Kant ist den Deutschen fremd geworden. Lange Zeit galt er neben Hegel als Inbegriff deutscher Philosophie, mehr noch: als Inkarnation des deutschen Nationalcharakters, der, so glaubte man, im «kategorischen Imperativ» seine verbindliche Formulierung gefunden habe. Wenn es je so war, dann ist es jetzt vorbei. Die Work-Life-Balance-Gesellschaft kann sich nicht mit einem Philosophen anfreunden, der wie kein anderer den Begriff der «Pflicht» ins Zentrum seiner Morallehre und seiner Anthropologie gestellt hat.

Definitiv hat sich Kant gegen die Kolonialpraxis seiner Zeit ausgesprochen.Immanuel Kants systematische Konsequenz des Denkens, seine Beharrlichkeit, mit der er die grossen Themen der Philosophie bis zu den Wurzeln hindurch umgrub, seine rigorose Pflichtethik, sein Bestehen auf der Autonomie des Menschen, die Aufforderung zur Selbstverantwortlichkeit des Subjekts, die Universalität seiner Ansprüche, die jeder Identitätspolitik den Boden entzieht – nichts von alledem ist geeignet, Sympathie bei denen zu finden, die heute als Anwälte des Zeitgeistes auftreten.

 

Kant in Königsberg

Andererseits aber ragt Kant wie kein anderer deutscher Philosoph in die Gegenwart hinein. Die heute üblichen Routinen, mit denen man sich eines lästigen Erbes entledigt, haben bei ihm nicht so richtig durchgeschlagen. Die 2020 entfachte und leicht vorhersehbare Debatte über den Rassisten Kant ist im Sande verlaufen. Selbst die avanciertesten Lehrstuhlvertreterinnen mit den Schwerpunkten transkulturelle Philosophie und «Critical Race Theory» übten ungewohnte Zurückhaltung. Man hat wohl noch eine Ahnung davon, dass man einem Philosophen von welthistorischem Rang nicht beikommt, indem man auszählt, wie oft er das Wort «Neger» verwendet hat. Kants antijüdische Sottisen blieben in dieser Diskussion ohnehin ungerügt. Und zur Beruhigung der Gemüter konnte man immerhin feststellen: Definitiv hat sich Kant gegen die Kolonialpraxis seiner Zeit ausgesprochen.

Kant ist der Philosoph aus Königsberg. Im kulturellen Gedächtnis sind der Mann und seine Stadt eine symbiotische Beziehung eingegangen. In der Tat hat Kant den Bannkreis Königsbergs nur für die etwa neun Jahre seiner Hauslehrertätigkeit – ungefähr je hälftig hundert Kilometer östlich und hundert Kilometer südwestlich von Königsberg – und einige Reisen verlassen. Man mokiert sich gerne über Kants selbstgewählte Provinzialität, die ihn nicht dazu berechtige, Urteile über fremde Länder und Völker abzugeben. Aber «Provinz» war Königsberg keineswegs.

Die Stadt am äussersten Ostrand Preussens war mit ihren 50.000 Einwohnern die zweitgrösste Stadt des Königreichs Preussen, das hier auch 1701 gegründet worden war. Der Ostseehafen schuf globale Verbindungen, die Stadt war eine wichtige Militärgarnison, sie hatte seit 1544 eine nicht unbedeutende lutherische Universität, und nach Osten hin schlossen sich die baltischen Länder und das Kaiserreich Russland mit seiner nicht allzu fernen Hauptstadt Sankt Petersburg an. Diese Rand- und Grenzlage brachte eine geistige und demografische Dynamik mit sich – heute würde man von «Vielfalt» oder «Diversität» sprechen –, die Königsberg den grossen Städten im preussischen Binnenland voraushatte.

In seiner Kindheit und Jugend wird Kant wenig von diesem Glanz verspürt haben. Er wurde am 22. April 1724 in die Verhältnisse einer bescheidenen Handwerksfamilie hineingeboren. Sein Vater Johann Georg Kant war Riemermeister. Damit wurde man nicht reich, gehörte aber einem geachteten, fest in das traditionsreiche Zunftwesen eingebundenen gesellschaftlichen Stand an. Immanuel Kant erhielt die Chance, nach der Elementarschule die lateinische, streng pietistische Gelehrtenschule, das Collegium Fridericianum, zu besuchen – eine Zeit, die Kant später als «Jugendsklaverei» bezeichnet haben soll.

