenn alles auseinanderklafft und sich die Lager feindselig belauern, können uns Musik, Kunst, Literatur daran erinnern, dass wir alle aus dem gleichen Holz geschnitzt sind, ein Herz haben, empfinden, uns in andere Menschen nicht nur hineindenken, sondern auch hineinfühlen können. Dank der Kultur begreifen wir nicht nur, sondern spüren es, dass wir nicht alleine sind und dass uns etwas verbindet.

Zu viel Politik bedeutet: zu viel Ernst, zu wenig Humor, zu wenig Freiheit, zu wenig Vielfalt, keine Leichtigkeit, stattdessen Senkblei, Spaltung, Zerklüftung, Monotonie und Einfalt überall. Die Menschen müssen schleunigst befreit und entkrampft, von der Pandemie der Politik geheilt werden. «Free your mind and your ass will follow», sang 1970 die US-Band Funkadelic, befreie deinen Geist, dein Hintern wird folgen. Richtig. Wir brauchen, dringend, eine Booster-Impfung der Kultur.

Vor Corona war die Kultur das Echo des Zeitgeists. Freiwillig, allzu willig stellte sich der Betrieb in den Dienst der Politik, der tonangebenden Mehrheiten, der zermürbenden Tendenz, aus allem und jedem eine Weltanschauung, ein moralisches Traktat, eine Mahnung, einen Peitschenhieb zu machen. Vergessen ging, dass in der Schatztruhe der Menschheit weit grössere Kostbarkeiten lagern. Kultur ist mehr als Zeitgeist, mehr als Belehrung, weit mehr als Politik.

Kultur ist das Wunder des Menschen, der Vielfalt des Lebens, der immerwährende, scheiternde Versuch, hinter das Rätsel unserer Existenz zu kommen. Vor allem aber eröffnet die Kultur Auswege aus dem Gefängnis unseres Ichs. Kultur befreit, weil sie uns mit der Möglichkeit konfrontiert, die Welt auch ganz anders zu sehen, ganz anders zu empfinden.

Nicht die Politik wird die Pandemiepolitik-geplagten Gesellschaften, die aus ihren Privatbunkern steigenden Menschen wieder zusammenbringen. Aber der Kultur traue ich es zu. Nach zwei Jahren Dürre, Elend, Depression kommen auf die Musiker, auf die Künstler, Performer, Entertainer und Veranstaltungszampanos goldene Zeiten zu. In jeder Hinsicht. Sie verkörpern das, was uns vielleicht am meisten gefehlt hat. Erst jetzt merken und realisieren wir, wie sehr.

Möge die Berlinale beginnen. R. K.