Ich belehre nicht. Ich erzähle.
Montaigne

Fast auf den Tag genau vor neun Jahren starb im Alter von neunzig Jahren der deutsche Journalist Peter Scholl-Latour. Lange hatte ich ihn kritisch gesehen, den USA-Skeptiker und Islamversteher, doch heute muss ich zugeben: Peter Scholl-Latour lag in vielem, ja in den allermeisten Fragen richtiger als ich. Ich habe den Giganten unterschätzt. Massiv. Mea maxima culpa.

In den Ferien las ich seine unvollendete Autobiografie «Mein Leben». Ein grossartiges Buch. Wohltuend uneitel, oder sagen wir: Mit einer diskreten, sympathischen Eitelkeit beschreibt er sein Leben, beginnend mit seiner Kindheit in Bochum, Sohn eines Arztes und einer zum Katholizismus konvertierten jüdischen Mutter. Schon früh faszinierte ihn die Exotik, das ferne Land.

Der junge Peter Scholl, das «Latour» kam unter nicht ganz klaren Umständen später dazu, offenbar ein Bezug zur elsässischen Verwandtschaft, vor allem klingt es besser, las die Abenteuerberichte der englischen Weltentdecker Stanley und Livingstone. Karl May hatte es ihm angetan, und im düsteren Realisten Joseph Conrad («Herz der Finsternis») sah er einen Geistesverwandten.

Früh erwachte in Scholl-Latour das Interesse an Geschichte, das ihn lebenslang begleitete. Immer wieder betont er, wie wichtig das Verständnis der Geschichte eines Landes für die Beurteilung seiner Mentalität und seiner Politik ist. Offenbar war er ein starker Schüler, der sich allerdings aufgrund der Herkunft seiner Mutter in Nazideutschland zusehends diskriminiert sah.

Wichtige Erfahrungen sammelte er am strengen ehemaligen Jesuitenkolleg Sankt Michael in Freiburg i. Ü. Die harte Disziplin, die Distanz der priesterlichen Lehrerschaft und die starke Verwurzelung im Katholizismus bildeten ein Fundament orientierender Werte. Als sich die politische Situation zuspitzte, musste Peter Scholl-Latour nach Deutschland zurück.

Peter Scholl-Latour war ein Journalist, wie es sie kaum mehr gibt. Er wird auf das Schmerzlichste vermisst.

Gegen Kriegsende versuchte er, sich zu den Alliierten abzusetzen und geriet kurzzeitig in Gefangenschaft der Gestapo. Es drohte die Verschleppung in ein Konzentrationslager, doch der Zusammenbruch des Hitler-Reichs kam dem glücklicherweise zuvor. Der aufgeweckte Deutsche mit französischem Hintergrund fand Aufnahme in der Armee des befreiten Frankreich.

Sein erster Einsatz erfolgte unmittelbar nach dem Ende des Weltkriegs in Europa auf dem pazifischen Kriegsschauplatz. Mit französischen Fallschirmjägern erlebte Peter Scholl-Latour den schleichenden Zusammenbruch des Kolonialismus in Indochina, den Abzug aus Hanoi, schliesslich die Niederlage von Dien Bien Phu 1954, die den Weg freimachte für den Untergang der Amerikaner in Vietnam.

Scholl-Latour begann als Soldat und Presseattaché, wechselte in den Journalismus, lernte Arabisch im Nahen Osten, doktorierte an der renommierten Pariser Sorbonne. Schliesslich wurde er früh berühmt als Welt-Reporter der internationalen Kampfzonen. Sein Markenzeichen waren die brillante Formulierungskraft, die näselnde Stimme, die elegante Kleidung und eine zurückhaltende Art.

Fürs Fernsehen berichtete er aus Indochina, China, Zentralasien, Russland, dem Iran, Nordafrika, Europa, Nahost, Schwarzfrika. Peter Scholl-Latour ging raus, ein reisender Berichterstatter. Seine Befunde wurzelten in der persönlichen Anschauung und in zahllosen Begegnungen mit führenden Staatsmännern und riskanten Abenteuern. Genau das fehlt dem Journalismus heute. Peter Scholl-Latour war ein Karl May der Wirklichkeit.

Seine Bücher lesen sich wie Romane, erzählerisch, mit einem Sinn für Bilder und klare Urteile. Viele von ihnen haben sich als visionär und erstaunlich zeitbeständig erwiesen. «Russland im Zangengriff», 2006 erschienen, ist ein absolut aktuelles Grundlagenwerk zum besseren Verständnis auch des Kriegs in der Ukraine. Auch hier stützt er sich nicht auf Feindbilder und Vorurteile, sondern bildet sich auf seinen Streifzügen ein eigenes, für den Westen wenig schmeichelhaftes Bild.

Scholl-Latour war kein Anti-Transatlantiker, er war deutscher Gaullist, Sehnsuchtsfranzose, der für ein starkes, eigenständiges Europa plädierte. Als Journalist begrüsste er die Partnerschaft zwischen den USA, Frankreich und Deutschland, doch vehement kritisierte er die Nato als Machtinstrument amerikanischer Interessen. «Auf dem Weg zu einem neuen kalten Krieg», titelte er schon vor Jahren.

Die Journalisten sollten sich an ihm ein Vorbild nehmen. Die routinierte Überheblichkeit der Jungen damals gegenüber dem Doyen, der auch ich zeitweise verfiel, war töricht. Scholl-Latour bleibt ein Modell von zeitloser Gültigkeit. Journalisten sollten primär beobachten, mehr fragen als antworten, rausgehen, mit den Leuten reden, neugierig bleiben, den Politikern misstrauen, ihr Urteil schärfen und prüfen an der Realität.

Nichts ist interessanter, nichts ist provokativer als die Wirklichkeit. Peter Scholl-Latour, am Schluss mit der Güte und Weisheit des Grossvaters, teilte die Welt nicht in «Gut» und «Böse». Er sah die Vielfalt der Zivilisationen und die Berechtigung ihrer Standpunkte. Dem überheblichen Westen begegnete er mit Skepsis, auch den Verfemten und Abgeschriebenen hörte er zu. Peter Scholl-Latour war ein Journalist, wie es sie kaum mehr gibt. Er wird auf das Schmerzlichste vermisst.