Zu allem Überfluss fühlte Kant sich – und wurde auch – grundlegend missverstanden.Sechzehnjährig schrieb er sich an der örtlichen Universität ein. Dem Studium folgten die Hauslehrerjahre. Mitte der 1750er Jahre kehrte Kant nach Königsberg zurück, legte akademische Prüfungen ab und begann seine dann vierzig Jahre währende Universitätslaufbahn mit einer ganzen Reihe von Publikationen überwiegend zu aktuellen naturwissenschaftlichen Themen. Damit verschaffte er sich lange vor dem Erscheinen seiner Hauptwerke schon Achtung in der Gelehrtenwelt.

Eine besondere Rolle für die Entwicklung der Stadt ebenso wie die von Kants Persönlichkeit spielten die vier Jahre der russischen Besatzung während des Siebenjährigen Krieges von Januar 1758 bis August 1762. Die Besatzung brachte nicht nur etwas Glanz in die preussische Kargheit, sondern auch eine Liberalität der Lebens- und Umgangsformen. Kant hat sich offensichtlich in diesem Milieu behaglich gefühlt. In seinem vierten Lebensjahrzehnt entwickelte er sein Talent zum geselligen Umgang mit Tischgesellschaft, Karten- und vor allem Billardspiel.

 

Die «Critik der reinen Vernunft»

1781 erschien nach einem Jahrzehnt des Schweigens Kants Hauptwerk: die «Critik der reinen Vernunft». Sie rief keineswegs nur zustimmende Reaktionen hervor. Kants Vernunftkritik richtete sich nach innen, auf die Verfahrensweisen, Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis, während die kritische Aufklärung seiner Zeit sich gegen die äusseren, die staatlichen und kirchlichen Hemmnisse wendete, die der Vernunft entgegentraten. Der oft dunkle, umständliche mit vielen begrifflichen Neuschöpfungen angereicherte Stil der ersten «Kritik» stiess ebenfalls auf Unverständnis.

Man kannte den Publizisten Kant eigentlich anders – als einen eleganten Stilisten, der auch souverän die Klaviatur von Ironie und Polemik beherrschte. Zu allem Überfluss fühlte Kant sich – und wurde auch – grundlegend missverstanden. Bereits in der ersten grösseren Rezension seiner «Kritik» musste er mit grosser Verärgerung feststellen, dass er als Idealist verbucht wurde. Um speziell diesem Vorwurf zu entgehen, arbeitete er die «Kritik» in der zweiten Auflage um und fügte ein eigenes Kapitel «Widerlegung des Idealismus» ein.

Gerade unter Kants unmittelbaren Schülern fanden sich seine ersten Antipoden. Für Kants Stadtgenossen, den seit den Studienjahren befreundeten Johann Georg Hamann, ist Kants erste «Kritik» blosse «Schulfüchserei und leerer Wortkram», wie er an Johann Gottfried Herder – ebenfalls ein früherer Kant-Schüler – schrieb, bei dem er mit diesem Urteil auf Zustimmung hoffen durfte. Herder und Hamann wurden bedeutende Philosophen, indem sie dezidierte Gegenprogramme gegen Kants rationalistischen Kritizismus entwarfen, in denen die von Kant stark vernachlässigte Rolle der «Sprache» eine anthropologische Schlüsselrolle spielte.

 

Kants Nachruhm

Darauf hat Kant sich nicht eingelassen, aber die kommunikative Dimension der Vernunft wird ihm im Laufe der 1780er Jahre immer stärker bewusst. Wer andere aufklären will, muss zu ihnen, besser noch: mit ihnen sprechen. Kant hat das Thema nicht mehr systematisch erörtert, aber häufig finden sich Bemerkungen, dass sich das Denken nur im Gespräch mit anderen entwickeln könne. Übermässig berühmt wurde seine «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?», eigentlich eher eine Gelegenheitsarbeit. Die allzu oft zitierte Aufforderung, man solle sich seines eigenen Verstandes bedienen, mündet in der zweifellos zutreffenden Beobachtung, dass Denken das eine, dass öffentliches Sprechen – die «freie Meinungsäusserung» – aber etwas ganz anderes ist. Kant zitiert abschliessend Friedrich den Grossen: «Räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur gehorcht!»

Wer andere aufklären will, muss zu ihnen, besser noch: mit ihnen sprechen.

Kant ist am 12. Februar 1804 gestorben. In den 220 Jahren seit seinem Tod hat seine Philosophie eine schwindelerregende Fülle von Anknüpfungspunkten für das philosophische, wissenschaftliche, ethische, ästhetische, politische, juristische Denken hervorgebracht. Fichte, Schelling, Hegel begründeten in direkter Anknüpfung an, aber auch in sehr kritischer Auseinandersetzung mit und am Ende in der Abkehr von Kant einen «Deutschen Idealismus». Durch Hegel und seine Schüler prägte der «Idealismus» jahrzehntelang massgeblich nicht nur die Philosophie, sondern auch die staatliche Entwicklung zumindest in Preussen.

Aber im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts reifte Kant zum deutschesten aller deutschen Philosophen. Der «Neukantianismus» beherrschte die deutsche Philosophie und strahlte weit ins Geistesleben aus. Die «Marburger Schule» um Hermann Cohen baute Kants Erkenntnistheorie zu einer Grundlegungstheorie der modernen Naturwissenschaften um, Ernst Cassirer machte aus ihr eine Kulturtheorie der «symbolischen Formen», während auf ganz andere Weise die «Südwestdeutsche Schule» des Neukantianismus mit Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert eine Grundlegung der Geisteswissenschaften schuf. Kants Morallehre wiederum wurde von Hermann Cohen zu einer «Theorie reinen Willens» präzisiert, wobei humanitäre und soziale Motive eine grössere Rolle spielten als bei Kant.

Das rückte die Marburger Neukantianer in die Nähe zur sozialdemokratischen und marxistischen Traditionslinie der Jahrhundertwende. Eine Zeitlang wurde sehr intensiv über Kants Beitrag zu einer «Ethik des Sozialismus» diskutiert, wie sie besonders Eduard Bernstein verfocht. Aber viel ist nicht daraus geworden. Marx und Kant blieben unversöhnt. Seine Erkenntnistheorie wurde von Lenin als «Subjektivismus» geächtet und war damit erledigt. Aber mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich Kant als kanonischer Autor der Weltphilosophie etabliert. In der Erkenntnistheorie ist seine Nachwirkung seit dem Ende des Neukantianismus verblasst und auf innerakademische Diskussionen beschränkt. Ihr wichtigstes Erbe ist die Einsicht in die Grenzen der Vernunft: Seit Kant weiss man, worüber die Wissenschaft Aussagen machen kann und worüber sie schweigen sollte.

Diese Lektion gerät langsam wieder in Vergessenheit. Kants Grenzziehung bezog sich auf den Diskussionsstand seiner Zeit, auf die Fragen der Theologie und der Metaphysik. Niemand wird im 21. Jahrhundert auf den Gedanken kommen, einen Gottesbeweis mit den Mitteln der Wissenschaft führen zu wollen. Aber man kennt keine Scheu, Aussagen über eine drohende Klimaapokalypse mit dem einhergehenden Untergang der Welt zu treffen, die sich jeder Empirie entziehen.

Kants Morallehre ist noch sehr viel präsenter, aber ihr rigoroser Zentralbegriff der «Pflicht» wird misstrauisch beäugt. Der Mensch, so lautet der Kernsatz, gibt sich mit seiner autonomen Vernunft seine Gesetze selbst, und moralisch handelt, wer aus Pflicht, ohne «Beimengung einer Neigung», handelt. Auf dieser Autonomie des Vernunftgebrauchs beruht auch die Würde des Menschen, und daraus folgt: Menschen sind für sich selbst verantwortlich. Die in Deutschland gängige höchstrichterliche Auffassung, die Menschenwürde bemesse sich nach der Höhe des Sozialhilfe-Regelsatzes, ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was sich Kant darunter vorstellte.

 

Das «radicale Böse»

Kants Bild vom Menschen war durch und durch pessimistisch, und die Konsequenzen seiner Moralphilosophie können ziemlich ungemütlich werden. Er wusste, dass der Mensch aus «krummem Holze» geschnitzt ist, und er ist der einzige Philosoph von Rang, der das «radicale Böse» überhaupt nur in Erwägung gezogen hat. Die «affectirte Humanität», die Kant den zeitgenössischen Gegnern der Todesstrafe missbilligend vorwarf und auf die die Gegenwart des 21. Jahrhunderts sich so viel zugutehält, war seine Sache nicht.

Kant hat mit seiner «Kritik der Urteilskraft» von 1790 auch der Kunstphilosophie entscheidende Stichworte geliefert: Das Kunstwerk wird im «freien Spiel der Einbildungskraft» vom künstlerischen «Genie» geschaffen, das sich seine Regeln selbst setzt; es ist als «Zweckmässigkeit ohne Zweck» organisiert, und es zieht «interesseloses Wohlgefallen» auf sich. Schiller verdichtete das in der Formel: «Kunst ist die Tochter der Freiheit.» Kants Ästhetik verabschiedete die heute wieder in Mode kommende Vorstellung der Aufklärung, Kunst müsse erzieherisch wirksam und gesellschaftlich relevant sein. Kant sah das anders: Kunst ist das «Symbol des Sittlich-Guten», aber nicht der Handlanger des Zeitgeistes.

Aber das sind die Themen von gestern. Die Gegenwart des 21. Jahrhunderts legt sich gerade ihren neuen Kant zurecht. Das aktuelle Interesse richtet sich vornehmlich auf den «Weltbürger» Kant, den man gerne als Stichwortgeber für die Interpretation weltpolitischer Grosswetterlagen heranzieht. Seit den 1790er Jahren hat sich Kant intensiv mit Fragen der Staatsordnung, der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Geschichte beschäftigt. Dass der Staat die Freiheit seiner Bürger und nicht ihr Glück fördern müsse, war die Prämisse seiner Staatstheorie. Sie erfordert einige Neujustierungen der Morallehre. Als autonome Vernunftwesen folgen die Menschen dem Sittengesetz. Aber für ihr Zusammenleben brauchen sie geordnete Formen, und diese Ordnung gibt ihnen der Staat, und hier gelten andere Regeln.

Seine Erkenntnistheorie wurde von Lenin als «Subjektivismus» geächtet.Dass man mit Moral keinen Staat machen könne, war Kant klar; selbst ein moralloses «Volk von Teufeln» könne einen Staat errichten, stellte er lapidar fest. Der Staat ist an die geschichtlichen Gegebenheiten gebunden; und um ihrer Herr zu werden, bedarf es mehr des Zwangs als der Freiheit. Der Staat darf Gehorsam gegenüber dem Gesetz erzwingen, ohne Rücksicht darauf, welches Motiv der so erzwungenen Handlung jeweils zugrunde liegt. Aber auch der Staat bleibt in seinem Zwang an das Recht gebunden, und dieses Recht ergibt sich aus dem «Vernunftprincip», das einen fiktiven «ursprünglichen Vertrag» unterstellt. Eine staatlich organisierte Herrschaft des Unrechts lässt sich mit dem Instrumentarium des unbeugsamen Rechtsstaatstheoretikers Kant nicht legitimieren.

 

Gefahr der Despotie

Schliesslich wird aus gegebenem Anlass gerne Kants Schrift vom «Ewigen Frieden», eine seiner letzten Veröffentlichungen, herangezogen. Seine Idee einer friedensstiftenden «Weltrepublik» – für die es einige Vorläufer gab – hat sicher einigen Charme. Aber wenn man heute Kant als einen Vorläufer für den Völkerbund, die Vereinten Nationen und gar für die Europäische Union in Anspruch nimmt, sollte man nicht seine unverhohlene Skepsis überlesen: In der «Weltrepublik» fürchtete er die Gefahr der Despotie und sah zudem wenig Aussichten, dass die Einzelstaaten auf ihre rechtsphilosophisch gut begründbare Autonomie verzichten würden.

Diese Autonomie schliesse im Übrigen auch die gewalttätige Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten aus. Unverkennbar ringt Kant in diesen letzten Schriften mit den Erfordernissen seiner reinen Lehre und den Realitäten der Machtpolitik. In seinen politischen Folgerungen ist er schwankend; am Ende bleibt als wichtigste Empfehlung, die «Freiheit der Feder» sicherzustellen, damit die Aufklärung ihren Gang gehen könne.

Kants Rechts- und Staatsphilosophie kann der Gegenwart viele reizvolle Anregungen für intellektuelle Glasperlenspiele geben. Als Ratgeber für politisches Handeln in aktuellen Krisenlagen ist sie aber wenig brauchbar. Die Gegenwart wird ihre eigenen Antworten auf ihre selbstgeschaffenen politischen Probleme finden müssen.

 

Peter J. Brenner ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität zu Köln.